Fetter, Ingmar: Der Einfluß von Botulinumneurotoxin A auf Wachstum und Differenzierung primär dissoziierter hippocampaler Zellkulturen

Kapitel 1. Einleitung

1.1 Die Synaptische Transmission

Bei der synaptischen Transmission werden mit hoher Präzision und Geschwindigkeit Informationen von einer Nervenzelle auf eine andere übertragen. Man kann zwischen chemischen und elektri-schen Synapsen, sowie gemischten Formen unterscheiden. An der chemischen Synapse erfolgt die Übertragung des Nervenimpulses durch einen Neurotransmitter, eine Substanz, die von den Nervenzellen gebildet und an den Synapsen freigesetzt wird. Auf der postsynaptischen Seite befinden sich Transmitterrezeptoren, die bei Aktivierung durch direkten oder indirekten Einfluß auf Ionenkanäle Potentialänderungen bewirken. Das Aktionspotential der Präsynapse wird in ein chemisches und wieder in ein elektrisches Signal umgewandelt. Gemeinsam sind allen chemi-schen Synapsen auf der präsynaptischen Seite Mitochondrien, synaptische Vesikel, Strukturpro-teine und die präsynaptische Plasmamembran. Die Koexistenz verschiedener Transmitter an einer Synapse ist nicht selten. Ein Teil der transmittergefüllten Vesikel ist an der Plasmamembran ange-lagert ( Betz1992 ), um nach Kalziumeinstrom mit der Plasmamembran zu fusionieren und Trans-mitter in den synaptischen Spalt abzugeben. Der synaptische Spalt ist 10 - 40 nm breit.

1.2 Der Zyklus synaptischer Vesikel

Die mit der Plasmamembran fusionierten synaptischen Vesikel werden nach der Transmitter-ausschüttung in die Präsynapse zurückgeführt. Im klassischen Endozytoseweg vermitteln vesikuläres Synaptotagmin und ein Adapterprotein die Umhüllung der Vesikel mit einem Clathrinmantel ( Maycox1992 ; Zhang1994 ). Größere Plasmamembrananteile mit den darauf festsitzenden, clathrinumhüllten Vesikeln werden invaginiert. Die GTPase Dynamin trennt die Vesikel von der Vakuolenmembran ( Takei1996 ). Im Zytoplasma wird der Clathrinmantel enzy-matisch abgespalten. Der Membranaufbau der Vesikel bleibt während der Regeneration unverän-dert ( Murthy1998 ). Nach der Transmitterbeladung im Zytosol stehen die Vesikel für die erneute Exozytose bereit ( Bauerfeind1996 ). Ein gesamter Zyklus dauert weniger als eine Minute, wobei die Exozytose weniger als 1 ms, die Endozytose ca. 5 s und die Regeneration der Vesikel die restliche Zeit beansprucht ( Betz1992 ; Ryan1993 ).

Die Geschwindigkeit der synaptische Exozytose und Endozytose ist vom Kalziumeinstrom in die Zelle abhängig. Eine erhöhte intrazelluläre Kalziumkonzentration hemmt die Dynaminaktivität ( Matthews1996 ). Da sich bei Kalziumeinstrom aber die Endozytosegeschwindigkeit erhöht ( Klingauf1998 ), ist ein weiterer, clathrinunabhängiger Endozytoseweg sehr wahrscheinlich.

