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4  Diskussion

Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, einen Beitrag zu den vielfältigen Weisen zu leisten, auf die Amphibien den heutigen Wissensstand in Endokrinologie, Physiologie und Umweltforschung in Bezug auf EDs (EDs) bereichern. Die wissenschaftliche Arbeit, die innerhalb der Klasse der Amphibien hinsichtlich des Verständnisses sexueller Differenzierung und hormoneller Mechanismen geleistet wird, konzentriert sich im Wesentlichen auf die Ordnung der Anuren (Froschlurche). Deutlich geringer ist der Umfang an Studien, in denen Urodelen (Schwanzlurche) im Zentrum wissenschaftlichen Interesses stehen, während die dritte Ordnung der rezenten Amphibien, die Gymnophionen (Blindwühlen), in diesem Forschungsbereich nicht Gegenstand von Untersuchungen sind.

Der Hormonhaushalt von Anuren und Urodelen unterscheidet sich insofern, als dass die letztgenannte Gruppe zusätzlich zu den auch in Froschlurchen vorhandenen Steroiden Testosteron und Dihydrotestosteron weiterhin das Hormon 11-Ketotestosteron besitzt und damit bezogen auf das Vorkommen von Androgenen eher Knochenfischen ähnelt (Moore 1987). Insbesondere Untersuchungen zu (anti-) androgenen Wirkungen von EDs unter Verwendung von Urodelen ließen daher interessante und möglicherweise stark abweichende Ergebnisse innerhalb dieser beiden amphibischen Ordnungen erwarten. Hinweise auf die außergewöhnliche Stellung der Schwanzlurche hinsichtlich ihrer sexuellen Differenzierung und insbesondere der Entwicklung des männlichen Geschlechtes liefern Daten, die zeigen, dass die Gabe von Estrogenen wie bei Anuren zur Verweiblichung der Testpopulation führt, die Gegenwart von Testosteron dagegen vernachlässigbare Effekte offenbart oder gar Feminisierungserscheinungen beobachten lässt (Wallace et al. 1999). Lediglich eine Studie mit dem Tigerquerzahnmolch Ambystoma tinigrum untersucht die Wirkungen von EDs auf einen Vertreter der Urodelen (Clark et al. 1998). Der Einfluss auf das Wachstum des Gonodukts durch das estrogen wirksame DDT und sein antiandrogen wirkendes Abbauprodukt p,p’-DDE wurde bestimmt und erbrachte erstaunliche Ergebnisse. Entgegen der Annahme zeigte DDT antiestrogene und p,p’-DDE estrogene Wirkungen, was unterstreicht, dass grundsätzliche Untersuchungen zu Mechanismen und Grundlagen der sexuellen Differenzierung bei Schwanzlurchen dringend erforderlich sind, um derartige Beobachtungen sinnvoll einordnen zu können.

Das Spektrum der Untersuchungen und angewandten Methoden, um die Auswirkungen von EDs auf Anuren zu erfassen, ist deutlich größer. Sie beschränken sich nicht nur auf die Erfassung phänotypischer Effekte, son­[Seite 77↓]dern analysieren den Einfluss hormonell aktiver Substanzen auf verschiedenen Nachweisebenen.

Sexualsteroide sind auf Grund ihrer chemischen Struktur nur sehr bedingt wasserlöslich und liegen daher zum Transport im Blut proteingebunden vor. Eine kompetitive Bindung von natürlichem Hormon bzw. ED an solche Sexualsteroid bindenden Hormone (SBP) würde zu einer Reduktion der Hormonkonzentration an der Zielzelle und damit eingeschränktem Wirkungsgrad führen. Dieser Ansatz scheint jedoch nicht im Vordergrund der realen Wirkmechanismen von EDs zu stehen, bislang anhand des SBP von Xenopus untersuchte Substanzen zeigten nur geringes Potenzial zur Bindungsfähigkeit an das betreffende Transportprotein (Kloas 2002). Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass EDs die regulatorische Wirkung von Hormonen auf bestimmte Bindungs- oder andere Serumproteine verändern und damit indirekt die Funktionalität dieser Moleküle beeinträchtigen. Ein solcher Einfluss wird für Albumine von Xenopus und der Schildkröte Trachemys scripta diskutiert, die unter estrogenem Einfluss herab reguliert werden (Selcer & Palmer 1995).

Kompetitive Verdrängung kann in einem weiteren Zusammenhang in den natürlichen Ablauf, über den Sexualhormone ihre Wirkung entfalten, eingreifen. Diese Wirkung wird nach Diffusion der Hormone in die Zielzelle durch spezifische Rezeptoren vermittelt, die gemeinsam mit dem Steroid als Komplex in den Kern wandern und dort die Aktivität entsprechender Gene regulieren. Über Bindung an diese spezifischen Rezeptoren durch EDs kann demnach eine Beeinflussung des Hormonsystems statt finden. Die Fähigkeit, an den Estrogenrezeptor (ER) von Xenopus zu binden, wurde für verschiedene Substanzen und Metabolite nachgewiesen (Lutz & Kloas 1999, Chou & Dietrich 1999). Derartige Bindungsstudien mit EDs wurden bislang nur unter Verwendung des ER durchgeführt. Experimente, die unter Verwendung des Androgenrezeptors (AR) in Amphibien arbeiten, sind selten. Das Auftreten des AR in weiblichen Tieren des Grünfrosches Rana esculenta wurde bestimmt und konnte mit der Aktivität der Aromatase korreliert werden (Assissi et al. 2000). Im Studienmodell Xenopus wurde nachgewiesen, dass Testosteron, Dihydrotestosteron und Methyltestosteron mit vergleichbarer Affinität an den AR binden, während eine Verdrängung des natürlichen Liganden durch Antiandrogene wie p,p‘-DDE oder Vinclozolin nicht darstellbar war (Kloas 2000a). Diese Beobachtung erklärt sich durch die Wirkungsweise der genannten Antiandrogene, welche durch allosterische Bindung an den AR zu einer Konformationsänderung und damit zur Blockade der Transaktivation führen (LeBlanc et al. 1997, Kelce & Wilson 1997, Kelce et al. 1998). Um derartige Effekte künftig nachweisen zu können, ist die Etablierung eines Xenpus-spezifischen Reportergenassays für den AR notwendig. [Seite 78↓]Die Beobachtung, dass auch das Antiestrogen Tamoxifen Bindungsfähigkeit an den ER von Xenopus aufweist (Lutz & Kloas 1999) lässt vermuten, dass auf diesem Gebiet noch interessante Ergebnisse, auch und gerade in Hinsicht auf Kreuzbindungen zwischen bestimmten Substanzen und unterschiedlichen Rezeptoren, zu erwarten sind.

Eine weitere Möglichkeit, Effekte von EDs auf Amphibien nachzuweisen, besteht darin, nach Exposition des Organismus oder einer Zellkultur gegenüber fraglichen Stoffen die differentielle Aktivität von Genen zu bestimmen, welche hormoneller Regulation unterliegen. Veränderungen in der Expression solcher sogenannter Biomarker lassen Rückschlüsse auf das endokrine Potenzial der untersuchten Substanz zu. Der bekannteste und am intensivsten charakterisierte Biomarker zur Untersuchung estrogener Wirkung ist das Dotterprotein Vitellogenin, welches unter estrogenem Einfluss verstärkt exprimiert wird und sowohl auf mRNA- als auch Proteinebene nachgewiesen werden kann. So zeigten semiquantitative Western Blot Analysen die verstärkte Produktion von Vitellogenin in vivo durch Diethylstilbestrol und o,p’-DDT (Palmer & Palmer 1995) sowie die Induktion von Vitellogenin durch Dieldrin und Toxaphen in Xenopus (Palmer et al. 1998). Der Einsatz semiquantitativer RT-PCR macht den Nachweis von Veränderungen in der Expression von Vitellogenin sowohl in in vivo- als auch innerhalb von in vitro-Studien möglich (Kloas et al. 1999), welche die parallele Untersuchung einer Vielzahl von Substanzen erlauben und damit hervorragend als Screeningmethode geeignet sind. Ebenfalls im Modellorganismus Xenopus wurden negative Effekte hoher Konzentrationen von E2 und Diethylstilbestrol auf die Entwicklung von Kaulquappen gezeigt, die mit Veränderungen in der Expression des Estrogenrezeptors einher gingen, welche mit Hilfe der RT-PCR-Technik ermittelt wurden (Nishimura et al. 1997).

