1 Die Entwicklung der Genderforschung

↓6

„Wer heute versucht, sich einen ersten Überblick über den gegenwärtigen Stand der internationalen Geschlechterforschung zu verschaffen, sieht sich mit einer beinahe unüberschaubaren Fülle von Büchern und Aufsätzen konfrontiert“ (Hof, 2005, S. 3), so die Berliner Literaturprofessorin Renate Hof. Diese ebenso junge wie intensive Entwicklung basiert auf der Einsicht, dass das Verhältnis der Geschlechter in allen gesellschaftlichen Bereichen von Bedeutung ist und deshalb jede Analyse einer Gesellschaftsordnung die Kenntnis der jeweiligen Ordnung der Geschlechter voraussetzt. „Diese Einsicht verband sich zunächst in kritischer Absicht mit der Forderung nach gesellschaftlicher Gleichstellung von Frauen und Männern. In der Folgezeit jedoch wurde zunehmend deutlich, daß der gesamte Prozeß der Wissensproduktion verändert werden mußte, um eine angemessene Repräsentation bisher marginalisierter Gruppen zu erreichen.“ (Hof, 2005, S. 3f.).

1.1 Begriffsprägung

↓7

Mit zunehmender Komplexität des Forschungsgegenstandes wurde ferner deutlich, dass das traditionelle terminologische Instrumentarium nicht ausreichte, um Forschungsfragen und Erkenntnisinteresse in der gebotenen Differenziertheit zu formulieren. Die Prägung zeitgemäßer Definitionen für moderne Forschungsergebnisse erwies sich daher gleichermaßen erforderlich als Voraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens wie auch zum Zweck präziser Auswertung, einschließlich gesellschaftspolitischer Konsequenzen.

1.1.1 Begriffsherkunft und Adaption

Bis in die 1960er Jahre war der Begriff ‚Gender‘ in seiner heutigen Bedeutung als Bezeichnung des soziokulturellen Geschlechtes - im Unterschied zum biologischen Geschlecht - auch im angloamerikanischen Sprachgebrauch nahezu unbekannt. Der Begriff diente ausschließlich zu Zwecken der Beschreibung innerhalb der Grammatik, insbesondere wenn aus dem Englischen in andere Sprachen verwiesen wurde, deren Substantive als Wortart genusbestimmt sind.

„Ein von dieser grammatikalischen Bezeichnung abweichender Gebrauch wurde entweder als Scherz oder als grober Schnitzer angesehen. Seit einigen Jahren dagegen ist es kaum noch möglich, eine englischsprachige wissenschaftliche Zeitschrift aufzuschlagen, ohne darin nicht zumindest einen Aufsatz zum Konzept ‚gender‘ zu finden.“ (Hof, 1995, S. 12).

↓8

Seit der Jahrtausendwende gilt dies ebenfalls für die englischsprachigen Wörterbücher. Während z. B. ‚Collins Dictionary German-English/English-German‘ von 1997 den Begriff ‚gender‘ mit ‚Geschlecht‘ übersetzt und als einzige Erklärung den Kontext ‚What gender is this word?‘ anbietet, führt das ‚Oxford Advanced Learner’s Dictionary of Current English‘ aus dem Jahr 2000 als erste Definition an: ‚the fact of being male or female: issues of class, race and gender‘ mit Hinweis auf ‚gender differences, relations, roles‘ und erst an zweiter Stelle folgen dann die Erläuterungen zu ‚grammar‘.

Mit nur geringer zeitlicher Verzögerung hat sich eine vergleichbare Anpassung in deutschen Wörterbüchern vollzogen und sei hier am Beispiel des ‚Duden‘ aufgezeigt: ‚Die deutsche Rechtschreibung‘ in der Auflage des Jahres 2000 sowie ‚Das Fremdwörterbuch‘ von 1997 verzeichnen den Begriff ‚Gender‘ noch nicht, während die jeweils darauf folgenden Auflagen aus dem Jahr 2004 bzw. 2001 zumindest ‚Genderstudies‘ als ‚Frauen- und Geschlechterforschung‘ kennen und ‚Gender‘ sogar als ‚Bezeichnung für die Geschlechtsidentität des Menschen als sozialer Kategorie (z. B. im Hinblick auf Selbstwahrnehmung, Selbstwertgefühl, Rollenverhalten)‘ prägnant und zutreffend definieren.

Für grammatische Erklärungen greifen deutsche Wörterbücher weiterhin auf das lateinische Wort ‚Genus‘ zurück, aus dessen Wortstamm sich letztendlich auch der englische Begriff ‚gender‘ und der französische Begriff ‚genre‘ abgeleitet haben.

1.1.2 Begriffsdefinition und Verbreitung

↓9

Im Kontext dieser etymologischen Betrachtung muss ebenfalls auf die Bedeutung des Gender-Begriffes eingegangen werden. Da der deutsche Begriff ‚Geschlecht‘ nur die Differenzierung in biologische, genealogische und grammatische Kategorie kennt und hierunter immer auch die sozialwissenschaftliche Komponente subsumierte, so z. B. in dem gebräuchlichen Terminus ‚Frauen- und Geschlechterforschung‘, konnte er sich nie von der vorrangig biologistischen Interpretation befreien.

„Während Genus/gender als Erbe aus der lateinischen Grammatik in typologischen und universellen Zusammenhängen in der ursprünglichen neutralen Grundbedeutung ‚Art‘ oder ‚Klasse‘ verwendet wird, hat die irreführende (und zugleich mehrdeutige) deutsche Übersetzung von ‚Genus‘ mit ‚Geschlecht‘ einer ungeprüften Korrelation von Genus mit Sexus unheilvollen Vorschub geleistet und damit unwissenschaftliche Spekulationen hervorgerufen.“ (Bußmann, 1995, S. 117).

Der angloamerikanische Sprachraum unterscheidet nun das biologische Geschlecht ‚sex‘ vom sozialen Geschlecht ‚gender‘. Ohne die ursächliche Kausalität zu leugnen, wird durch diese definitorische Trennung Klarheit für den alltäglichen Sprachgebrauch geschaffen. Da es außer der genannten adjektivischen Differenzierung im Deutschen keine Entsprechung zum Gender-Begriff gibt, wurde dieser unverkrampft übernommen und hat sich binnen weniger Jahre international und somit auch im deutschen Sprachgebrauch durchgesetzt.

↓10

Eine ähnliche Entwicklung wie in der Kategorie der Wörterbücher zeigt sich daher auch bei den allgemeinen Lexika des täglichen Gebrauches.

Während der ‚Brockhaus‘ auch in seiner jährlich aktualisierten CD-ROM-Version den Begriff ‚Gender‘ bis zur Ausgabe für das Jahr 2000 gar nicht verzeichnet, wachsen ab Ausgabe 2001 die Einträge jeweils in Länge, Anzahl der Komposita und inhaltlicher Differenziertheit. ‚Meyers Großes Taschenlexikon‘, populär und weit verbreitet, beginnt ebenfalls 2001 mit der Verzeichnung, allerdings zunächst lediglich als Verweisung auf ‚Geschlecht‘ und ‚Geschlechterforschung‘.

Einige Jahre danach werden Verzeichnung einschließlich Erläuterung unter dem Gender-Begriff selbstverständlich, so auch z. B. in dem 2005 erschienenen 20bändigen Lexikon der Wochenzeitung ‚Die ZEIT‘.

↓11

Mittlerweile sind Begriffsprägung und Thematik so verbreitet, dass die Neuauflage eines allgemeinen Lehrbuches über das wissenschaftliche Arbeiten den Umgang mit dem Internet für Recherchestrategien und Quellensuche explizit am Beispiel der Genderforschung erläutert (vgl. Sesink, 2003, S. 70ff.).

Hierdurch wird Folgendes deutlich: der Terminus ist einprägsam und das Thema im Hinblick auf seinen Aktualitätsgrad gleichermaßen geeignet, Interesse zu wecken wie auch bereits eine nennenswerte Anzahl digitaler Publikationen vorzufinden. Das Forschungsgebiet selbst zeigt sich dann als in hohem Maße komplex und interdisziplinär und stellt somit ein optimales Lehrmittel dar.