1.3 Präsynaptische Proteine und die SNARE-Hypothese

Ein molekularbiologisches Modell für die Transmitterausschüttung in den synaptischen Spalt liefert die SNARE-Hypothese ( Söllner1993a , Söllner1993b ). Darin bilden das synaptische Vesikelprotein Synaptobrevin und die in der präsynaptischen Plasmamembran verankerten Proteine Syntaxin und SNAP-25 (Synaptosomal-associated protein of 25 kDalton) einen Komplex (SNARE-Komplex, 7S-Komplex oder Fusionskomplex). Wenn an den 7S-Komplex soluble NSF attachment proteins (SNAPs) und das N-Ethyl-maleimid sensitive fusion protein (NSF) anbinden, entsteht ein 20S-Komplex ( Söllner1993a ). Die ATPase NSF bewirkt den Zerfall des Komplexes und die Fusion der Vesikel- und Plasmamembran ( Söllner1993a , Söllner1993b ). Syntaxin als in der Plasmamembran verankertes Protein ( Bennett1992 ) und SNAP-25 als an die Plasmamembran durch Palmitylierung gebundenes Protein ( Hess1992 ) werden als t-SNAREs (target membrane associated SNAP-receptor), Synaptobrevin wegen seiner Erstbeschreibung an Vesikeln ( Trimble1988 ; Baumert1989 ) als v-SNARE (vesicle membrane associated SNAP-receptor) bezeichnet.

Die SNARE-Hypothese läßt sich auf nichtsynaptische Fusionsereignisse erweitern ( Rothman1994 ), wobei die Spezifität mit dem Vorkommen von Isoformen der beteiligten Proteine gewahrt wird. Es konnte wiederholt gezeigt werden, daß Fusionsereignisse in den verschiedensten eukaryotischen Organismen auf dem gleichen Mechanismus beruhen ( Bennett1993a ; Rothman1994 ; FerroNovick1994 ; Rothman1996 ). Durch die nachfolgend geschilderten Ergebnisse ist die SNARE-Hypothese seitdem präzisiert und korrigiert worden

Die minimalen Bindungsregionen der SNARE-Proteine untereinander wurden unter Verwendung rekombinanter Eiweiße und clostridialer Neurotoxine erforscht ( Chapman1994 ; Hayashi1994 ; Hayashi1995 ; Kee1995 ; Pellegrini1995 ; Fasshauer1997 ; Hao1997 ; Zhong1997 ; Fasshauer1998 ) und sind im nachfolgenden Schema (Abb. 1) dargestellt. Die SNAP-25-Bindungsregion von Syntaxin (H3-Domäne) liegt nahe an der transmembranen Domäne. In dieser Region können auch Synaptobrevin, Synaptotagmin und alpha-SNAP an Syntaxin binden. Von Synaptobrevin ist fast die gesamte zytoplasmatische Domäne für die Fusionskomplex-Bildung notwendig, von SNAP-25 das C-terminale und das N-terminale Ende.

Abbildung 1: Die minimalen Bindungsregionen der SNARE-Proteine
(nach Fasshauer1998 )

Die SNARE-Proteine SynaptobrevinII, SNAP-25B und Syntaxin1A sind schematisch mit ihren Aminosäuresequenzen dargestellt. Die minimalen Bindungsregionen für-einander sind farbig unterlegt. Mit TMR sind die transmembranösen Domänen im C-terminalen Anteil von Synaptobrevin und Syntaxin markiert. Die cysteinreiche Region im SNAP-25-Molekül, die durch Palmitylierung die Verankerung von SNAP-25 in Membranen ermöglicht, ist bogenförmig dargestellt.

Die Analyse der Aminosäuresequenzen (Primärstruktur) der SNARE-Proteine offenbarte die Fähigkeit der SNARE-Proteine zur Bildung von alpha-Helices (Sekundärstruktur). Darin sind hydrophobe Aminosäuren so angeordnet (wiederkehrende Heptagonsequenzen), daß einem Algorithmus ( Lupas1991 ) zufolge die alpha-Helices der verschiedenen Proteine sich im Fusionskomplex zu einer Superhelix (Quartärstruktur; engl. coiled coils) verdrillen können ( Calakos1994b ; Chapman1994 ). Mithilfe spektroskopischer Untersuchungsmethoden konnte gezeigt werden, daß die SNARE-Proteine tatsächlich alpha-Helices bilden. Der Anteil der alpha-Helices an der Sekundärstruktur der Proteine steigt während der SNARE-Komplex-Bildung ( Fasshauer1997 ; Zhong1997 ). Die Vermutung, daß sich eine Superhelix bildet, erhärten Mutationsversuche an Syntaxin. Dabei verhindert die Deletion von Aminosäuren innerhalb der Heptagonsequenzen von Syntaxin die Anbindung von Synaptobrevin ( Kee1995 ).