Von besonderer Bedeutung sind Studien, die adverse Effekte der Einwirkung von EDs auf Individuen- oder gar Populationsebene erlauben. Werden durch die Exposition gegenüber EDs die Anteile männlicher und weiblicher Tiere innerhalb einer Testgruppe entgegen ihrer natürlichen Verteilung verschoben, so ist der objektive Nachweis eines relevanten Einflusses gegeben. Derartige Abweichungen vom natürlichen Geschlechterverhältnis wurden durch verschiedene Substanzen hervorgerufen, in deren Gegenwart Xenopus-Kaulquappen ihre Entwicklung bis nach Abschluss der Metamorphose vollzogen (Kloas et al. 1999). Eine Studie berichtet von drastischen Unterschieden in der Wirkung einer Substanz auf zwei verschiedene Spezies in vivo: Während die Behandlung mit Thiourea bei Xenopus ausschließlich zu weiblichen Tieren führt, ruft die identische Exposition bei Hyperolius viridiflavus rein männliche Nachkommen hervor (Hayes 1997). Dies macht deutlich, dass großer Forschungsbedarf hinsichtlich der sexuellen Differenzierung bei [Seite 79↓]Amphibien für verschiedene Arten besteht, um die Mechanismen zu klären, die derartigen Resultaten zu Grunde liegen.

Der Riedfrosch Hyperolius argus bietet eine einfache Methode, um die Wirkung von EDs auf die sexuelle Differenzierung in vivo zu studieren. Diese Tiere sind durch einen Sexualdimorphismus gekennzeichnet, der entsprechend des gonadalen Geschlechts entwickelt wird. Behandelt man Riedfrösche während ihrer Entwicklung jedoch mit E2, so entstehen nach der Metamorphose ausschließlich Individuen mit „weiblicher“ Färbung (Hayes & Menendez 1999), die zur Hälfte Ovotestes besitzen. Die Exposition gegenüber estrogenen Substanzen wie o,p’-DDT, o,p’-DDE oder o,p’-DDD führt ebenfalls zu Tieren, die eine weibliche Körperfärbung tragen (Noriega & Hayes 2000). Die (anti-)estrogene Beeinflussung der geschlechtlichen Entwicklung ist darüber hinaus mit genetisch männlichen Raniden der Art R. rugosa darstellbar. Die Exposition gegenüber der Substanz Dibutyl­phtalat resultierte in Feminisierung der beobachteten Gonaden (Ohtani et al. 2000).

Verschiedene Freilandbeobachtungen berichten von Einflüssen, die Kontaminationen der Umwelt auf Amphibien haben. So wurde durch Untersuchungen am Grillenfrosch Acris crepitans gezeigt, dass die Gegenwart von Atrazin mit dem Auftreten von Intersexualität korrelierte sowie in Gebieten mit Belastung durch polychlorierte Biphenyle und polychlorierte Dibenzofurane erhöhte Anteile von männlichen Tieren innerhalb der Population festzustellen waren (Reeder et al. 1998). Die Bestätigung des kausalen Zusammenhangs dieser Beobachtungen durch Laborstudien unter kontrollierten Bedingungen steht allerdings noch aus. Gleiches gilt für Annahmen, die GnRH-Gehalt in vivo, Androgenproduktion in vitro und die Beobachtung von Missbildungen in Relation stellen. Die Untersuchung von Ochsenfröschen (Rana catesbeiana) und Schreifröschen (Rana clamitans), die in belasteten Gewässern gesammelt wurden, zeigte, dass normal entwickelte Frösche höhere GnRH-Spiegel aufwiesen und eine grössere Menge an Androgenen produzierten, als dies in Tieren mit Fehlbildungen der Extremitäten der Fall war (Sower et al. 2000). Auch hier ist die genauere Aufklärung der möglichen Zusammenhänge unter definierten Laborbedingungen notwendig.

Neben den genannten Beispielen, in denen die direkte Wirkung von EDs auf Amphibien durch Bindungsstudien, Biomarkeranalysen oder Untersuchungen der Gonaden beschrieben wird, existieren weitere Methoden, die das Potenzial hormonell aktiver Substanzen über indirekte Effekte charakterisieren. So kann der durch Progesteron induzierte Abbau der germinalen Vesikel im Rahmen der Oocytenreifung bei Xenopus durch E2 gehemmt werden. Beim Versuch, auf Basis dieses Umstandes einen Test auf estrogene Wirkung zu etablieren, konnte lediglich für Methoxychlor eine Hemmung gezeigt werden, die allerdings auf nicht estrogene Effekte zurück zu führen [Seite 80↓]war (Pickford & Morris 1999). In einem kombinierten experimentellen Ansatz wurde nach Vorbehandlung mit E2, Bisphenol A und Methoxychlor in vivo die Fähigkeit zur Wasserabsorption der ventralen Haut in vitro von Hyla japonica bestimmt (Kohno et al. 2001). Dabei konnte festgestellt werden, dass alle estrogenen Substanzen die Wasserabsorption in männlichen Tieren deutlich herab setzten. Eine ebenfalls indirekte Wirkung auf den Hormonhaushalt kann von der Beeinflussung des Enzyms Aromatase, welches die Umwandlung von Testosteron in E2 leistet, ausgehen. So wirkt Tributylzinn (TBT) inhibitorisch auf die Aromatase und führt damit zu einem erhöhten Testosteron- und verringerten E2-Spiegel (Fent 1996), was in Mollusken die Vermännlichung der Tiere zur Folge hat (Schulte-Oehlmann et al. 2000). Experimente, die die Wirkung von TBT auf Amphibien anhand verschiedener Ranidenarten wie dem Grasfrosch R. temporaria (Laughlin & Linden 1982) sowie dem Teichfrosch R. lessonae und dem Grünfrosch R. esculenta (Fioramonti et al. 1997) untersuchten, deuten darauf hin, dass hier eher von einem toxischen denn von einem endokrinen Effekt zu reden ist.

Die beschriebenen Ansätze und Methoden beleuchten einen Teil der wissenschaftlichen Forschung, in der Amphibien gegenwärtig eingesetzt werden. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit war es, durch die Erarbeitung neuer Aspekte sowohl im Grundlagen- als auch im angewandten Bereich, zum Verständnis und den vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten dieser faszinierenden Tiergruppe beizutragen.

4.1 Grundlagen der Geschlechts­differenzierung von Xenopus laevis

Die ermittelten Daten zeigen, dass sowohl 17β-Estradiol als auch die Androgene (Testosteron und Dihydrotestosteron) in sich entwickelnden Eiern, Embryonen und geschlüpften Kaulquappen von X. laevis in hoher Konzentration vorhanden sind. Dies lässt vermuten, dass diese Steroide maternaler Herkunft sind und sich vor dem Laichvorgang ausgehend von den Follikelzellen der Ovarien und transportiert über das Blutplasma der Mutter in den Eiern angereichert haben. Der Beginn der endogenen Produktion von Steroiden wird noch diskutiert (Kelley 1996, Hayes 1998), weil bislang der klare experimentelle Nachweis fehlt, dass Kaulquappen in ihrer prämetamorphen Entwicklung zur Synthese dieser Hormone fähig sind. Die vorliegenden Daten deuten jedoch darauf hin, dass erst die Steroide, die zum Ende der Metamorphose auftreten, endogener Herkunft sind.


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Die Steigerung der Expression der mRNA von Estrogen- bzw. Androgenrezeptor und damit einhergehend das Auftreten der entsprechenden funktionellen Rezeptoren findet etwa zu dem Zeitpunkt statt, an dem die Kaulquappen schlüpfen. Demnach scheinen die Steroide maternaler Herkunft die Bildung der zugehörigen Rezeptoren zu induzieren. Dies führt in dieser frühen Phase der Entwicklung kurz nach dem Schlüpfen zu einem Zustand, in dem die Tiere hinsichtlich ihrer sexuellen Entwicklung beeinflussbar sind. Diese Annahme stimmt mit den Ergebnissen einer Studie überein, in denen die sensitiven Phasen gegenüber einer Behandlung mit Estrogenen während der Larvalentwicklung untersucht wurden ( Villalpando & Merchant-Larios 1990 ).