Spätestens hier erweist sich der Eindruck einer neuen Disziplin als voreilig, denn das Forschungsgebiet speist sich weitgehend aus der klassischen Frauen- und Geschlechterforschung, allerdings unter wesentlich erweitertem Blickwinkel und auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse.

↓12

Dennoch ist die Vermutung zulässig, dass das große Interesse an dem zeitgemäßen Thema ‚Gender‘ als einer neuen erkenntnisleitenden Perspektive auch der eingängigen und internationalen Begrifflichkeit zu danken ist. Natürlich ist diese weder Ursache noch Anlass der Forschungsaktivitäten, jedoch trägt sie ihren Teil zu der unerwarteten Akzeptanz und raschen Verbreitung der Thematik bei und verhilft so dem Paradigmenwechsel innerhalb der Frauen- und Geschlechterforschung zunehmend zu öffentlicher Aufmerksamkeit.

1.1.3 Sex und Gender

Auf der Grundlage von Talcott Parsons‘ (1902 - 1979) Rollentheorie wandte der Psychoanalytiker und Psychiater Robert Stoller (1924 - 1991) im Jahr 1968 die Unterscheidung zwischen ‚Sex and Gender‘ (Stoller, 1968) bei seinen Untersuchungen zur Geschlechtsidentität von Patienten an. Er untersuchte Probleme der Gender-Identität bei Patienten, die ‚falsche‘ oder ‚fehlende‘ sexuelle Merkmale haben, jedoch nach einer eindeutigen Rolle männlich oder weiblich sozialisiert wurden.

„While the work of our research team has been associated with the term ‚gender identity‘, we are not militantly fixed either on copyrighting the term or on defending the concept as one of the splendors of the scientific world. It is a working term. We know that though it deals with another realm of feelings, thoughts, and behavior than that encompassed by, say, ‚sexual activity‘, the two terms are contiguous and at times inextricably intermingled. With ‚gender‘ difficult to define and ‚identity‘ still a challenge to theoreticians, we need hardly insist on the holiness of the term ‚gender identity‘.“ (Stoller, 1968, S. VIII).

↓13

Eine andere Quelle datiert die Begriffsprägung etwas später: „Die Unterscheidung von Sex und Gender wurde erstmals 1972 von den SexualwissenschaftlerInnen John Money und Anke Ehrhardt vorgeschlagen. Konfrontiert mit PatientInnen, deren Geschlechtsidentität nicht mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmte, schlugen sie eine analytische Trennung von Sex und Gender vor. Sex, so ihre Argumentation, ,refers to physical attributes and is anatomically and physiologically determined.’ Gender sahen sie dagegen als ,a psychological transformation of the self - the internal conviction that one is either male or female (gender identity) and the behavioral expressions of that conviction’.“ (Griesebner, 2003, S. 43).

Die britische Soziologin Ann Oakley (*1944) festigte 1972 in ihrer Veröffentlichung ‚Sex, Gender and Society‘ diese Unterscheidung: „‘Sex‘ is a word that refers to the biological differences between male and female. ... ‚Gender‘ however is a matter of culture: it refers to the social classification into ‚masculine‘ and ‚feminine‘. ...

The constancy of sex must be admitted, but so also must the variability of gender.“ (Oakley, 1989, S. 16).

↓14

Die zunehmend auch von der feministischen Wissenschaftskritik verwendete Unterscheidung zwischen Sex und Gender bietet ein neues Erklärungsmuster für die geschlechterspezifische Differenzierung zwischen biologischem Erbe und soziokulturellem Konstrukt. Hierdurch werden die ehedem so einleuchtend anmutenden biologistischen Festlegungen der als männlich und weiblich gedeuteten Zuschreibungen in Frage gestellt. Unterschiedliche Positionen und Rollen von Frauen und Männern können nicht länger auf nur biologische Unterscheidungsmerkmale zurückgeführt werden.

Die ursprünglich so einfache Polarisierung zwischen der weiblichen Nähe zur Natur, hergeleitet aus Reproduktionsfähigkeit und Wirken in privater Sphäre, und ihr gegenüber der männlichen produktiven kulturschaffenden Arbeit im öffentlichen Bereich schienen die Höherwertigkeit des Mannes zu begründen und zu rechtfertigen.

Die Differenzierung zwischen Sex und Gender greift die Leitidee des Unterschiedes zwischen Natur und Kultur auf, stellt jedoch die bisherige Schlussfolgerung einer naturgegebenen Hierarchie der Geschlechter in Frage.

↓15

Als die feministische Wissenschaftskritik begann, den marginalen Status von Frauen zu thematisieren und dessen Ursachen zu erforschen, konnte sie an altehrwürdige Traditionen des Nachdenkens über die ‚Natur des Weiblichen‘ und das ‚Wesen der Frau‘ anknüpfen. Die Erkenntnisse von Aristoteles bis Sigmund Freud lagen bibliothekenfüllend vor, einschließlich der jeweils historisch bedingten wissenschaftlichen Beweisführung.

„Was die Klassiker des philosophischen Denkens über die Frauen von sich gegeben haben, sollte besser dem Vergessen anheimgestellt werden, da es aus heutiger Perspektive nicht als lohnend erscheint, sich mit den Diffamierungen und Diskriminierungen aufzuhalten, mit denen sich die großen Denker mehr oder weniger achtlos, oft gleichsam nebenher, über die Unfähigkeit weiblicher Wesen, auf dem Feld des Theoretischen wie des Praktischen Eigenständigkeit zu beweisen, geäußert haben. Dabei schwankte die Beurteilung zwischen mitleidigem Bedauern (über die ‚natürliche‘ Benachteiligung der Frauen) und krasser Ablehnung (von Frauen, die sich Männerprivilegien herauszunehmen wagen).“ (Pieper, 1993, S. 78).

„Wenn (männliche) Philosophen über Frauen nachdenken, dann in der Regel, um z. B. zu erklären, daß ihnen die Seele fehle (Aristoteles), um ihnen die Fähigkeit zur Vernunft abzusprechen (Kant) oder um sie auf die ‚Grenzen ihrer Gefühle‘ festzulegen (Fichte). ...

↓16

Die Fähigkeit zum eigenständigen Denken auch den Frauen zuzugestehen, scheint für die philosophierenden Männer - mit wenigen Ausnahmen wie z. B. Sokrates, Gottfried W. Leibniz, Erasmus von Rotterdam, John Stuart Mill - unvorstellbar zu sein. Durchweg identifizieren sie das Geistige mit dem Männlichen und das Sinnliche mit dem Weiblichen.“ (Rullmann/Gründken/Mrotzek, 1994, S. 13).

„Die Medizinerin Karen Horney ist eine der Frauen, die der Erprobung, Ausarbeitung und Fortentwicklung der Lehre Freuds ihre ganze Energie gewidmet haben. Deutlicher als andere Denkerinnen der Psychoanalyse der ersten Generation nahm sie dabei von bestimmten philosophischen Grundansichten Freuds Abstand - und sie tat dies explizit. ...

Karen Horneys erste theoretische Kritik an der Psychoanalyse entzündet sich an der Freudschen Auffassung von der weiblichen Libido und Sexualität. Den weiblichen Peniswunsch betrachtet sie als ein kulturell bedingtes Phänomen. Das kleine Mädchen verlange im Grunde nach einer anderen Rolle und einem anderen sozialen Status, es begehre im sogenannten ‚Penisneid‘ nichts anderes als die kulturellen Privilegien des Mannes. Auch Freuds These von der Angst vor dem Liebesverlust als der Grundangst der Frauen weist Horney entschieden zurück. Störungen des Selbstvertrauens und Formen neurotischer Nachgiebigkeit und ein weiblicher ‚Masochismus‘ deuten ihr zufolge auf eine Unzufriedenheit, die in der weiblichen Rolle wurzelt und nicht in der weiblichen Natur.“ (Rullmann, 1995, S. 109ff.).