Syntaxin und SNAP-25 konnten auch in Vesikelmembranen nachgewiesen werden ( Walch1995 ; HöhneZell1996 ; Kretzschmar1996 ). SNARE-Komplexe können durch SNARE-Proteine, die ausschließlich in einer Membran verankert sind, gebildet werden ( Otto1997 ). Um ein Fusions-ereignis herbeizuführen, müssen v-SNAREs und t-SNAREs aber in gegenüberliegenden Membranen lokalisiert sein ( Nichols1997 ). Syntaxin und Synaptobrevin sind im SNARE-Komplex parallel zueinander angeordnet ( Hanson1997a ). Danach hat der SNARE-Komplex die Form eines 14 nm langen Bündels bestehend aus vier ausgestreckten alpha-Helices. Der Durchmesser dieser Superhelix beträgt 4 nm. Das Synaptobrevinmolekül wird bei der Bündelung dicht an der Vesikelmembran geknickt ( Lin1997 ; siehe Abb. 2). SNAP-25 ist am Fusionskomplex mit zwei zueinander parallelen Helices beteiligt, die durch eine membranbindende Domäne miteinander verbunden sind. Bennett und Mitarbeiter zeigten, daß diese membranbindende Domäne von SNAP-25 auf der gleichen Seite des Bündels wie die transmembranösen Domänen von Syntaxin und Synaptobrevin liegt ( Poirier1998 ). Nur diese Anordnung ermöglicht eine enge räumliche Beziehung der prädestinierten Bindungsstellen zueinander. Eine genaue Topographie, ein-schließlich potentieller Bindungsstellen und der Spaltungsstellen clostridialer Neurotoxine, erstellten Jahn und Mitarbeiter ( Sutton1998 ; Abb. 2). Sie vermuten eine aktive Beteiligung der transmembranen Domänen von Synaptobrevin und Syntaxin an der Fusionsreaktion.

Abbildung 2: Der synaptische Fusionskomplex
(nach Sutton1998 )

Die alpha-helicalen Anteile von Syntaxin1A (rot), SynaptobrevinII (blau) und SNAP-25B (dunkelgrün) sind gewunden dargestellt. Die SNARE-Proteine verdrillen sich zu einer Superhelix, wobei Syntaxin1A und SynaptobrevinII in gegenüberliegenden Membranen (grau) verankert sind. Die transmembranen Domänen (hellgrün) können ebenfalls Helices bilden. Die SNAP-25-Helices sind durch eine Polypeptidkette (braun) verbunden. SynaptobrevinII wird durch TeNT und BoNT/B zwischen Gln76 und Phe77, durch BoNT/F zwischen Gln58 und Lys59, durch BoNT/G zwischen Ala 81 und Ala82 und durch BoNT/G zwischen Lys59 und Leu60 gespalten. BoNT/C spaltet Syntaxin1A zwischen Lys253 und Ala254. SNAP-25 wird durch BoNT/E zwischen Asp193 und Glu194 und durch BoNT/A zwischen Arg176 und Gln177 gespalten.

Hayashi und Mitarbeiter ( Hayashi1994 ) entdeckten, daß clostridiale Toxine die SNARE-Komplex-Proteine nur vor der Komplexbildung spalten können. Es waren aber auch in toxinvergifteten Zellen angedockte Vesikel zu beobachten ( Hunt1994 ). Demnach kann der SNARE-Komplex nicht für das Vesikel-Docking an der präsynaptischen Membran verantwortlich sein ( Südhof1995 ). Das Andok-ken der Vesikel trotz Synaptobrevin-Inaktivierung wird durch eine Bindung zwischen SNAP-25 und vesikulärem Synaptotagmin ermöglicht ( Schiavo1997 ).