Die Untersuchungen zur Sexualdifferenzierung in vivo lieferten Ergebnisse, die mit den für Säugetiere bekannten Daten vergleichbar sind (Döhler & New 1989 ). Estrogene Wirkstoffe führten zu einem signifikant erhöhten Anteil an weiblichen Tieren in der Testgruppe, während das Antiestrogen Tamoxifen unterentwickelte Gonaden hervorrief, das Geschlechterverhältnis von der Behandlung aber unbeeinflusst blieb. Testosteron zeigte im Gegensatz zu den anderen Androgenen Methyltestosteron und Dihydrotestosteron, welche signifikante Vermännlichungseffekte nach sich zogen, keine statistisch eindeutige Verschiebung des Geschlechterverhältnisses zum Männlichen, dagegen resultierte die Exposition gegenüber Antiandrogenen in einem erhöhten Anteil an weiblichen Tieren. Aus diesen Ergebnissen ist zu schließen, dass Testosteron nicht das auslösende Moment für die männliche Entwicklung bei Xenopus ist. Testosteron ist enzymatisch in 17β-Estradiol umwandelbar, während die anderen untersuchten Androgene nicht weiter aromatisierbar sind. Demnach ist davon auszugehen, dass das natürlich vorkommende Dihydrotestosteron für die Entwicklung eines männlichen Tieres verantwortlich ist.


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Abb. 4.1:
Hypothetisches Schema der Geschlechtsdifferenzierung von Xenopus laevis, das der 5α-Reduktase eine zentrale Rolle in diesem Prozess zuordnet. Nähere Erläuterungen im Text (E2=17β-Estradiol, T=Testosteron, DHT=Dihydrotestosteron) (nach Bögi et al. 2002, verändert)

Aus der Summe der vorliegenden Ergebnisse leitet sich eine Hypothese zur sexuellen Differenzierung von Xenopus laevis ab, in der dem Enzym 5α-Reduktase eine entscheidende Bedeutung in der geschlechtlichen Entwicklung zukommt (Abb.4.1).

Die endogene Umwandlung des maternalen Testosterons in das potentere Dihydrotestosteron im Keim wird durch die 5α-Reduktase geleistet. Möglicherweise ist der genetisch festgelegte Umfang, mit dem dieses Enzym exprimiert wird, der entscheidende Auslöser für die Entstehung eines männlichen oder weiblichen Tieres.

Die geschlechtliche Entwicklung kann durch Interaktion mit den Rezeptoren der Sexualsteroide oder Zugabe von Estrogenen bzw. Androgene be­[Seite 83↓]einflusst werden. Daraus ist zu schließen, dass die Differenzierung hin zum Weiblichen oder Männlichen von der Menge an funktionellen Rezeptoren und dem Verhältnis von DHT und 17β-Estradiol (E2) abhängt. Weil das in den frühen Entwicklungsphasen vorliegende E2 maternalen Ursprungs und gleichmäßig über alle Keime verteilt ist, können Änderungen im DHT/E2-Verhältnis lediglich über unterschiedliche Mengen an DHT zu Stande kommen. Diese wiederum sind eine Konsequenz der enzymatischen Umwandlung von Testosteron in DHT durch die 5α-Reduktase. In genetisch weiblichen Kaulquappen, die vermutlich eine geringe Aktivität dieses Enzyms aufweisen, ist das DHT/E2-Verhältnis niedrig. Dagegen sollten genetisch männliche Kaulquappen, die entsprechend eine hohe enzymatische Aktivität der 5α-Reduktase aufweisen, ein hohes DHT/E2-Verhältnis zeigen. Diese Unterschiede in den Verhältnissen von DHT zu E2 können der Grund sein, warum sich die zunächst undifferenzierten Gonaden zu Ovarien bzw. Testes entwickeln.

Ausgehend von dieser Hypothese wäre die Veränderung der Geschlechterverteilung durch exogene Estrogene oder Androgene dadurch erklärbar, dass diese Substanzen das DHT/E2-Verhältnis beeinflussen. Durch die Gegenwart von Antiandrogenen im Umgebungsmedium werden dagegen die zellulären Prozesse unterdrückt, die natürlicherweise durch den Androgenrezeptor vermittelt werden. Dies führt indirekt zu einer verminderten DHT-Wirkung und damit zu einem weniger effizienten DHT/E2-Verhältnis, was letztlich in einem erhöhten Anteil an weiblichen Tieren resultiert. Antiestrogene hemmen sowohl in genetisch weiblichen als auch in genetisch männlichen Tieren alle Prozesse, die im Verlauf der Entwicklung durch Estrogene vermittelt werden. Dadurch kommt es in beiden Geschlechtern zu einer Unterentwicklung der Gonaden und damit einer sexuellen Neutralisation vermeintlicher Verschiebungen im Verhältnis von männlichen und weiblichen Phänotypen entstehen. Eine denkbare Alternative wäre die durch Antiestrogene bedingte verminderte Genexpression der Steroidrezeptoren. Auf diese Weise würden Antiestrogene keinen Einfluss auf die Geschlechterverhältnisse im eigentlichen Sinn nehmen, sondern durch ihre Wirkung eine normale sexuelle Differenzierung behindern und somit zu unterentwickelten, aber gleichmäßig verteilten Ovarien und Testes führen.

Ganz im Gegensatz zu der vermutlich zentralen Rolle der 5α-Reduktase ist es unwahrscheinlich, dass das Enzym Aromatase, welches für die Umwandlung von Testosteron in E2 verantwortlich ist, eine Bedeutung für die sexuelle Differenzierung von Xenopus hat.

Die Aromatase tritt erst zum Ende der Metamorphose in Erscheinung und eine Behandlung mit Aromatase-Inhibitoren während der larvalen Entwicklung hat keinen Einfluss auf die Anteile männlicher und weiblicher Tiere [Seite 84↓](Miyata et al 1999; Miyashita et al 2000). Dagegen reagierten undifferenzierte Gonaden, die Kaulquappen des Stadiums 50 entnommen wurden, auf in vitro-Behandlung mit E2 mit einer Verweiblichung, während ein Aromatase-Inhibitor eher zu männlichen Gonaden führte (Miyata & Kubo 2000).

Diese unterschiedlichen Befunde zur Wirkung der Aromatase in vivo bzw. in vitro sind mit der beschriebenen Hypothese zur sexuellen Differenzierung von Xenopus vereinbar. Das maternal vorhandene E2 reicht offenbar aus, um eine weibliche Entwicklung von Kaulquappen in vivo zu gewährleisten, weshalb die Gegenwart von Aromatase-Inhibitoren, die lediglich eine zusätzliche endogene Produktion von E2 verhindern, keine Wirkung zeigt.

Unter in vitro-Bedingungen stellt sich die Situation anders dar. Die Behandlungen mit E2 bzw. dem Aromatase-Inhibitor lassen die Aktivität der 5α-Reduktase und damit die Menge des auftretenden DHTs unbeeinflusst. Damit ist - ungeachtet der Tatsache, dass über die absolute Höhe der Reduktaseaktivität und DHT-Konzentration keine Aussage getroffen werden kann - das im Inkubat vorhandene E2 die einzig variable Größe im DHT/E2-Verhältnis, das der vorgestellten Hypothese nach für die Differenzierung der Geschlechter in Xenopus verantwortlich zeichnet. Wird durch Zugabe von exogenem E2 dieses Verhältnis deutlich zugunsten des estrogenen Sexualsteroids verschoben, so entwickeln sich vornehmlich weibliche Gonaden. Unterbleibt diese exogene Förderung und wird darüber hinaus die potenzielle endogene Produktion von E2 durch Gegenwart des Aromataseinhibitors unterbunden, so ist die in den Gonaden vorhandene Menge an E2 äußerst gering und im DHT/E2-Verhältnis überwiegt der androgene Anteil. Entsprechend entwickeln sich auf diese Weise behandelte Gonaden überwiegend zu Testes.

4.2 Effekte langfristiger Behandlung mit EDs

Es besteht besondere Notwendigkeit, neben den Auswirkungen vergleichsweise kurzer Behandlungen während bestimmter Lebensabschnitte auch die Effekte langfristiger Expositionen gegenüber EDs auf Amphibien zu erfassen. Studien, die den gesamten Lebenszyklus abdecken, erlauben Aussagen über die tatsächliche Beeinflussung von Fertilität und Laicherfolg und dienen damit zur Einschätzung relevanter Parameter auf Populationsebene.