↓17

Stringenz und Durchgängigkeit haben die disziplinenübergreifenden androzentrischen Wissenschaftskonzepte in der sie einenden Voraussetzung der stets männlichen Forscherperspektive und der Grundannahme naturgegebenen und daher unveränderbaren Rollenverhaltens. Diese naturbedingte Polarisierung der Geschlechtercharaktere führte zu der Schlussfolgerung, die Geschlechterdifferenz als Ausdruck natürlicher Eigenschaften von Männern und Frauen anzusehen und somit die unterschiedlichen Geschlechterrollen innerhalb der Gesellschaft zu legitimieren. Ein solcher Rekurs auf die Natur impliziert die Unveränderbarkeit der weiblichen und männlichen Geschlechterrollen und suggeriert Rechtmäßigkeit und Unumstößlichkeit der traditionell bestehenden Machtverhältnisse.

Hier setzt die Forderung der feministischen Wissenschaftskritik ein, die mit den jeweiligen Geschlechterzuschreibungen verbundenen Mechanismen von Herrschaft und Unterdrückung zu erfassen und die bisher zur Beschreibung gesellschaftspolitischer Prozesse gültigen Kategorien zu überdenken.

Voraussetzung hierfür musste es also sein, zunächst ein Instrument der sprachlichen Differenzierung zu finden, bzw. zu schaffen, das sich als Wegbereiter einer gedanklichen Neuausrichtung eignete, um dann als Signal für intellektuellen und wissenschaftlichen Handlungsbedarf in die Öffentlichkeit zu dringen.

↓18

Die klassische Trennung in der Betrachtung von Leib und Seele, von Natur und Kultur, sollte nicht länger in einfacher Analogie zu der archaischen Zuweisung ‚Frau = Natur und Mann = Kultur’ führen.

Die Unterscheidung zwischen dem biologisch fundierten Geschlecht Sex und den jeweils kulturell konstruierten, variablen Geschlechterzuschreibungen Gender ermöglicht es nunmehr, gesellschaftliche Entwicklungen einer unvoreingenommenen Analyse und Neubewertung zu unterziehen.

Der Terminus Gender als eigenständige Kategorie des Denkens und Forschens bricht die traditionell männliche Definitionsmacht und erzwingt die ganzheitliche Sicht - auch auf die weibliche Persönlichkeit, d. h. die bisher vernachlässigten oder als abschließend erforscht geltenden Aussagen zur biologischen Prägung des Mannes und der daraus resultierenden kulturell untergeordneten Rolle der Frau werden einer Neubetrachtung unterzogen, denn die Differenzierung in Sex und Gender gilt fortan jeweils für beide Geschlechter.

1.2 Die Voraussetzungen der Genderforschung

↓19

Vorarbeit geleistet hatte die Neue Frauenbewegung der 1970er Jahre mit ihrer eingebrachten weiblichen Lebenserfahrung sozialer und kultureller Realität als Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens, die nicht nur die Art der Argumentation veränderte, sondern ein gezieltes Erkenntnisinteresse mit sich brachte.

Es versteht sich von selbst, dass es die Frauen waren, die zunehmend nach sachlichen Begründungen für ihre nachrangige gesellschaftliche Stellung fragten. Als überzeugende Antworten immer wieder ausblieben und auch die Wissenschaft ihnen stets nur biologistisch fundierte Stereotype liefern konnte und wollte, sahen sie sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Forschungsinitiativen gezielt dieser Thematik zu widmen.

„Da jedoch, wo es Frauen gelungen ist, die Hürden, die ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit entgegenstehen, zu überwinden, da, wo sie forscherisch tätig werden können, müssen sie merkwürdige Entdeckungen machen, sobald sich ihre Aufmerksamkeit auf etwas richtet, was mit Frau(en) oder Weiblichkeit in Zusammenhang steht.

↓20

Vielfach müssen wir feststellen, daß das, was mit dem Dasein, dem Bewußtsein, den Tätigkeiten oder Verhaltensweisen von Frauen zu tun hat, als Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung gar nicht vorkommt oder in einer Eigengesetzlichkeit nicht wahrgenommen wird.“ (Klinger, 2001, S. 31).

Jahrzehntelang galten die feministischen Studien zur Frauenforschung sowie die politischen Maßnahmen zur Herbeiführung von Geschlechtergerechtigkeit durch Frauenförderung und Quoten als Außenseiterinteressen und zudem abträglich für den Erhalt der gesellschaftlichen Strukturen.

War es zunächst die Forschung von Frauen innerhalb des tradierten Wissenschaftsbetriebes, ihre Teilhabe an Forschungsaufträgen und -schwerpunkten sowie an Auswertung und Deutung, Definition und Publikation der Ergebnisse, so ermöglichte diese Integration unter der Prämisse des Objektivitätsgebotes einem nunmehr erfahrungsgestützten und realitätsnahen Frauenbild durch wissenschaftliche Methoden Allgemeingültigkeit zu verschaffen.

↓21

„Bereits hierdurch ist eine Reihe von Forschungsergebnissen erzielt worden, die eine grundlegende Revision des Wissenschaftsverständnisses einzelner Disziplinen notwendig machen.“ (Hof, 1995, S. 3).

Die traditionellen Forschungen über Frauen konnten nicht länger als wissenschaftlich fundierte Aussagen zur Erklärung der ungleichen gesellschaftlichen Positionen von Männern und Frauen angesehen werden. Die bestehenden Theorien über das Wesen der Frau, also Sanftmut und Häuslichkeit, Unfähigkeit zur Rationalität und selbstgewählte Unfreiheit, erwiesen sich als männliche Legitimationsstrategien zur Rechtfertigung langfristig geschaffener Machtverhältnisse.

„Offener Sexismus ist in solchen wissenschaftlichen Disziplinen bzw. ihren Teilbereichen besonders häufig anzutreffen, in denen Fragen der Geschlechtlichkeit und der Geschlechterdifferenz zum Thema gemacht werden. Dies ist, außer in bestimmten Feldern der Sozialwissenschaften und der Psychologie, vor allem in der Biologie und der Medizin der Fall - in Disziplinen also, die als Naturwissenschaften gelten und damit als dem Objektivitätsideal ganz besonders verpflichtet.“ (Klinger, 2001, S. 33).

↓22

Selbst die als geschlechterneutral oder ungeschlechtlich geltenden universalen Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution erhoben lediglich die Lebenserfahrungen von Männern zur allgemein verbindlichen Theorie ohne die spezifischen Lebensbedingungen von Frauen und deren eigene Wahrnehmung von Realität zu berücksichtigen und zu repräsentieren. Diese vermeintlichen Gleichheitsideale schlossen wiederum die Frauen aus.

Um Diskrepanzen dieser Art aufzuzeigen und aufzuarbeiten, war es erforderlich, die Situation von Frauen in Geschichte und Gegenwart zu verstehen. Die Frauenbewegung sah es daher als ihre vorrangige Aufgabe an, empirische Untersuchungen zur geschlechterspezifischen Sozialisation in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses zu stellen. Das bisher festgeschriebene Frauenbild erfuhr nun eine realitätsnahe Deskription und Differenzierung, in der sich die weiblichen Charaktere einzeln und in ihrer Gesamtheit zunehmend wiedererkannten.

Psychoanalytisch orientierte Ansätze suchten die verschiedenartigen Entstehungskontexte von Erfahrung entwicklungspsychologisch zu erfassen, während marxistisch orientierte Ansätze die Erfahrungen von Frauen auf kapitalistische Produktionsbedingungen und die damit einhergehende geschlechterspezifische Arbeitsteilung zurückführten.

↓23

Die Zunahme der Forschungsergebnisse und Publikationen bestärkte die Frauen in ihrer individuellen wie kollektiven Wahrnehmung, warf allerdings erneut die Frage der Allgemeingültigkeit auf. Noch zu wenig berücksichtigt blieben Ursachen und Auswirkungen ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Alter oder Sozialstatus. Durch die Kritik an der Homogenität der Erfahrung schien der wichtigste gemeinsame Nenner der feministischen Theorie nahezu wieder in Frage gestellt. Mit einer Vereinnahmung durch einen ‚white middle-class feminism‘ konnten sich nicht alle Frauen identifizieren.