Die Bildung des Fusionkomplexes unterliegt dem Einfluß eines komplexen Steuerungsmecha-nismus. Syntaxin kann sowohl mit SNAP-25 ( Pevsner1994 ) als auch Synaptobrevin einen binären Komplex bilden ( Calakos1994b ). Wenn das Protein n-sec1 (munc18) an Syntaxin bindet, kann sich Syntaxin nicht mit SNAP-25 und Synaptobrevin zusammenlagern ( Pevsner1994 ). Die Bindungsrate von n-sec1 wird durch Stickstoffmonoxid ( Meffert1996 ) und rab-GTPasen ( Lupashin1997 ; Rothman1996 ) beeinflußt. Eine N-terminale Domäne von Syntaxin verlangsamt die Fusions-komplexbildung. Wird sie abgespalten, so bilden sich Fusionskomplexe mit 2.000-fach höherer Geschwindigkeit ( Nicholson1998 ). Die Verfügbarkeit von Synaptobrevin wird durch die Komplex-bildung mit Synaptophysin beeinflußt ( Edelmann1995 ; Ahnert-Hilger1996 ). Schließlich können Phosphorylierungen die Eigenschaften der SNARE-Proteine beeinflussen ( Hirling1996 ).

Der Kalziumsensor der synaptischen Fusion ist das synaptische Vesikelprotein Synaptotagmin. Die Deletion des Synaptotagmin-Gens führt bei Mäusen zu einer deutlich verringerten Transmitterfrei-setzung ( Geppert1994 ). Während des Kalziumeinstroms bindet Synaptotagmin an Syntaxin ( Kee1996 ). Dadurch wird eine Konformationsänderung am Syntaxinmolekül hervorgerufen, welche die Fusionsreaktion beschleunigt ( Shao1997 ).

Sehr wahrscheinlich ist mittlerweile, daß die Spaltung des SNARE-Komplexes durch NSF nicht direkt zur Fusionsreaktion beiträgt, sondern die Vesikel auf das Andocken und Fusionieren vorbe-reitet ( Banerjee1996 ; Colombo1996 ; Mayer1996 ; Nichols1997 ).

1.4 Das synaptische Vesikelprotein SNAP-25

1986 beschrieben Branks und Wilson die Exprimierung einer mRNA (messenger RNA) aus-schließlich im Gehirn. Mithilfe eines spezifischen Antikörpers wurde daraufhin ein 25 kDa schweres Protein in Hippocampi adulter Mäuse detektiert ( Oyler1989 ). Wegen seiner Lokalisation in der Prä-synapse nannte man es Synaptosomal associated protein of 25 kDa, SNAP-25. Bei der Analyse der Aminosäurensequenz wurde festgestellt, daß das Protein nicht über Phospholipide an Membranen anbinden kann (fehlende Freisetzung durch Phospholipase C), dafür aber vier zusam-menliegende Cysteinmoleküle ( Oyler1989 ) die Möglichkeit der Anbindung an andere Strukturen durch Palmitylierung geben ( Sefton1987 ). Hess und Mitarbeiter ( Hess1992 ) bestätigten diese Annahme.