Allerdings gestalten sich solche Untersuchungen aufgrund der langen Zeitspanne, die bei Amphibien bis zum Erreichen der Geschlechtsreife ver­[Seite 85↓]streicht, ausgesprochen aufwändig und schwierig. Anuren, die nach der Metamorphose den aquatischen Lebensraum verlassen, sind für derartige Studien kaum zu verwenden, weil das Einrichten eines geeigneten, terrestrischen Umfeldes für ein solches Experiment weit über den vernünftigen Labormaßstab hinaus gehen würde. Neben dem hohen Betreuungsaufwand lässt die nahezu unmögliche Beurteilung der Expositionssituation landlebender Amphibien und die daraus resultierende Unsicherheit bei der Interpretation vermeintlicher Effekte die Durchführung solcher Versuche wenig sinnvoll erscheinen.

Die Möglichkeit, dem letztgenannten Argument stichhaltig zu begegnen, bietet X. laevis auf Grund seiner vollaquatischen Lebensweise. Durch den Umstand, dass juvenile bzw. adulte Tiere dieser Art das Wasser nicht verlassen, ist die kontrollierte Exposition gegenüber EDs auf definiertem Niveau grundsätzlich möglich. Jedoch steht auch hier der geeigneten Verwendung in Lifecycle-Studien die lange Phase bis zur Entwicklung in den geschlechtsreifen Zustand entgegen. Bei den Tieren des im Rahmen der vorliegenden Arbeit durchgeführten Langzeitexperimentes war nach 20 Monaten die Geschlechtsreife noch nicht in ausreichendem Umfang eingetreten, weshalb vergleichende Untersuchungen zur möglicherweise beeinträchtigten Fortpflanzung dieser Amphibien durch EDs nicht durchgeführt werden konnten. Eine verringerte Reproduktionsleistung oder gar ausbleibenden Laicherfolg den direkten Konsequenzen eines Substanzeinflusses zuzuordnen und nicht als Folge von Unterschieden im Reifegrad der beobachteten Tiere zu klassifizieren, wäre mit wissenschaftlichen Maßstäben nicht zu leisten gewesen.

Die ermittelten Geschlechterverhältnisse in den Gruppen, die einer Dauerbehandlung unterzogen worden waren, bestätigen die Ergebnisse aus den bereits vorgestellten Experimenten in vivo, in denen die Tiere unter dem Einfluss endokrin wirksamer Substanzen standen. Während sich in der unbehandelten Kontrollgruppe jeweils etwa zur Hälfte weibliche und männliche Tiere entwickelten, wurden durch die Gegenwart hormonartiger Stoffe z.T. drastische Verschiebungen der Geschlechteranteile festgestellt. Wie in den Kurzzeit-Experimenten führte auch hier die Behandlung mit E2 zu einem signifikant erhöhten Weibchenanteil von über 80%, während Testosteron keine statistisch bedeutsame Vermännlichung der Kaulquappen zur Folge hatte. Dagegen führte Methyltestosteron in Übereinstimmung mit den Daten aus kurzfristigeren Expositionen zu einem signifikant höheren Anteil an männlichen Tieren innerhalb der Population. Die antiandrogene Behandlung wirkte sich im Unterschied zur ersten Laborstudie nicht Geschlechter verschiebend aus, was vermeintlich in einer nicht genügend hohen Anzahl der Individuen innerhalb des Ansatzes begründet liegt. Ähnliches ist für die erhaltenen Ergebnisse nach antiestrogener Behandlung zu vermuten. Während die höhere [Seite 86↓]der beiden getesteten Konzentrationen zu ausgeglichenen Anteilen männlicher und weiblicher Tiere führte, deren Gonaden sich in der Betrachtung unter dem Stereomikroskop als unterentwickelt erwiesen und damit die gleichen Ergebnisse wie im Rahmen der Kurzzeitstudie lieferten, zog die um eine Größenordnung niedrigere Konzentration eine signifikante Vermännlichung nach sich. Es ist davon auszugehen, dass diese Verschiebung, die in keinem vergleichbaren Experiment unter identischen Bedingungen auftrat, trotz des erreichten Signifikanzniveaus keiner relevanten Wirkung entspricht, sondern im Rahmen der biologischen Variabilität und unter Berücksichtigung der vergleichsweise geringen Anzahl an untersuchten Tieren zufällig beobachtet wurde. Die Geschlechterverhältnisse aus den Ansätzen der Langzeitstudie, die erst nach der Metamorphose mit potenziell endokrin wirksamen Substanzen in Kontakt kamen, wurden nicht bestimmt. Die entsprechenden Tiere wurden erst im juvenilen Stadium randomisiert auf die Becken verteilt und hatten ihre geschlechtliche Differenzierung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen. Potenzielle Substanzeffekte bilden sich bei diesen Tieren demnach nicht in der Entstehung einer männlichen oder weiblichen Gonade ab, sondern äußern sich in einer möglichen Beeinträchtigung der Funktionalität der entsprechenden Organe.

Über die Bestimmung der Geschlechterverhältnisse nach Abschluss der Metamorphose hinaus liefert die vorliegende Studie wertvolle Hinweise und Ansatzpunkte zum tieferen Verständnis der Effekte langfristiger Expositionen gegenüber hormonartig wirkender Substanzen.

EDs sind ihrer Definition nach Stoffe, die adverse Wirkungen auf Organismen durch Beeinflussung des Hormonsystems bei Konzentrationen hervorrufen, die unterhalb der toxischen Wirkgrenze dieser Substanz liegen. Diese Toxizitätsgrenze ist bei Amphibien offensichtlich nur unzureichend bestimmt, wenn man lediglich die Kaulquappenphase in Betracht zieht. Die unterschiedliche Physiologie verschiedener Lebensabschnitte hat in der vorliegenden Studie zur Folge, dass E2-Konzentrationen, die von Kaulquappen ohne jegliche Anzeichen von Beeinträchtigung toleriert wurden, bei juvenilen Tieren zu dramatischen Vergrößerungen des Körpers durch Flüssigkeitseinlagerung und schließlich zum Tod führten. Auch die unterschiedlichen Wirkungen des Antiestrogens TAM auf dauer- bzw. spätexponierte Tiere bestätigen, dass Zeitpunkt und -spanne des Einwirkens einer Substanz im Laufe der Entwicklung durchaus einen wesentlichen Einfluss auf die Art bzw. Stärke der Substanzeffekte haben können. Sowohl dauerhaft als auch erst nach Abschluss der Metamorphose gegenüber TAM exponierte weibliche Tiere wiesen in aller Regel vergleichsweise unterentwickelte Ovarien auf. In Einzelfällen konnten jedoch auch weibliche Gonaden beobachtet werden, die trotz der bereits im larvalen Stadium einsetzenden, antiestrogenen Behandlung in [Seite 87↓]normalem Umfang ausgeprägt waren. Augenscheinlich waren die betreffenden Individuen frühzeitig in der Lage, sich an die Umstände der Exposition mit TAM in einer Weise zu adaptieren, die eine weitgehend unbeeinträchtigte Gonadenentwicklung zuließ. Eine solche Adaptation war in den Gruppen, die erst nach Abschluss der Metamorphose estrogenem Einfluss ausgesetzt waren, nicht zu erkennen. Die Fähigkeit, sich - wenn auch in geringem Umfang - an derartige Bedingungen anpassen zu können, scheint von Lebensstadium und Dauer der Exposition abhängig zu sein.