Die hierdurch offenbar gewordene Komplexität der sozialen Realität konnte nunmehr noch weniger mit der traditionell binären Opposition Mann versus Frau, Kultur versus Natur, Reichtum versus Armut, Weiße versus Schwarze erfasst werden und erforderte weitere Differenzierung im Denken. Es konnte daher nicht gelingen, den als unzutreffend kritisierten Männerphantasien ein einheitliches alternatives Weiblichkeitsbild entgegenzusetzen.

Auch standen sich innerhalb der Geschichte des Feminismus die Forderung nach Gleichberechtigung für Frauen auf der einen Seite sowie nach Anerkennung einer spezifisch weiblichen Sphäre auf der anderen Seite gegenüber. Zur Annäherung an dieses scheinbar widersprüchliche ‚Recht auf Gleichheit und Differenz‘ der Frauen gegenüber den Männern kann die Analysekategorie Gender, die die Geschlechter individuell wie in Ihren Beziehungen zueinander untersucht, ebenfalls dienen.

↓24

Durch den Einfluss der Frauen hat die Geschlechterforschung einen Stand erreicht, der die einfachen Erklärungsmuster als unzutreffend und daher unhaltbar nachgewiesen hat und stattdessen die Komplexität des Forschungsgebietes und seiner alle Lebensbereiche tangierenden Auswirkungen offenbart.

Ein so grundlegender Umbruch in einer bisher fest gefügten und verbindlich geltenden Gedankenwelt, der kein neues, vergleichbar einfaches Menschenbild hervorbringt, erzeugt zunächst Zweifel und Widerstand bei den Traditionalisten, Verunsicherung und zeitgemäße Standortsuche bei eher progressiven Denkern.

Konsens besteht hier lediglich im allseitigen Wissen um die Unumkehrbarkeit der Entwicklung. Geschlechterforschung und gesellschaftlicher Diskurs haben sich also auf grundsätzliche Neuorientierung einzustellen. Dazu ist es erforderlich, Definitionen, Forschungs- und Lehrinhalte sowie die Grundregeln des öffentlichen und privaten Lebens dem aktuellen Erkenntnisstand anzupassen und zukunftsfähig zu gestalten.

↓25

Angesichts der weitreichenden Bedeutung und der erwartungsgemäß vorhandenen Widerstände - wie bereits dargelegt - ist Geschlechtergerechtigkeit nur in kleinen Schritten zu erreichen. Nachdruck und Schubkraft erhält sie jedoch - wie ebenfalls bereits dargestellt - durch die neue, differenzierende Begriffsprägung sowie den geschlechterübergreifenden Forschungsansatz.

Um zukunftsfähige Konzepte für das Ziel der Geschlechterdemokratie aufbauen zu können, bedient sich auch die Genderforschung zunächst des historischen Rückblickes, um erneute Fehlentwicklungen zu vermeiden und gleichzeitig bereits erzielte Erfolge zu erhalten und fortzuentwickeln.

1.3 Die historische Rechtsstellung der Frauen

1.3.1 Prolog: Patriarchat

Der Philosoph und Unternehmer Friedrich Engels (1820 - 1895) kam in seiner Schrift ‚Der Ursprung der Familie’ 1884 zu der fundamentalen Erkenntnis: „Der Umsturz des Mutterrechts war die ‚weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts’. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und bloßes Werkzeug der Kinderzeugung. Diese erniedrigte Stellung der Frau, … ist allmälig beschönigt und verheuchelt, auch stellenweise in mildere Form gekleidet worden; beseitigt ist sie keineswegs.“ (Engels, 1920, S. 42).

↓26

Erich Fromm (1900 - 1980), der Begründer der humanistischen Psychoanalyse und der analytischen Sozialpsychologie resümiert 1976 in seinem klassischen Werk ‚Haben oder Sein’ die Rolle der Frauen:

„Die Befreiung der Frauen von patriarchalischer Herrschaft ist eine fundamentale Voraussetzung der Humanisierung der Gesellschaft. Die Unterdrückung der Frau durch den Mann begann erst vor etwa sechstausend Jahren in verschiedenen Teilen der Welt, als die Erwirtschaftung von Überschüssen in der Landwirtschaft die Beschäftigung und Ausbeutung von Arbeitskräften, die Organisation von Armeen und die Entstehung mächtiger Stadtstaaten begünstigte.

Seit damals wurden nicht nur die Kulturen Europas und des Nahen Ostens, sondern auch fast alle übrigen Völker der Erde von den ‚vereinigten Männern‘ erobert, die die Frauen unterwarfen. Dieser Sieg des männlichen über den weiblichen Teil der Menschheit war in der wirtschaftlichen Macht der Männer und des von ihnen geschaffenen Militärs begründet.

↓27

Der Krieg zwischen den Geschlechtern ist ebenso alt wie der Klassenkampf, aber er hat kompliziertere Formen angenommen, da die Männer stets die Frauen nicht nur als Arbeitstiere brauchten, sondern auch als Mütter, Geliebte und Trostspenderinnen. Oft tritt der Geschlechterkampf offen und brutal zutage, häufiger wird er im verborgenen ausgetragen. Die Frauen mußten sich der Macht der Männer beugen, aber sie haben mit ihren eigenen Waffen zurückgeschlagen; ihre schärfste Waffe war, die Männer lächerlich zu machen.

Die Unterjochung der einen Hälfte der Menschheit durch die andere hat beiden Geschlechtern immensen Schaden zugefügt und tut dies weiterhin: Die Männer nahmen die charakteristischen Eigenschaften des Siegers, die Frauen die des Besiegten an. ...

Die ersten Schritte zur Befreiung wurden bereits unternommen. Vielleicht werden spätere Historiker feststellen, das revolutionärste Ereignis des 20. Jahrhunderts sei der Beginn der Frauenbefreiung und der Verfall der Vorherrschaft des Mannes gewesen. Doch der Kampf um die Befreiung der Frau hat eben erst begonnen, und der Widerstand der Männer ist nicht zu überschätzen. Ihre gesamte Beziehung zu Frauen basierte bisher auf ihrer angeblichen eigenen Überlegenheit. Jetzt haben sie angefangen, sich im Umgang mit Frauen, die dem Mythos von der männlichen Überlegenheit keinen Glauben mehr schenken, recht unbehaglich und ängstlich zu fühlen.“ (Fromm, 1992, S. 182ff.).

↓28

Dieser Kerngedanke Fromms benennt in kaum zu übertreffender Kürze und Deutlichkeit das meist tabuisierte Elend der Frauen und dringt auf Abhilfe.

„Auch das stillgelegte weibliche Geschlecht hat sich erhoben, leise murrend zuerst, inzwischen laut protestierend und mit unüberhörbarer verbaler Aggression Rechte einklagend, die ihm bisher vorenthalten wurden.“ (Pieper, 1993, S. 186).

Die Frauen selbst haben - oft unter Einsatz ihres Lebens - ihre Rechtlosigkeit öffentlich kritisiert und ihre Ziele definiert. Dabei ging es ihnen stets um die Anerkennung als Rechtsperson, als selbstständige Trägerin von Rechten und Pflichten.

↓29

Der ihnen in Gesetzgebung und Rechtsprechung zugedachte ‚besondere Schutz der Frau‘ und die Beistandschaft in Rechtsgeschäften erwiesen sich keineswegs als Privileg und Rechtswohltat, sondern stets als Bevormundung durch männliche Familienmitglieder.

Diese Widersprüchlichkeit ist Gegenstand der über mehrere Jahrhunderte geführten juristischen Diskurse, die eher selten die tatsächliche soziale Stellung und Handlungsmöglichkeiten der Frauen abbilden.

Auch zeigt sich in der Betrachtung der Rechtsstellung der Frauen zu beinahe jeder Zeit, dass die Veränderungen nicht unmittelbar mit den großen Zäsuren der Geschichte korrespondierten, vielmehr Ungleichzeitigkeiten im Sinne von Verspätungen ihre eigene Dynamik entfalteten. Oft sind neue Rechtsordnungen und frauenspezifische Regelungen erst als Antwort auf die Auflösung traditioneller Verhaltensnormen und Ordnungssysteme geschaffen worden.