Experimentelle Läsionen hippocampaler Faserbahnen hatten den Verlust der SNAP-25-Immun-reaktion zur Folge, während typische Postsynapsenmarker weiterhin ihre Zielstrukturen markierten ( Geddes1990 ). Seitdem galt SNAP-25 als neuer Marker für präsynaptische Axonanteile. Bei Unter-suchungen an der Retina von Hühnern beobachteten Catsicas und Mitarbeiter ( Catsicas1991 ) eine zunehmende SNAP-25 - Exprimierung während der embryonalen Synaptogenese. Aus der Tat-sache, daß sich während der Evolution nur geringfügige Veränderungen in der Proteinstruktur ergaben, wurde SNAP-25 eine streng strukturbezogene Funktion an der Synapse zugeschrieben ( Risinger1990 ; Catsicas1991 ). In situ-Untersuchungen an Ratten und Kaninchen zeigten, daß SNAP-25 während der prä- und postnatalen Entwicklung in den Perikarya der Nervenzellen produziert und über den schnellen axonalen Transport in die Präsynapse transportiert wird ( Oyler1991 ; Loewy1991 ). SNAP-25 existiert in zwei Isoformen ( Bark1993 ). SNAP-25A wird überwiegend in frühen pränatalen Entwicklungsstadien exprimiert, SNAP-25B dagegen während der Synaptogenese und in adulten Nervenzellen ( Bark1995 ; Wilson1996 ). Während der Synapto-genese verdoppelt sich in vitro die SNAP-25 - Halbwertzeit ( Sanders1998 ). SNAP-25 wird durch BoNT/A, BoNT/C und BoNT/E proteolytisch gespalten ( Blasi1993a ; Binz1994 ; Williamson1996 ). Die überwiegend in nichtneuronalen Zellen vorkommende Isoform SNAP-23 ( Ravichandran1996 , Wong1997 ) wird in vitro nicht durch BoNT/E inaktiviert und kann in endokrinen Pankreaszellen SNAP-25 bei der Insulinsekretion ersetzen ( Sadoul1997 ).

1.5 Botulinumneurotoxine

Clostridium botulinum wurde zuerst von Van Ermengem 1897 beschrieben. Er barg den Erreger aus einem verdorbenen Schinken und dem Mageninhalt eines nach dem Genuß besagten Schinkens verstorbenen Menschen. Van Ermengem gab dem Erreger den Namen Bacillus botu-linus (botulus = Wurst), weil die Leidensmerkmale einer von Kerner bereits 1820 beschriebenen Wurstvergiftung sehr ähnlich waren.

Botulismus ist ein durch fortschreitende Muskelparalyse gekennzeichnetes Krankheitsbild. Die ersten Krankheitssymtome nach einer Latenz von 12-36 Stunden sind Doppeltsehen, Ptosis, Lichtempfindlichkeit und Schluckbeschwerden. Es treten Kopfschmerzen, Benommenheit und abdominelle Beschwerden auf. Die kranio-kaudal fortschreitende Lähmung führt zu Stimmlosigkeit und Atemnot. Der Tod tritt infolge Ateminsuffizienz und Kreislaufversagen ein. Die kausale Thera-pie der Krankheit ist die Gabe von Antitoxin. Wenn die Diagnose nicht rechtzeitig gestellt wird, kann der letale Ausgang nur durch intensivmedizinische Maßnahmen bis zum Abklingen der Ver-giftungserscheinungen verhindert werden ( Rogawski1989 ).

Der Pathomechanismus, die Hemmung der Acetylcholinfreisetzung, ist seit 50 Jahren bekannt ( Burgen1949 ). Die letale Dosis von wenigen Nanogramm des aufgenommenen Giftes kennzeich-net die hochgradige Toxizität. Man unterscheidet inzwischen drei Formen des Botulismus vonein-ander. Die häufigste Form ist der einleitend erwähnte Foodborne-Botulismus nach Aufnahme toxinhaltiger Nahrung. Außerdem gibt es eine infantile Form des Botulismus ( Arnon1992 ). Im infizierten Darm der Neugeborenen können sich die Clostridien ungehindert vermehren, da sich noch nicht die normale Darmflora angesiedelt hat, welche die Clostridienentwicklung hemmt. Die dritte Form ist der Botulismus durch Wundinfektion. Opfer sind meist polytraumatisierte Patienten und Drogensüchtige ( Rogawski1989 ). Fast 90 % der Botulismusfälle sind Intoxikationen durch die Serotypen BoNT/A und /B und nur 10 % Vergiftungen durch BoNT/E. Einzelfälle über eine BoNT/F- Intoxikation sind beschrieben. Es gibt Fälle des plötzlichen Kindstodes (SIDS), bei denen eine Botulinuminfektion nachgewiesen wurde ( Rogawski1989 ).