Eine weitere Beobachtung lieferte Hinweise auf die vielfältigen Weisen, in denen sich die Wirkungen von EDs abbilden. Während Kaulquappen und juvenile Tiere des Krallenfrosches äußerlich hinsichtlich ihres Geschlechtes nicht zu differenzieren sind, zeigen adulte Xenopus einen gewissen Sexualdimorphismus. Ausgewachsene, weibliche Tiere sind gemeinhin größer und besitzen eine Ausstülpung der Kloake, die den kleineren, männlichen Tieren fehlt. Darüber hinaus sind bei männlichen Fröschen, die paarungsbereit sind, dunkel gefärbte Innenseiten der Vorderextremitäten zu erkennen. Diese sekundären Geschlechtsmerkmale treten unter natürlichen Bedingungen kurz vor oder mit Erreichen der Geschlechtsreife auf. Die Beobachtungen innerhalb der vorliegenden Studie zeigen, dass die Ausbildung dieser Merkmale offensichtlich hormoneller Steuerung unterliegt. Behandlung mit E2 ließ die Tiere unabhängig vom gonadalen Geschlecht Kloakenfalten entwickeln, während die Exposition gegenüber Androgenen, insbesondere gegenüber MT, zu männlichen und weiblichen Individuen mit dunkel gefärbten Innenseiten der Vorderextremitäten führte. Daraus ist zu schließen, dass die Behandlung mit diesen Hormone im Umgebungsmedium unmittelbar und frühzeitig zur Ausbildung der entsprechenden sekundären Geschlechtsmerkmale geführt hat, ohne von den endogenen Hormonleveln entscheidend beeinflusst gewesen zu sein. Offenbar wird die Entwicklung von Kloakenfalten und die dunkle Färbung der Vorderextremitäten durch die Gegenwart der entsprechenden Hormone ausgelöst, ohne einer komplexen Steuerung durch Rückkopplungsprozesse oder spezifischen Verhältnissen von endogenen Steroiden zueinander zu unterliegen.

Die fundiertesten Schlüsse auf eine beeinträchtigte Reproduktionsleistung und verminderte Fertilität lassen die histologischen Untersuchungen zu. Die beobachteten Veränderungen im Gonadengewebe durch die Exposition gegenüber hormonell wirksamen Substanzen über mehrere Monate sind deutlich und z.T. von einer Schwere, die sich mit der Fortpflanzung auf natürlichem Niveau nicht vereinbaren lassen. So ist nicht davon auszugehen, dass von Minderwuchs im nachgewiesenen Ausmaß betroffene Oocyten fähig sind, die notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung eines Keimes nach erfolgter Befruchtung in ausreichendem Umfang bereit zu stellen. Auch [Seite 88↓]die erfolgreiche Befruchtung selbst ist in Frage zu stellen. Die gezeigten Veränderungen in der Eistruktur lassen bezweifeln, dass ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Vorgänge, wie das Eindringen des Spermiums, die anschließende Blockade der Eihülle als Schutz gegenüber weiteren Spermien sowie die eigentliche Verschmelzung der haploiden Kerne in der notwendigen Qualität und Funktionalität statt finden kann. Neben solchen, unzureichend entwickelten Ovarien lassen Oocyten, die wie beobachtet Läsionen innerhalb des Dotters aufweisen, eine Beeinträchtigung der Fruchtbarkeit vermuten. Es ist nicht auszuschließen, dass diese optische Auffälligkeit auf Veränderungen in Zusammensetzung und Inhalt des Dotters zurückzuführen sind, welche relevante Konsequenzen auf die Reproduktionsleistung nach sich ziehen.

In männlichen Gonaden zeigten sich Abweichungen im Vergleich zu normal entwickeltem Hodengewebe in weniger stark ausgeprägter Form. Offensichtliche und drastische Retardierungen in der Entwicklung waren nicht festzustellen, auch die Abweichungen im mikroskopischen Erscheinungsbild zwischen Referenztieren und behandelten Individuen waren moderat. Möglicherweise ist dies als Hinweis auf eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Sensitivität in Amphibien gegenüber hormoneller Beeinflussung zu werten, die sich in Gewebeaberrationen manifestiert. Dennoch traten auch bei männlichen Tieren histologische Veränderungen auf, die auf eine Beeinflussung der Fertilität aufgrund der Exposition der Frösche gegenüber EDs schließen lassen. Es waren Bereiche mit Gewebeläsionen zu beobachten, die auf funktionelle Beeinträchtigungen des Hodens hindeuten. Zwar besteht durchaus die Möglichkeit, dass die intakten Bereiche in der Lage sind, befruchtungsfähige Spermien in einem Umfang bereit zu stellen, der für die erfolgreiche Fortpflanzung ausreichend ist, jedoch kann keinesfalls ein Niveau erreicht werden, das vollständig der Reproduktionsleistung eines normal entwickelten, männlichen Tieres entspricht. Auch wenn sich dieser Effekt nicht signifikant quantifizieren lässt, ist von einer relevanten Auswirkung auf die Fertilität auszugehen.

Es bleibt festzustellen, dass histologisch erkennbare Veränderungen und damit potenzielle Beeinträchtigungen des Reproduktionserfolgs in den Gonaden beider Geschlechter von EDs verschiedenster Wirkrichtungen hervorgerufen wurden. Sowohl estrogen, antiestrogen, androgen als auch antiandrogen wirksame Substanzen führten in den Reproduktionsorganen zu Störungen, die negative Folgen auf die Fortpflanzung nach sich ziehen dürften. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass das fein justierte und balancierte hormonelle System, das letztendlich den Erhalt der Art gewährleistet, aufgrund seiner komplexen Struktur nur unzureichend stabil und in vielfältiger Weise beeinflussbar ist. Verschiedenste Substanzen mit unterschiedlichen [Seite 89↓]Wirkmechanismen können sowohl bei vergleichsweise kurzfristiger als auch bei dauerhafter Exposition reproduktionsrelevante Folgen auf Amphibien nach sich ziehen.

4.3 Biomonitoring Starnberg

4.3.1 Exposition vor Ort

Im Rahmen der Studien zum endokrinen Potenzial des Kläranlagenauslaufs in Starnberg wurden erstmals zwei amphibische Arten herangezogen, um die unmittelbare Belastung der Umwelt unter den örtlichen Bedingungen zu untersuchen. Dadurch bot sich die Möglichkeit, neben der Anwendbarkeit von laborgenerierten Methoden auf Freilandverhältnisse zu prüfen, ob sich Erkenntnisse, die durch Verwendung des vermeintlich artifiziellen Modells Xenopus laevis erhalten wurden, auf heimische Amphibienpopulationen übertragen lassen.

Die über den gesamten Versuchszeitraum in unregelmäßigen Abständen durchgeführte chemische Begleitanalytik zeigte eine insgesamt geringe Belastung der untersuchten Medien Würm und Kläranlagenauslauf mit estrogen wirksamen Substanzen. Eine Ausnahme bildete dabei der Beginn der experimentellen Phase, in der Alkylphenolkonzentrationen bis zu 1 mg/L in der Würm festgestellt werden konnten. Diese Kontamination der ursprünglich als unbelastetes Referenzmedium vorgesehenen Würm war auf eine Hochwassersituation zurückzuführen, die über diesen Zeitraum in der Umgebung Starnbergs herrschte. Dieses Hochwasser hatte zur Folge, dass industrielle Abwässer ungeklärt in die Würm flossen und so für ein Expositionsregime sorgten, das die anzunehmenden Verhältnisse umkehrte. Die exponierten Tiere waren nunmehr im Würmwasser der höchsten xenoestrogenen Belast­ung ausgesetzt, während der Anteil hormonell wirksamer Substanzen im Medium über den Ansatz mit der Mischung 1:12 (Abwasser/Würm) zum Ansatz 1:2 zurückging. Diesem Umstand war eine hohe Bedeutung beizumessen, weil diese veränderten Bedingungen während eines Zeitraums herrschten, in der sich die exponierten Kaulquappen in den sensitiven Entwicklungsstadien der Sexualdifferenzierung befanden. Deshalb war zu vermuten, dass dieser Eintrag industrieller Abwässer in das Referenzmedium nachhaltige Auswirkungen auf die Ergebnisse des Experimentes haben würde.

Durch die chemischen Begleitanalysen konnte nachgewiesen werden, dass zum Ende des Versuchszeitraumes andere Verhältnisse vorlagen. Ein [Seite 90↓]starker Rückgang des Alkylphenolvorkommens in der Würm resultierte in einer Expositionssituation, die für die Amphibien im Ansatz mit der Mischung 1:2 (Abwasser/Würm) die höchste Belastung mit xenoestrogenen Wirkstoffen mit sich brachte, die über den Ansatz 1:12 hin zur Behandlung mit reinem Würmwasser abnahm. Bei diesen Bedingungen wurden die Proben für die RT-PCR- und die RARA-Experimente genommen.

Die histologischen Untersuchungen der Gonadengewebe von Rana und Xenopus erbrachten die anhand der chemischen Analysen vermuteten Ergebnisse. Dabei waren in den Schnitten des Grasfrosches neben eindeutigen Testes und Ovarien auch Gonaden zu erkennen, die Anteile beider Gewebetypen aufwiesen. Das Auftreten solcher Hermaphroditen ist aufgrund der besonderen geschlechtlichen Entwicklung von Rana, bei der das männliche Geschlecht zunächst über ein weibliches Anfangsstadium angelegt wird, das im weiteren Verlauf über Zwischenstadien mit Mischgonaden in einen Hoden übergeht, nicht außergewöhnlich.