↓30

„Von besonderem Interesse sind daher die Übergangszeiten und Brüche in den Selbstverständlichkeiten, vor allem in den Bereichen, in denen Frauen als Garantinnen für Sitte und Moral in besonderer Weise zur Verantwortung gezogen wurden.“ (Gerhard, 1997, S. 21).

Bei aller Widersprüchlichkeit, mangelnder Linearität und Kontinuität in der Geschichte der Rechtsstellung der Frau wird ihre Rolle durch die gesellschaftlichen Grundüberzeugungen von Vaterrecht, Geschlechtsvormundschaft und Naturrecht geprägt.

1.3.2 Väterliche Gewalt

Wie in fast allen patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen stand die Frau zur Römerzeit, ab dem 6. Jahrhundert vor Christus, mit dem Zwölftafelgesetz als ältester Rechtsquelle, lebenslang unter der Gewalt eines Mannes.

↓31

Aufgrund der ‚patria potestas‘, der väterlichen Gewalt, die dem Vater de iure unbeschränkte Herrschaft über Leben und Tod verlieh, waren dem Hausvater auch alle Vermögensgegenstände der Familie zugeordnet, die Kinder waren vermögens- und rechtsunfähig.

Nach dem Tod des Vaters blieb die erwachsene Tochter - im Gegensatz zum erwachsenen Sohn - unselbstständig, sie kam unter die Vormundschaft des nächsten männlichen Verwandten. Diese geschlechtsbezogene Vormundschaft ‚tutela mulieris‘ gab dem Vormund zwar nur noch begrenzte Gewalt über die Person der Tochter, beschränkte sie aber weiterhin in ihrer Handlungsfähigkeit. Geschäftsabschlüsse bedurften der Zustimmung des Vormundes.

„Durch die Eheschließung der Tochter allein änderte sich an den Gewaltverhältnissen, denen sie unterstand, zunächst nichts, das heißt, sie blieb weiterhin der ‚patria potestas‘ oder der ‚tutela mulieris‘ unterworfen, der Ehemann erwarb durch die bloße Eheschließung noch keine Gewaltrechte an seiner Frau. Allerdings konnten diese Herrschaftsverhältnisse durch Vereinbarung des Gewalthabers mit dem Ehemann durch ein spezifisch eherechtliches Gewaltverhältnis, die ‚manus‘ des Ehemanns ersetzt werden.“ (Holthöfer, 1997, S. 404). Diese ‚uxor in manu‘ hatte einen der Tochter vergleichbaren Status gegenüber ihrem Mann, sie war rechts- und vermögensunfähig.

↓32

Friedrich Engels 1884 über das römische Patriarchat: „Die erste Wirkung der nun begründeten Alleinherrschaft der Männer zeigt sich in der jetzt auftauchenden Zwischenform der patriarchalischen Familie. … Das Wesentliche ist die Einverleibung von Unfreien und die väterliche Gewalt; daher ist der vollendete Typus dieser Familienform die römische Familie. Das Wort ,familia’ bedeutet ursprünglich nicht das aus Sentimentalität und häuslichem Zwist zusammengesetzte Ideal des heutigen Philisters; es bezieht sich bei den Römern anfänglich gar nicht einmal auf das Ehepaar und dessen Kinder, sondern auf die Sklaven allein. ,Famulus’ heißt der Haussklave, und ,familia’ ist die Gesammtheit der einem Mann gehörenden Sklaven. … Der Ausdruck wurde von den Römern erfunden, um einen neuen gesellschaftlichen Organismus zu bezeichnen, dessen Haupt Weib und Kinder und eine Anzahl Sklaven unter römischer väterlicher Gewalt, mit dem Recht über Tod und Leben Aller, unter sich hatte. …

Um die Treue der Frau, also die Vaterschaft der Kinder, sicher zu stellen, wird die Frau der Gewalt des Mannes unbedingt überliefert: wenn er sie tödtet, so übt er nur sein Recht aus.“ (Engels, 1920, S. 42f.).

„An diesem, durch lebenslange Gewaltunterworfenheit gekennzeichneten Status der Frau traten jedoch schon in der späten Republik allmählich frauenfreundliche Änderungen ein, die im Laufe der folgenden rund siebenhundert Jahre bis zur justinianischen Kodifikation der Frau hinsichtlich ihrer privatrechtlichen Rechts- und Handlungsfähigkeit eine fast völlige Gleichstellung mit dem Mann brachten.“ (Holthöfer, 1997, S. 404).

↓33

Dies galt schließlich auch für das Personenrecht: die Frau konnte eine nicht unter väterlicher Gewalt stehende Person an Kindes statt annehmen oder eine Vormundschaft übernehmen. Nur die Prozessvertretung war ihr verschlossen wie auch - im Privatrecht - die Übernahme von Bürgschaften oder sonstiger Sicherungszusagen.

Die Grundlage hierfür bildete die von dem byzantinischen Kaiser Justinian (482 - 565) beauftragte, verbindliche Rechtssammlung ‚Corpus Iuris Civilis‘.

Die durchaus freie Stellung der Frau blieb überall dort erhalten, wo das justinianische Recht zur Anwendung kam: in Ostrom etwa bis zum Fall Konstantinopels 1453, und auch im Westen und Norden breitete es sich jahrhundertelang in weiten Teilen Europas aus, wobei es hier zunehmend auf regionale Rechtsgewohnheiten ganz anderer Traditionen stieß.

1.3.3 Geschlechtsvormundschaft

↓34

Das germanische Recht ging weit hinter diese fortschrittliche römische Rechtspraxis zurück. Wichtigste Quellen stellen die Stammesrechtskodifikationen der Völkerwanderungszeit und des Frankenreiches dar, vom westgotischen ‚Codex Euricianus‘ um 475 über die ‚Lex Alamannorum‘ um 715 bis zum ‚Lex Saxonum‘ aus dem Jahr 802. Obgleich von Klerikern in lateinischer Sprache aufgeschrieben, und somit bereits unter dem Einfluss kanonischen Rechtsdenkens, eignen sie sich als Quelle für die Rechtsstellung der Frau. Diese entsprach annähernd der des archaischen römischen Rechts.

Über die auch hier patriarchalisch geordnete Hausverfassung hinaus kam der Wehrverfassung besondere Bedeutung zu, da jeder Rechtsstreit in einen Waffengang münden und dieser nur von Wehrfähigen ausgetragen werden konnte.

„Alle anderen, die ‚durch ihre körperliche und geistige Beschaffenheit daran gehindert waren wie Kinder, Frauenzimmer, Geisteskranke und preßhafte Leute‘, waren auf die Vertretung durch einen Vormund angewiesen.“ (Gerhard, 1990, S. 151f.).

↓35

„Die Frau war also, weil nicht wehrfähig, auch nicht prozeßfähig, und aus demselben Grunde erschien auch eine privatrechtliche Handlungsfähigkeit der Frau als nicht vorstellbar. ...

So blieb die unverheiratete Frau auch im Erwachsenenalter unter der Vormundschaft (munt) ihres Vaters, an deren Stelle nach seinem Tod die Munt des nächsten männlichen Verwandten (Bruder, Onkel) trat. Bei der Eheschließung ging die Munt ‚ipso iure‘ auf den Ehemann über, nach dessen Tod fiel sie an die männliche Verwandtschaft der Frau zurück oder wurde von Agnaten des verstorbenen Mannes weitergeführt. Die ihres Geschlechts wegen begründete Vormundschaft über die erwachsene Frau bedeutete, ... daß sie handlungs- und prozeßunfähig war.“ (Holthöfer, 1997, S. 408).

Nach einer nahezu vierhundertjährigen Phase mangelnder schriftlicher Quellenproduktion entstand um 1230 mit dem ‚Sachsenspiegel‘ des Eike von Repgow ein langfristig geltendes Rechtsbuch, und diesem Vorbild folgend um 1270 der ‚Schwabenspiegel‘ sowie zu Beginn des 14. Jahrhunderts der ‚Frankenspiegel‘. Dem folgten Aufzeichnungen von Rechtsgewohnheiten und Sammlungen gerichtlicher Spruchpraxis und ab dem 16. Jahrhundert etwa begannen die Städte und Landesherren Stadtrechte und Landrechte in Form von Gesetzbüchern als Rechtsgrundlagen einzuführen.