Die Clostridiumneurotoxine sind intrazellulär wirkende Gifte. Zellmembranen stellen für diese Pro-teine Barrieren dar. Die Toxine gehören zu den AB - Toxinen, da sie aus einem Komplex von zwei Proteinen mit unterschiedlichen Funktionen bestehen. Das A symbolisiert den pharmakodynamisch aktiven Enzymanteil, während der Bindungsanteil für die Zellpenetration (Pharmakokinetik) verant-wortlich ist. Die Toxine werden als einsträngige Polypeptide mit einem Gewicht von ca. 150 kDa synthetisiert. Darin ist die C-terminale schwere Kette (100 kDa) mittels Disulfidbrücke und hydro-phober Wechselwirkungen mit der N-terminalen leichten Kette (50 kDa) verbunden ( Matsuda1989 ). Die leichten Ketten können sich mit verschiedenen schweren Ketten zu Dimeren verbinden ( Weller1991 ). Jede einzelne Untereinheit ist allein ungiftig, da sie entweder nicht in die Zielzelle eindringen, oder dort keine Toxizität entfalten kann. Ziel der Clostridiumneurotoxine sind Proteine des synaptischen Exozytoseapparates ( Ahnert-Hilger1995 ).

Da Botulinustoxine mit verdorbener Nahrung aufgenommen werden, müssen sie zunächst an Hämagglutinine binden, um auf diese Weise dem Angriff von Verdauungsenzymen des Darmes zu entgehen und die Darmwand passieren zu können ( Ahnert-Hilger1995 ). Der Mechanismus der Darmwandpassage und der Penetration ins Nervensystem ist noch unbekannt.

Die Ursache der hohen Affinität der Toxine für neuronale Zellen liegt in ihrer Bindungsspezifität für einen Proteinrezeptor und Ganglioside mit zwei oder drei Neuraminsäureresten. Diese Kombina-ion findet man nur in Nervenzellmembranen und dort vor allem synapsennah. Anderen Geweben fehlt eine dieser Bindungskomponenten ( Ahnert-Hilger1995 ). Im Gegensatz zu den anderen Botulinumneurotoxinen gelang für BoNT/B die Identifizierung von Synaptotagmin II als Rezeptorprotein ( Nishiki1994 ).

Die Bindungsstelle auf Seiten der Toxine liegt im C-terminalen Anteil der schweren Kette ( Simpson1989 ). In diesem Stadium der Anreicherung auf der Zellmembranoberfläche ist in vivo noch eine Neutralisation durch Antikörper möglich.

Der plasmalemnale Rezeptor vermittelt eine vesikuläre Endozytose ( Morris1989 ). Der weitere retrograde axonale Transport ist auf der schweren Kette codiert, denn komplettes Toxin und iso-lierte schweren Ketten, nicht aber isolierte leichte Ketten, werden axonal transportiert. Weller und Mitarbeiter ( Weller1991 ) kombinierten BoNT/A-schwere Ketten mit leichten Ketten von TeNT. Die Pharmakokinetik entsprach der von BoNT/A. Damit die leichte Kette aus dem Transportvesikel ins Zytosol gelangt, sind eine Ansäuerung des Vesikellumens durch eine Protonenpumpe und eine Porenbildung durch die schwere Kette notwendig ( Habermann1989 ).