Im Gegensatz dazu führt die sexuelle Differenzierung von Xenopus unter normalen Umständen direkt zu Testes oder Ovarien. Dennoch wurden in seltenen Fällen auch beim Krallenfrosch Gonaden gefunden, die sowohl männliche als auch weibliche Gewebeanteile aufwiesen. Die Mehrzahl dieser Fälle wurde in Individuen nachgewiesen, die gegenüber dem Wasser der Würm exponiert worden waren. Angesichts der Tatsache, dass in diesem Ansatz während der sensitiven Stadien der sexuellen Differenzierung die größte Belastung mit estrogen wirksamen Substanzen vorzufinden war, ist anzunehmen, dass der beobachtete Hermaphroditismus auf die Behandlung während der larvalen Entwicklung zurückzuführen ist. Der geringe Umfang, mit dem dieses Phänomen in Xenopus auftrat, spiegelt die insgesamt moderate Belastungssituation am untersuchten Standort wider.

Die auf Basis der histologischen Untersuchungen bestimmten Anteile an weiblichen und männlichen Tieren entsprechen den Verhältnissen, von denen aufgrund der durch die chemische Begleitanalytik charakterisierten Expositionssituation auszugehen war. In den sensitiven Phasen der sexuellen Differenzierung der untersuchten Amphibien war in dem vermeintlichen Referenzansatz Würm bedingt durch die vorliegende Hochwassersituation die größte estrogene Belastung zu verzeichnen. Diese lag in den Abwasser/Würm-Mischungen gemäß der Verdünnungen in geringerem Umfang vor. Entsprechend trat der höchste Anteil weiblicher Tiere im vermeintlichen Kontrollansatz auf, während das geringere estrogene Potenzial der Mischungen zu einem im Vergleich zur Referenz niedrigeren Anteil weiblicher Tiere führte. Die Ausprägung dieser Abnahme entspricht dem Grad der Mischung von Abwasser und Würm, der die Menge an estrogenartigen Inhaltsstoffen des Expositionsmediums bestimmte. Alle Behandlungen führten jedoch zu Ver­[Seite 91↓]hältnissen der festgestellten Geschlechter in den exponierten Testpopulationen von Xenopus, die weniger männliche Tiere aufwiesen, als dies in unbehandelten Kontrollansätzen vergleichbarer Untersuchungen unter Laborbedingungen der Fall ist. Es muss deshalb davon ausgegangen werden, dass alle drei Arten der Exposition eine Verweiblichung der Tiere hervorgerufen haben. Diese Tendenz zur Verschiebung von Geschlechterverhältnissen durch die Behandlungen am Standort Starnberg schlägt sich jedoch nicht in signifikanten Unterschieden nieder. Dies ist neben der insgesamt mäßigen Belastungssituation auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein echter unbehandelter Referenzansatz zum Vergleich fehlt. Die eigentlich für diesen Zweck vorgesehene Exposition mit Würmwasser zur Simulation natürlicher Verhältnisse hat sich durch die hochwasserbedingte Kontamination mit Alkylphenolen während der sensitiven Phase der amphibischen Geschlechtsdifferenzierung als ungeeignet erwiesen.

Die wichtigste Erkenntnis der vorliegenden Freilanduntersuchung hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse ergibt sich aus dem Datenvergleich der parallel exponierten Spezies R. temporaria und X. laevis. Unter Berücksichtigung der besonderen sexuellen Differenzierung von R. temporaria, bei der sich männliche Gonaden ausgehend von einem weiblichen Anfangszustand über verschiedene Intersexstadien in Testes entwickeln, müssen die auftretenden Hermaphroditen als (künftig) männliche Tiere gewertet werden. Die Gegenüberstellung der auf diese Weise interpretierten Geschlechterverhältnisse von R. temporaria mit denen von X. laevis offenbart hochgradige Übereinstimmungen in den Auswirkungen der Behandlungen auf die sexuelle Differenzierung der beiden Arten. Sowohl die Anteile von weiblichen und männlichen Tieren an den Testpopulationen der verschiedenen Expositionsansätze als auch die Unterschiede zwischen den Behandlungen sind für beide Spezies annähernd deckungsgleich. Offensichtlich führen identische Versuchsbedingungen für beide Arten zu übereinstimmenden Ergebnissen hinsichtlich der Beeinflussung der Geschlechtsentwicklung durch exogene Faktoren. Dies ist als sehr starkes Indiz auf die Zulässigkeit der Übertragung von Erkenntnissen, die auf der Basis des Studienmodells X. laevis gewonnen wurden, auf die amphibische Fauna in Mitteleuropa zu betrachten.

Die Proben, die für die Untersuchungen im Radiorezeptorassay bzw. der Analyse von mRNA-Expression verschiedener Biomarker herangezogen wurden, wurden zu einem späten Zeitpunkt des Versuchsverlaufs entnommen. In dieser Phase ließ die chemische Begleitanalytik eine höhere estrogene Belastung im Abwasser und nicht, wie noch zu Beginn der Exposition, in der Würm erkennen. Die dadurch bedingten, unterschiedlichen Konzentrationen an hormonell wirksamen Inhaltsstoffen in der Würm und den Abwassermischungen bildeten sich in den Ergebnissen der Studien hinsichtlich des [Seite 92↓]Bindungspotenzials an den cytosolischen Estrogenrezeptor der Leber von Xenopus und der Expression spezifischer Biomarker in der Leber exponierter Individuen ab.

Die Untersuchungen von Festphasenextrakten der Würm und des Abwassers im Radiorezeptorassay zeigten, dass im Abwasser eine höhere Bindungsfähigkeit als in der Würm vorlag. Die Erkenntnis, dass die Würm selbst ein gewisses Maß an Estrogenität aufweist, ist insofern bemerkenswert, als dass das als Referenz verwendete Medium damit eine Grundbelastung in sich trägt und damit auf die weite Verbreitung hormonell aktiver Substanzen auch in vermeintlich sauberen Gewässern hinweist. Beide Medien wiesen jedoch absolut eine recht geringe Kompetenz auf, den natürlichen Liganden vom Rezeptor zu verdrängen und lassen so den Schluss zu, dass zum untersuchten Zeitpunkt nur ein niedriges Potenzial zur Beeinflussung des Hormonsystems der Amphibien vorlag.

Diese Beurteilung wird von den RT-PCR-Studien bestätigt. Mit Ausnahme des verstärkten Auftretens von Vitellogenin-mRNA bei weiblichen Tieren in der 1:2-Abwasser/Würm-Mischung wurden keine signifikanten Veränderungen in der Biomarkerexpression nachgewiesen. Weder die mRNA der Androgen- und Estrogenrezeptoren noch die des Retinol binding proteins unterlag durch die unterschiedlichen Behandlungen einer Änderung, die den Rahmen normaler physiologischer Variabilität übertraf. Aus diesem Befund ist zu schließen, dass die Vitellogeninexpression von Xenopus den sensitivsten aller getesteten Biomarker zum Nachweis der estrogenen Wirksamkeit von Substanzen oder Substanzgemischen darstellt. Durch die niedrige Signalschwelle der Vitellogenininduktion im amphibischen Studienmodell sind demnach bereits geringe estrogene Potenziale nachweisbar.

Darüber hinaus geht aus den Ergebnissen hervor, dass die Analyse der Biomarkerexpression im juvenilen Stadium von Xenopus keinesfalls geeignet ist, um als Summenparameter die gesamte Exposition gegenüber endokrin wirksamen Substanzen während der Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt zu erfassen. Die Methode ermöglicht lediglich eine aktuelle Momentaufnahme der Belastungssituation zum Zeitpunkt der Probennahme. Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte durch die Untersuchung der Biomarkerexpression der Einfluss der Behandlungen auf die Tiere am Ende des Versuchszeitraums beurteilt werden. Eine Aussage über die Verhältnisse zu Beginn des Experiments, als durch das beschriebene Hochwasser die realen Expositionsbedingungen im Gegensatz zu den erwarteten Verhältnissen standen, ließ die angewandte Technik nicht zu.