↓36

Auch hier blieb die Rechtsstellung der Frau weitgehend den Germanenrechten verhaftet, ihr Minderstatus blieb erhalten, obwohl das Hauptargument - die Wehrunfähigkeit der Frau - nicht weiter zu rechtfertigen war (vgl. Dilcher, 1997, S. 63), da sich zunehmend auch waffenlose Stände gebildet hatten, wie Klerus, Stadtbürgertum oder Hintersassen.

Nur Unverheirateten und Witwen war es unter bestimmten Voraussetzungen möglich, die Munt mehr oder weniger abzustreifen. Auch Handels- und Geschäftstätigkeiten konnten von Frauen weitgehend selbstständig ausgeübt und vor Gericht vertreten werden.

„Die Ehefrau dagegen verharrte durchweg auch weiterhin unter der nun als ‚Vogtei‘ bezeichneten Schutzherrschaft des Mannes, obwohl das eheliche Verhältnis inzwischen nicht mehr herrschaftlich, sondern genossenschaftlich verstanden wurde. Ihren wesentlichen Inhalt hatte die Ehevogtei jetzt gerade in der gesetzlichen Vertretungsmacht über die Frau ...“ (Holthöfer, 1997, S. 412).

↓37

Der Rechtsstatus der Frau in Deutschland, insbesondere der verheirateten Frau, lag am Ende des Mittelalters weit hinter dem des römisch-justinianischen Rechts.

Als mit dem Gedankengut der Renaissance auch in Deutschland am römischen Recht geschulte Juristen in die Gerichte des Reiches, der Fürsten und der Städte einzogen, trafen sie dort auf die germanisch-mittelalterliche Rechtstradition, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen eher zu entsprechen schien. Die Durchsetzungskraft des liberalen römischen Rechts blieb in der Zeit von Renaissance und Humanismus, von Reformation, Gegenreformation und Absolutismus äußerst begrenzt.

„Im Gegenteil, der Zeitgeist der Frühen Neuzeit, der an ‚Finsternis‘ dem in vieler Hinsicht toleranteren Mittelalter jedenfalls nicht nachstand, nahm nun gewisse geradezu frauenfeindliche Züge an und verfestigte die Vorherrschaft des Mannes sowohl im Haus als auch in der Öffentlichkeit. So wurde auch das genossenschaftlich geprägte Ehebild des Spätmittelalters, das eine Rückbildung auch der ehelichen Vogtei durchaus vertragen und jedenfalls eine weitere Entfaltung der schon damals zu beobachtenden, in diese Richtung weisenden partikularrechtlichen Ansätze zur Folge gehabt hätte, durch das herrschaftliche des Frühabsolutismus ersetzt, welches die eherechtliche Gewalt, jedenfalls in zahlreichen Territorialrechten, wieder stabilisierte.“ (Holthöfer, 1997, S. 415f.).

↓38

Auch der spätmittelalterliche Emanzipationsprozess der unverheirateten Frau im deutschen Privatrecht kam zum Stillstand. Der allmähliche Abbau des Mundialprinzips, dieses ursprünglich umfassenden Gewaltverhältnisses, hatte nach den Vorstellungen des Zeitgeistes ein für die ‚Wohlfahrt‘ der Frau gefährliches Vakuum entstehen lassen, das es durch die Einführung einer Schutzaufsicht über das ‚schwache Geschlecht‘ wieder auszufüllen galt.

So wurde, nun auch begrifflich, die ‚cura sexus‘, die Geschlechtscuratel (vgl. Weber-Will, 1997, S. 453) oder Geschlechtsvormundschaft geschaffen, die für alle Frauen, ob verheiratet oder unverheiratet, galt und von Ehemännern, Vätern und sonstigen männlichen ‚Vertrauens’personen ausgeübt wurde.

Handels- und Gewerbefrauen konnten ihre Selbstständigkeit auf der Grundlage separater Handelsordnungen bewahren (vgl. Schötz, 1997, S. 153ff.).

↓39

„Auch als die Geschlechtsvormundschaft 1838 in Sachsen unter großer Aufmerksamkeit der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgehoben wurde ... ist sie doch für Ehefrauen ausdrücklich bestätigt worden.“ (Gerhard, 1990, S. 147).

Und eine andere Quelle: „Folglich blieb ihre politische Rechtlosigkeit auch nach der gesetzlichen Aufhebung der Geschlechtsvormundschaft - für ledige Frauen zuerst 1831 in Sachsen, für alle Frauen 1877 durch das Reichsgesetz zur Zivilprozeßordnung (§ 51) - bestehen.“ (Schmitter, 1996, S. 72).

So wenig geradlinig und kontinuierlich die Rechtsgeschichte der Frauen verlief, geprägt von regionalen und epochalen Divergenzen, unterschiedlichen Gesellschaftsströmungen und Rechtsauffassungen, von Verschweigen und Vergessen, von fragwürdigen Begründungen und in sich widersprüchlichen Beweisen - die Geschlechtsvormundschaft zieht sich als Prinzip bis ins Jahr 1977 und darüber hinaus.

↓40

Eine wesentliche Rolle in diesem Zusammenhang kam der Kirche und dem kanonischen Recht zu. „Die Kirchenväter, Theologen und Päpste haben ihre Macht und ihr Lehrgebäude in einem Jahrhunderte langen Ausschließungsverfahren auf die Ächtung des Weiblichen als Verkörperung Evas, der Sünde, triebhafter Natur, der Sexualität gegründet. ‚Das Weib ist ... ein minderwertiges Geschöpf, ... nicht nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen‘, dozierten die Kirchenväter oder wie Thomas von Aquin, sich auf Aristoteles beziehend, formulierte: es ist ‚ein mißbildeter Mann, eine entartete Varietät des Mannes‘.“ (Gerhard, 1990, S. 23).

Der Braunschweiger Wissenschaftler Hartmut Heuermann (*1941), Spezialist für die Erforschung religiös-kultureller Konflikte, kommt zu dem Schluss: „Das Skandalöse und Ironische daran: Nichts geht auf Christus bzw. die Evangelisten zurück. Nichts deutet darauf hin, dass ihm die Einrichtung eines christlichen Patriarchats wünschenswert erschien und er irgendein Interesse am Aufbau eines darauf gestützten Machtapparats hatte. ... Die Einsicht ist beschämend, aber unabweisbar: Nach der biblischen Urbestimmung hatte die Frau als sekundär, schwach, verführbar, sündhaft, unverständig, mangelhaft und minderwertig zu gelten - nicht weil diese Attribute ihrer Natur entsprächen (dafür gibt es keinerlei seriöse anthropologische oder psychologische Anhaltspunkte), sondern weil das männliche Geschlecht all diese Negativa in sie hineinprojizierte. Sie wurde das Opfer der wirksamsten und langwährendsten Ideologisierung, welche die Menschheitsgeschichte kennt.“ (Heuermann, 2005, S. 185).

Diese mit kirchlicher Macht verbreitete Frauenverachtung fand in den Hexenverfolgungen seit dem Ausgang des Mittelalters einen ihrer Höhepunkte (vgl. Ahrendt-Schulte, 1997, S. 199ff.). Der durch Hexenwahn und Teufelsglauben verfinsterte Rechtshimmel klärte sich für die Frauen erst mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wieder auf, als die Hexenprozesse allmählich abnahmen. „1728 wurde in Preußen noch ein letztes Mal eine Frau als Hexe verbrannt, auf dem Boden des Deutschen Reiches zuletzt 1775 in Kempten.“ (Gerhard, 1990, S. 26).