Mit der Entdeckung einer Zink-bindenden Region auf der leichten Kette des TeNT, die homolog zu der bekannter Zink-Metalloproteasen war, wurde der Schlüssel für den molekularen Wirkmecha-nismus gefunden. Diese Zink-bindende Region fand man auch in den Botulinumneurotoxinen ( Schiavo1992a Schiavo1992b ).

Parallel zur Entwicklung der SNARE-Hypothese ( Söllner1993a Söllner1993b ) entdeckte man, daß die SNARE-Proteine das proteolytische Substrat der Clostridiumneurotoxine sind. Syntaxin wird durch BoNT/ C1 ( Blasi1993b ), SNAP-25 durch BoNT/A, C und E ( Blasi1993a ; Binz1994 ; Williamson1996 ) und Synaptobrevin durch TeNT und BoNT/ B, D, F und G ( Schiavo1992a , Schiavo1992b ; Yamasaki1994a , Yamasaki1994b ) gespalten. Neben der Spaltungsstelle haben Syntaxin, SNAP-25 und Synaptobrevin eine allen drei Proteinen gemeine Toxinbindungsstelle ( Rossetto1994 ). Dieses neun Aminosäuren lange Motif liegt jeweils in einem alpha-helicalen Abschnitt der drei SNARE-Proteine ( Chapman1994 ). Wahrscheinlich beruht darauf die gegenseitige Blok-kierung von TeNT und BoNT/A bei gleichzeitiger Applikation ( Pellizzari1996 , Pellizzari1997 ).

1.6 Die Entwicklungsstadien der hippocampalen Zellkultur

Die neuronale Entwicklung ist durch Fortsatzwachstum, Polarisierung und Ausbildung synaptischer Kontakte gekennzeichnet. Zur Erforschung dieser Reifungsvorgänge hat sich das Kultursystem primär dissoziierter, hippocampaler Neurone bewährt. Die Neurone polarisieren frühzeitig, das Wachstum von Axonen und Dendriten sowie die synaptische Reifung sind gut zu beobachten. Die gezielte Beeinflussung dieser Entwicklungsprozesse ermöglicht die Erforschung ihrer molekularen Mechanismen. Deshalb wurde dieses Modellsystem zu Untersuchungen über die Funktion des synaptischen Vesikelproteins SNAP-25 benutzt.

Dotti, Sullivan und Banker ( Dotti1988 ) führten videomikroskopische Untersuchungen an hippo-campalen Zellkulturen der fetalen Ratte durch. Ihre Beobachtungen faßten sie in der nachfolgen-den Stadieneinteilung für die Entwicklung hippocampaler Neurone in der Zellkultur zusammen.

Stadium 1: Unmittelbar nach der Zellaussaat sind überall an den fortsatzlosen Neuronen kleine bewegliche Scheinfüßchen, Lamellipodien, zu beobachten. Lamellipodien sind in situ nicht zu beobachten. Wahrscheinlich dienen sie der Zellanheftung auf dem Kulturschalenboden.

Stadium 2: Nach wenigen Stunden entwickeln sich kurze, uniforme Prozesse, sogenannte minor processes. Eine Unterscheidung in Axon und Dendriten ist zu diesem Zeitpunkt nicht möglich.

Stadium 3: 24 - 48 Stunden nach Zellaussaat wächst einer der kleinen Fortsätze deutlich schneller als die übrigen. Dieser minor process wird zum Axon.

Stadium 4: Die verbliebenen minor processes entwickeln sich zu Dendriten. Ein signifikantes Längenwachstum der Dendriten beginnt erst am vierten Tag in vitro. Bis dahin zeigen sie ein gegenüber dem Axon retardiertes Wachstum.

Stadium 5: Kennzeichnend ist die Reifung der stark polarisierten Nervenzelle. Axone und Dendriten können bis zu einer Länge von mehreren Millimetern auswachsen. Die Dendriten verzweigen sich (Arborisierung). Die Axone bilden Kollateralen und synaptische Kontakte.


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Mon Mar 17 17:30:37 2003