Zusammenfassend lässt sich aus der Summe der Befunde von Histologie, den darauf basierenden Geschlechterverhältnissen von R. temporaria und X. laevis, den Untersuchungen zur Biomarkerexpression sowie den Re­[Seite 93↓]zeptorbindungsstudien ableiten, dass vom Auslauf der kommunalen Kläranlage Starnberg eine moderate Belastung der amphibischen Umwelt hinsichtlich der Beeinflussung des endokrinen Systems durch Estrogene ausgeht. Normabweichende Veränderungen der untersuchten Parameter waren lediglich in einem Umfang nachzuweisen, der nachhaltige, signifikante Beeinträchtigungen der Tiere auf individueller und Populationsebene unwahrscheinlich erscheinen lässt.

4.3.2 Untersuchung von Extrakten in Bioassays

Aufgrund des enormen Aufwandes und der Unwägbarkeiten, die Freilanduntersuchungen mit sich bringen, wäre eine Alternativmethodik, die eine verlässliche Beurteilung der Verhältnisse vor Ort durch übertragbare Laborstudien ermöglicht, zu begrüßen. Daher wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, durch die Verwendung von Extrakten, in denen die lipophilen Bestandteile natürlicher Medien durch Festphasenextraktion angereichert worden waren, einen Beitrag zur Etablierung einer solchen Alternativmethode zu leisten. Zu diesem Zweck wurden Extrakte des Auslaufs der Kläranlage Starnberg sowie der Würm für Untersuchungen in vivo und in vitro unter Verwendung des Studienmodells X. laevis eingesetzt.

Die Auswertung der Anteile von weiblichen und männlichen Tieren an den Testpopulationen, die gegenüber den Extrakten exponiert wurden, erbrachte für die parallel mitgeführten Kontrollansätze die erwarteten Ergebnisse. Die Behandlung mit dem Extrakt des synthetischen Hälterungsmediums für Kauquappen hatte keinen Effekt auf die sexuelle Differenzierung und mündete in einer gleichmäßigen Verteilung der Geschlechter. Damit konnte gezeigt werden, dass die Extraktion selbst ohne Wirkung blieb und auftretende Unterschiede in den Geschlechter­verhältnissen ausschließlich auf die Inhaltsstoffe der zu Grunde liegenden Medien zurückzuführen waren. Methodische Einflüsse auf das Ergebnis waren aus diesem Grund auszuschliessen. Zwei Ansätze mit E2-Behandlung erbrachten eine signifikante und in ihrer Deutlichkeit mit den eingesetzten Konzentrationen korrelierende Erhöhung des Anteils weiblicher Tiere und damit den Nachweis, dass unter den gewählten Bedingungen die Beeinflussung des Geschlechterverhältnisses durch exogene Faktoren möglich war.

Die Exposition gegenüber den Extrakten der natürlichen Medien hatte Anteile weiblicher Tiere innerhalb der behandelten Gruppen zur Folge, die sowohl im Ansatz der Würm als auch in den Mischungen deutlich höher waren als in der mitgeführten Referenz, ohne jedoch signifikantes Niveau zu [Seite 94↓]erreichen. Diese Beobachtung lässt darauf schließen, dass in allen Extrakten in gewissem Umfang estrogen wirksame Inhaltsstoffe vorhanden waren, die diese Tendenz hervorgerufen haben. Gestützt wird diese Annahme von der Tatsache, dass nach Behandlung mit dem höher konzentrierten Abwasseranteil mehr weibliche Tiere zu beobachten waren, als dies in der niedrigeren Abwasserkonzentration bzw. der Würmprobe der Fall war. Nach den durch Biomarker- und Rezeptorbindungsstudien erhaltenen Erkenntnissen aus der Freilandstudie vor Ort war davon auszugehen, dass das Abwasser im Vergleich zur Würm eine höhere Fracht an estrogen wirksamen Stoffen trägt. Diese Annahme wurde durch die ermittelten Geschlechterverhältnisse bestätigt.

Der Vergleich der Ergebnisse aus Freiland- und Laborstudie zeigt zunächst große Differenzen in den resultierenden Geschlechterverhältnissen bei Behandlung mit Medien identischer Herkunft. Während in der Würm vor Ort der höchste Anteil weiblicher Tiere zu beobachten war, wurde im Laborexperiment für den entsprechenden Extrakt der geringste Weibchenanteil ermittelt. Gleichsam gegensätzlich stellten sich die Ergebnisse in Freiland und Labor für die beiden Mischungen von Würm und Abwasser dar. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich durch die unterschiedlichen Verhältnisse, die durch die jeweiligen Expositionen repräsentiert wurden. Während die Probennahme für die Herstellung der im Labor verwendeten Extrakte zu einem Zeitpunkt erfolgte, der den normalen Umständen an der Kläranlage Starnberg entsprach, fand die Exposition vor Ort in einer Ausnahmesituation statt. Der hochwasserbedingte Eintrag industrieller Abwässer in die Würm hatte außergewöhnliche Bedingungen zur Folge, unter denen die stärkste estrogene Belastung im vermeintlichen Referenzmedium zu finden war und die Mischungen von Abwasser und Würm eine entsprechend geringere Menge an hormonell wirksamen Inhaltsstoffen mit sich führten. Diesen Aspekt berücksichtigend unterstreichen die Ergebnisse die besondere Eignung von X. laevis zur Beurteilung endokriner Effekte in vivo. Unabhängig davon, ob in Freiland oder Labor gearbeitet wird, zeigen die ermittelten Geschlechterverhältnisse verlässlich sowohl eine estrogene Gesamttendenz als auch die relative Estrogenität der untersuchten Medien im Vergleich zueinander an.

Im Rahmen der Untersuchungen zur Biomarkerexpression in den Lebern kurzfristig gegenüber den Extrakten natürlicher Medien exponierter Tiere konnten keine signifikanten Veränderungen in der Genaktivität der entsprechenden Biomarker durch die Behandlungen festgestellt werden. Zwei, als Positivkontrollen mitgeführte, Parallelansätze mit unterschiedlichen E2-Konzentrationen riefen hochsignifikante Steigerungen der Vitellogenin­expression hervor, deren Beträge sich entsprechend der Höhe der eingesetzten Konzentrationen unterschieden. Die enorme Induktion der Vitellogenin­[Seite 95↓]mRNA innerhalb einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne, die in diesem Experiment vor allem in weiblichen Tieren gezeigt wurde, bietet die Chance zur Entwicklung einer effektiven und schnellen Screening-Methode, um estrogenes Potenzial von Stoffen zu erfassen. Mit Hilfe der vorgestellten Methode können innerhalb kurzer Zeit und mit vertretbarem Aufwand eine Vielzahl von Substanzen oder Substanzgemischen hinsichtlich ihrer vermeintlichen estrogenen Wirkung auf Amphibien untersucht werden. Darüber hinaus bietet die Einbeziehung weiterer Biomarker neben Vitellogenin die Möglichkeit, das Spektrum endokriner Wirkungen, das durch dieses Screening beurteilt werden kann, deutlich zu erweitern und damit eine Methode zu generieren, mit der sich vielfältige Hinweise auf Art und Umfang der hormonellen Aktivität einer Substanz erhalten lassen.

Die Radiorezeptor Assay Studien, die durchgeführt wurden, um das Bindungspotenzial der lipophilen Inhaltsstoffe der natürlichen Medien an den Estrogenrezeptor zu erfassen, bestätigen die Erkenntnisse aus den Experimenten in vivo. Die Abwasserprobe zeigte ein vergleichsweise hohes Vermögen, den natürlichen Liganden E2 vom Rezeptor zu verdrängen und über diesen Mechanismus estrogene Wirkung zu entfalten. Der in diesem Experiment ermittelte Wert unterscheidet sich von dem Resultat, das im Rahmen der Studie vor Ort erhalten wurde. Daraus ist zu schließen, dass der Umfang, in dem estrogen wirksame Stoffe aus der Kläranlage entlassen werden, nicht konstant ist, sondern Schwankungen unterliegt. Die Frage, ob diese Unterschiede einer Rhythmik unterliegen, wirft interessante Forschungsansätze mit relevantem Inhalt auf, denn abhängig von der Art der Rhythmik ließen sich funktionale Konsequenzen ableiten. Die Kenntnis tageszeitlicher oder saisonaler Muster im Belastungsszenario ist von grundlegender Bedeutung für ergänzende Ansätze in der Abwasseraufbereitung, die eine weitere Steigerung der Wasserqualität und damit Verringerung der Umweltbelastung ermöglichen.