1.3.4 Naturrecht

↓41

Von seinen antiken und mittelalterlichen, scholastischen und kanonischen Vorgängern unterschied sich das klassisch-rationalistische Naturrecht des 16. bis 18. Jahrhunderts vor allem durch seinen Anspruch, die Grundlagen menschlicher Rechtsbeziehungen allein aus den Geboten der autonomen, sich selbst genügenden Vernunft zu deduzieren. Weder die Offenbarungsweisheiten der christlichen Religion noch historische Gewohnheit und bestehende Gesetze, sondern allein die Erforschung der Natur des Menschen nach dem methodischen Vorgehen der Wissenschaften konnte den einheitlichen Geltungsgrund aller rechtlichen Institutionen erbringen.

„Die neuzeitliche Naturrechtslehre, die in vielfacher Hinsicht an die kulturelle Tradition, die Soziallehren der griechischen Philosophie, an die Stoa und das christliche Naturrecht anknüpfte, leistete zunächst und vor allem anderen die Emanzipation aus kirchlicher Bevormundung, aus der Moraltheologie. Als Theorie, die mit allen bisherigen Autoritäten brach, mit den menschlichen wie den göttlichen, und nur die Vernunft als solche als Maßstab der Kritik anerkannte, versprach sie in der Tat Befreiung. Der Rekurs auf ein übergesetzliches, gerechtes Recht diente zur Begründung für die Verbesserung der konkreten gesellschaftlichen Zustände. Die Besonderheit der neuen Rechtslehre bestand darin, daß sie als Philosophie und Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie, daherkam und zunächst mit der zuständigen Disziplin, der Jurisprudenz wenig zu tun hatte. Andererseits aber beanspruchte sie, Rechtstheorie zu sein und damit Einfluß zu nehmen auf die Rechtsverhältnisse der Menschen. Ihre Methode entsprach den sich neu entwickelnden Naturwissenschaften.“ (Gerhard, 1990, S. 28).

Die Grundannahme der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen wurde Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen über Rechte und Pflichten der Individuen in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Auch die Ehe galt als bürgerlicher Vertrag, vorrangig zu dem besonderen Zweck der Fortpflanzung und Erhaltung des Menschengeschlechtes.

↓42

Das Naturrecht als säkulare Rechts- und Sozialphilosophie umfasste die Vertragsfähigkeit und damit die Selbstständigkeit der Frau als Rechtsperson.

Zumindest rhetorisch war somit der Rückbezug auf die Ausgangssituation der ursprünglichen Gleichheit der Geschlechter geboten. Diese Rückbindung entzog den traditionellen Erklärungen und Rechtfertigungen für weibliche Unterordnung, männliche Überlegenheit und Herrschaft sowie der biblischen Lehre von der fortwährenden Urschuld Evas die Legitimation.

Ferner blieb das Eheverhältnis mit der Bindung an das homogene Modell des zivilrechtlichen Vertrages in die normative Gesamtstruktur des Privatrechts einbezogen.

↓43

Diese bürgerliche Institution der Ehe stand allerdings im Spannungsfeld zwischen Privatfreiheit und öffentlichem Ordnungsinteresse, Vertragsfreiheit und staatlichem Regelungsanspruch.

„Hier ist zu bedenken, daß es allgemein dem Naturrecht des 17. Jahrhunderts noch nicht vorrangig um die Sicherung individueller Freiheitsrechte, sondern vielmehr darum ging, die in der Triebnatur des Menschen gegebenen ordnungsbedrohenden Tendenzen in einen umfassenden Katalog von Unterordnungs- und Gehorsamspflichten einzubinden. Als ‚Pflanzgarten des gemeinen Wesens‘ war die gesellschaftliche Verbindung von Mann und Frau sowohl das Fundament der gesellschaftlichen Ordnung als auch deren größte Bedrohung. Ebenso wie sich ... die triebhafte Aggressivität des Menschen als Quelle eines permanenten Kriegszustandes darstellte, so waren ... die sexuelle Promiskuität und die mit ihr verbundene Ungewißheit biologischer Vaterschaft, ja, aller legitimen Besitztitel schlechthin, die eigentliche Gefährdung einer ‚ehrbaren und ruhigen Gesellschaft‘. Die Furcht vor dem Zusammenbruch aller geordneten Verhältnisse in einer Situation, wo niemand ‚das seine erkennen‘ konnte, verband sich in der älteren Schule des Naturrechts - ebenso wie im römischen und primitiven germanischen Recht und noch im Entstehungskontext des französischen Code - einseitig mit dem Besitzanspruch des Mannes auf rechtmäßige Erben ... In diesem Argumentationszusammenhang trat der dinglich-possessive Kern der ehemännlichen Rechte an der Person der Frau unverstellt zutage: Ohne Genehmigung des Mannes durfte sie ‚nicht über Feld reisen oder absonderlich liegen oder ohne gültige Ursache ihres Leibes Gebrauch dem Manne verweigern‘.

In der Re-Konstruktion der ehelichen Herrschaft aus einem Vertragspakt freiwilliger Unterwerfung schien der naturrechtliche Ehebegriff jede kritische Distanz gegenüber dem positiven Recht einzubüßen. Hier, wie in der Rechtfertigung praktisch aller Institutionen der zeitgenössischen ständischen Gesellschaft, diente das Vernunftpostulat der natürlichen Gleichheit vornehmlich als Hilfsgerüst, die Vernünftigkeit bestehender Ungleichheiten zu demonstrieren.“ (Vogel, 1997, S. 271f.).

↓44

In der Form von Dispositionsgewalt und Nutzungsbefugnissen erstreckten sich die Rechte des Mannes an der Person der Frau aufgrund seiner „natürlich-männlichen Vorherrschaft“ (vgl. Floßmann, 1997, S. 302f.) auch auf ihr Eigentum im Güterrecht (vgl. Vogel, 1997, S. 277ff.).

Die hier nur im und durch den Ehevertrag legitimierte Unterwerfung der Frau müsste für die unverheiratete Frau zumindest nach der Theorie Gleichberechtigung mit dem Mann bedeuten. Dies war nicht der Fall, denn in der Rechtsprechung und bei der Konkretisierung naturrechtlicher Prinzipien wirkten Denkgewohnheiten und die Schwerkraft der traditionellen Vormacht und Gewalt im Geschlechterverhältnis als Gewohnheitsrecht nach.

Wurden auch unter den frühen Vertretern des Naturrechts Hugo Grotius (1583 - 1645), Thomas Hobbes (1588 - 1679), Samuel von Pufendorf (1632 - 1694), Christian Thomasius (1655 - 1728) und Christian von Wolff (1679 - 1754), vor allem in ihrer „Glücksmoral“ (vgl. Bloch, 1961, S. 336ff.), gesellschaftliche Rolle und rechtliche Stellung der Frau durchaus differenziert und mit unterschiedlichen Grundannahmen wie Ergebnissen gesehen, so einte sie doch das patriarchalische Interesse und bürgerliche Besitzdenken.

↓45

Die ‚geschlechtslose Vernunft‘ der frühen Aufklärung mündete schließlich in der anthropologischen Bestimmung der Frau als ‚Naturwesen‘ und für die Gesellschaft unentbehrliches ‚moralisches Geschlecht‘.

Nicht zuletzt das Weiblichkeitskonzept von Jean-Jacques Rousseau (1712 - 1778) brachte die entscheidende Rückwendung zur funktionalen Verschiedenheit der Geschlechter aufgrund natur- und vernunftbezogener Erklärung und damit zur Legitimation der Ungleichbehandlung und untergeordneten Rechtsstellung der Frau.

„Daraus folgt, daß die Frau besonders dazu geschaffen ist, daß sie dem Mann gefalle. Ob der Mann seinerseits gefalle, ist von weniger zwingender Notwendigkeit. Er gefällt durch seine Kraft allein. Das ist nicht das Gesetz der Liebe - das gebe ich zu -, aber es ist das Gesetz der Natur, und das ist das ältere von beiden. ...

↓46

Die ganze Erziehung der Frau muß in steter Rücksicht auf die Männer eingestellt sein. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, ihre Liebe und Achtung erwerben, sie in der Jugend aufziehen, für sie als Erwachsene sorgen, sie beraten, trösten, ihnen das Leben angenehm und süß machen, das sind zu jeder Zeit die Pflichten der Frauen, dazu muß man sie von Kindesbeinen an anleiten. ...