Auch die Bindungspotenziale, die für die Würm in der Freiland- und der Laborstudie bestimmt wurden, unterscheiden sich. Während im erstgenannten Experiment bindungsfähige Inhaltsstoffe enthalten waren, konnten diese in dem für die Laborstudie hergestellten Extrakt nicht nachgewiesen werden. Es ist davon auszugehen, dass sich hier die Folgen der bereits dargestellten Hochwassersituation widerspiegeln, die zu Beginn der Freilandstudie für einen Eintrag industrieller Abwässer in die Würm verantwortlich war. Zwar war dieser Einfluss am Ende der Studie weitestgehend abgeklungen, wie die chemische Begleitanalytik bestätigt, doch sind die Nachwirkungen dieses Ereignisses in den Ergebnissen des Radiorezeptor Assay in Spuren wieder zu finden. Der in deutlichem Zeitabstand analysierte Extrakt für die Laborstudie zeigt, dass dieses Vorkommnis ohne dauerhafte Wirkung geblieben ist [Seite 96↓]und die Würm zum Zeitpunkt der Zweitstudie als hormonell unbelastetes Gewässer angesehen werden kann. Dies bestätigt, dass auch für natürliche Gewässer auf Grund einer Einzeluntersuchung keine generelle Aussage zur Belastungssituation gemacht werden kann und ebenfalls saisonale Einflüsse Berücksichtigung finden müssen.

Überraschenderweise wurde im Extrakt des Kaulquappenmediums, das für die Laborstudien eingesetzt wurde, eine – wenn auch sehr geringe – Bindungsfähigkeit von Inhaltsstoffen an den Estrogenrezeptor festgestellt. Eine tatsächliche Existenz estrogenen Potenzials muss auf Grund der Zusammensetzung des Mediums, das lediglich aus hochreinem Wasser sowie Salzen und Mineralstoffen besteht und der Tatsache, dass keine der unter Verwendung dieses Mediums durchgeführten Studien eine vergleichbare Vermutung begründet, ausgeschlossen werden. Es ist jedoch denkbar, dass hier die Art der Aufarbeitung Einfluss genommen hat. Der Wunsch, mit den gewonnen Extrakten sowohl in vivo- als auch Rezeptorbindungsstudien vergleichend durchführen zu können, machte die Verwendung von 200 L ursprünglichen Mediums notwendig. Um dieses große Volumen bewältigen zu können, wurden zur Extraktion Kunststoffsäulen benutzt, die in größerem Maßstab erhältlich sind, als dies für Glassäulen der Fall ist. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Kunststoff Weichmacher mit estrogener Wirkung enthält, die im Lauf der Extraktion in geringem Umfang in das Medium dif­fundierten und damit den scheinbaren Nachweis von estrogener Potenz des Kaulquappenmediums verursachten. Um diesen möglichen Effekt auszuschließen, ist bei künftigen Untersuchungen dieser Art darauf zu achten, ausschließlich Materialien aus Glas zu verwenden. Dies war bei den Extraktionen, die die Freilandstudie begleiteten, der Fall. Darüber hinaus war die Verweilzeit der Medien innerhalb der Säulen auf Grund des geringeren Volumens in diesen Ansätzen deutlich kürzer, weswegen ein Einfluss des beschriebenen Effektes auf die Ergebnisse der ersten Radio Rezeptor Assays ausgeschlossen werden kann.

4.4 Ausblick

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde eine neue Hypothese zur sexuellen Differenzierung bei Amphibien erstellt. Im Zentrum dieser Hypothese steht als auslösendes Moment der geschlechtlichen Entwicklung die genetisch bedingt unterschiedliche Expression der 5α-Reduktase. Dieses Enzym ist für die Umwandlung von Testosteron in das potentere Dihydrotestosteron verantwortlich und hat damit entscheidenden Einfluss auf das Verhältnis, in welchem androgene zu estrogenen Sexualsteroiden im larvalen Tier vorlie­[Seite 97↓]gen. Die Entwicklung zum weiblichen oder männlichen Frosch scheint von dieser Relation bestimmt zu werden.

Um die Richtigkeit der vorgestellten Hypothese zu überprüfen und insbesondere zu klären, ob die 5α-Reduktase tatsächlich die zentrale Rolle in der sexuellen Differenzierung der Amphibien einnimmt, sind eingehende Studien dieses Enzyms erforderlich. So sollte in einer grundlegenden Analyse untersucht werden, wann und in welcher Ausprägung die 5α-Reduktase im normalen Entwicklungsverlauf von Amphibien auftritt. Analog zu dem in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Vorgehen für die Untersuchung der Rezeptoren der Sexualsteroide während der Larvalentwicklung wäre die RT-PCR-Technik als geeignete Methode vorzuschlagen.

Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Konsequenzen einer gezielten Manipulation der Aktivität und / oder des Vorkommens der 5α-Reduktase während der geschlechtlichen Entwicklung wertvolle Hinweise auf die Funktion und Bedeutung des Enzyms für die sexuelle Differenzierung liefern würden. Eine Verringerung der Enzymaktivität durch die Gegenwart eines spezifischen Inhibitors sollte gemäß der diskutierten Hypothese zu einem deutlich erhöhten Anteil weiblicher Tiere im entsprechend behandelten Ansatz führen. Dagegen ist zu erwarten, dass eine erhöhte Funktionalität der 5α-Reduktase durch exogene Zugabe über das Umgebungsmedium in einer zunehmenden Menge männlicher Tiere resultiert. Solche Untersuchungen, die über den Beitrag, den die 5α-Reduktase zur geschlechtlichen Entwicklung von Amphibien leistet, Aufschluss geben, sind von hohem Interesse. Für die Verifizierung der vorgestellten Hypothese oder möglicherweise zur Erarbeitung von Erkenntnissen, die eine Modifikation dieser grundlegenden Annahme nötig machen, sind diese Studien unerlässlich.

Im anwendungsbezogenen Teil der vorliegenden Arbeit wurde das zur Untersuchung von EDs bereits etablierte Studienmodell Xenopus laevis um einige Aspekte erweitert. Die Tatsache, dass die Induktion von Vitellogenin in der Leber juveniler Tieren bereits nach kurzfristiger Exposition gegenüber estrogen wirksamen Substanzen nachweisbar ist, lässt vermuten, dass auf dieser Basis die Etablierung eines raschen Tests auf Estrogenität möglich ist. Ein solches Screeningverfahren wäre in der Lage, auf eine vergleichsweise schnelle und wirtschaftliche Art das Potenzial einer Substanz oder eines Substanzgemisches anzuzeigen, mit dem diese das Hormonsystem durch estrogene Interaktion zu beeinflussen kann.

Außerdem konnte gezeigt werden, dass sich der Krallenfrosch über Laborstudien hinaus auch für Untersuchungen eignet, die es erlauben, die Belastung der Umwelt durch hormonell aktive Substanzen am Ort der Kontamination zu beurteilen. Die Übertragbarkeit der durch dieses System ermittelten Daten auf die heimische Situation scheint durch den erfolgten Vergleich mit [Seite 98↓]Ergebnissen, die unter Verwendung von Rana temporaria erstellt wurden, gesichert. Xenopus bietet damit eine große Vielfalt an Möglichkeiten, die endokrine Wirkung von Substanzen und Substanzgemischen auf verschiedenen Nachweisebenen zu untersuchen. Die Verwendung von Extrakten zu untersuchender Medien bietet darüber hinaus den Vorteil, den hohen Aufwand von Freilanduntersuchungen zu reduzieren und komplexe natürliche Mischungen unter standardisierten Bedingungen im Labor analysieren zu können. Es wäre wünschenswert, diese Palette an in vitro- und in vivo-Methoden ausgehend vom hier vorgestellten Ansatz in weiteren, kombinierten Labor- und Freilandstudien anzuwenden, um eine breitere Datenbasis zu erhalten sowie das Modellsystem Xenopus weiter zu entwickeln und zu präzisieren. Auf diese Weise ließe sich eine praktikable und sensitive Grundlage zum Aufbau eines validen Testsystem erarbeiten, das die verlässliche Beurteilung der relevanten Gefährdung, die von EDs auf die amphibische Umwelt ausgeht, zulässt.


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30.01.2004