Nicht genug, sie müssen auch beizeiten an Zwang gewöhnt werden. ...

Denn die Abhängigkeit ist ein dem Weibe natürlicher Zustand; so fühlen sich die Mädchen selbst zum Gehorsam geschaffen. Es ist freilich nicht nötig, ihnen diese Abhängigkeit peinlich zu machen; es genügt, wenn sie sie fühlen.“ (Rousseau, 1956, S. 218ff.).

↓47

Zu Rousseaus eigenen Beziehungs- und Erziehungsleistungen äußert sich ein Biograf: „Weil er von den beiden wichtigsten Frauen seines Lebens eher mütterliche Fürsorge und sexuelle Befriedigung brauchte, konnte er eine eigene Familie nicht dulden, und so überließ er die fünf Kinder, die er mit Thérèse hatte, dem ungewissen Schicksal eines öffentlichen Waisenhauses.“ (Wokler, 1999, S. 12f.).

Durch Adolph von Knigge (1752 - 1796), „ein hochverschuldeter Kleinadliger, der unentwegt Pläne zur Verbesserung der Welt ausheckte“ (Saltzwedel, 2005, S. 205), wurde für die Nachwelt festgehaltener Tadel denjenigen Frauen zuteil, die sich nicht an das Weiblichkeitsideal halten wollten: „Wenden wir uns zu einer erhabenern Klasse von Frauenzimmern - zu den ‚gelehrten Weibern‘!

Ich muß gestehn, daß mich immer eine Art von Fieberfrost befällt, wenn man mich in Gesellschaft einer Dame ... setzt, die große Ansprüche auf Schöngeisterei, oder gar auf Gelehrsamkeit macht. Wenn die Frauenzimmer doch nur überlegen wollten, wieviel mehr Interesse diejenigen unter ihnen erwecken, die sich einfach an die Bestimmung der Natur halten ...“ (Knigge, o. J., S. 165).

↓48

Auch Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814), von starkem Rechtsempfinden und idealistischer Grundhaltung, „ein tiefgründiger und streitbarer Geist ..., der sich gegen alle Formen der Unmündigkeit, der Abhängigkeit, der Fremdbestimmtheit der menschlichen Persönlichkeit richtet“ (Seidel, 1997, S. 10), rechtfertigte in seiner ‚Grundlage des Naturrechts‘ die Unterwerfung der Frau und das Zwangsrecht des Mannes ausschließlich mit der Vernunft. Zur Begründung diente auch ihm die ‚Natur der Frau‘. Die Frau, „das zweite Geschlecht steht der Natureinrichtung nach um eine Stufe tiefer, als das erste; es ist Objekt einer Kraft des ersteren, ...“ (Fichte, 1979, S. 302).

„Das Weib gibt, indem sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht, ihre Persönlichkeit; sie erhält dieselbe, und ihre ganze Würde nur dadurch wieder, daß sie es aus Liebe zu dem Einen getan habe. ...

Das Geringste, was daraus folgt, ist, daß sie ihm ihr Vermögen und all ihre Rechte abtrete, und mit ihm ziehe. Nur mit ihm vereinigt, nur unter seinen Augen, und in seinen Geschäften hat sie noch Leben. Sie hat aufgehört, das Leben eines Individuums zu führen." (Fichte, 1979, S. 306).

↓49

„Gegenüber dem unverhohlenen und ‚plumpen‘ (Gertrud Bäumer) Sexismus in Fichtes Argumentation ist die feministische Auseinandersetzung mit Rousseau komplizierter. ... Rousseau’sche Begründungsmuster haben vor allem auch der bürgerlichen Jurisprudenz mehr als 200 Jahre zur Rechtfertigung normierter Ungleichheit für Frauen gedient.“ (Gerhard, 1990, S. 45).

Auch der Aufklärer Immanuel Kant (1724 - 1804) teilte und verfestigte die Theorien von der naturgegebenen Geschlechterhierarchie.

In seiner spröden ‚Rechtslehre‘ nahm er den Vertragscharakter der Ehe als Verhältnis von Gleichen durchaus ernst. Dieses ‚Eherecht‘ stand jedoch im Kontext seiner Ausführungen über ‚das Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt‘, ‚von dem auf dingliche Art persönlichen Recht‘ sowie die ‚Erwerbung durch Vertrag‘: „Die Erwerbung nach diesem Gesetz ist dem Gegenstande nach dreierlei: Der Mann erwirbt ein Weib, das Paar erwirbt Kinder und die Familie Gesinde. - Alles dieses Erwerbliche ist zugleich unveräußerlich und das Recht des Besitzers dieser Gegenstände das allerpersönlichste.“ (Kant, 1977, S. 389).

↓50

Die hierauf folgende wechselseitige Gebrauchsanweisung zur Beschreibung des Ehezweckes sprach der Frau zumindest ihre gleiche Würde nicht ab und offenbarte in dieser Hinsicht eine fortschrittlichere Haltung als Fichte.

Gleichwohl war die Frau im ‚Staatsrecht‘ lediglich ‚passiver Staatsbürger‘ und entbehrte der bürgerlichen Persönlichkeit, wie auch Gesellen, Dienstboten, Unmündige und „überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer ... genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten“ (Kant, 1977, S. 433).

„Noch bevor alle feudalen Fesseln gelöst, der ständische Patriarchalismus seine rechtsförmige Legitimation und materielle Basis ganz verloren hatte, war damit in der politischen Theorie am Ende des 18. Jahrhunderts eine explizit sexistische Formel für den Ausschluß der Frauen aus dem Kreis der Rechtspersonen und für ihre juristische Diskriminierung gefunden. Sie war sexistisch, weil sie nicht nur an Geschlechtsmerkmalen anknüpfte, die angeblich eine unaufhebbare biologische Grundlage haben, sondern weil sie in einem noch viel engeren Sinn das Sexualverhalten der Frau zur Grundlage rechtlicher Normierung und damit einer neuen politischen Theorie der Ungleichheit machte.“ (Gerhard, 1990, S. 47f.).

↓51

Auch die seinerzeit herrschende Zensurpraxis sei hier kurz zitiert, kann jedoch nicht zur Relativierung dieser misogynen Philosophie herangezogen werden. „Soweit der Geltungsanspruch der tradierten religiösen Dogmen und die Legitimität der bestehenden politischen Ordnung in Frage gestellt, die sensibelsten Gegenstände im Verhältnis zwischen Philosophie und Gesellschaft berührt wurden, sah sich Rousseau den gleichen Beschränkungen und Gefahren gegenüber, denen sich die Philosophen vor ihm ausgesetzt und unterworfen gesehen hatten: der Verweigerung der Druckerlaubnis, Streichungen oder Verstümmelungen des Textes von seiten des Zensors, dem Verbot und der Beschlagnahmung des Buches durch die Obrigkeit, schließlich, in Rücksicht auf die persönliche, öffentliche wie private Existenz, staatlichen Maßnahmen und gesellschaftlichen Pressionen vielfältiger Art, bis hin zur offenen Verfolgung durch die politischen und religiösen Autoritäten.“ (Meier, 1984, S. XXVI).

Die offensichtliche Antagonistik, insbesondere im Naturrecht, dem so genannten Vernunftrecht, zwischen dem Axiom der natürlichen Gleichheit und Freiheit aller Menschen und der daraus konstruierten Unterordnung der Frau in Recht und Gesellschaft überzeugte die Frauen zu keiner Zeit und musste daher wortreich verteidigt werden: „Die Frauen ihrerseits beklagen ständig, daß wir sie zu Eitelkeit und zur Gefallsucht erziehen; daß wir sie ständig mit Kindereien unterhalten, um leichter die Herren zu bleiben. Sie machen uns für die Fehler verantwortlich, die wir ihnen vorwerfen. Welche Torheit! Seit wann mischen sich denn die Männer in die Erziehung der Mädchen ein? Wer hindert denn die Mütter, sie zu erziehen, wie es ihnen gefällt? Sie haben keine Gymnasien (collèges)! Wie schrecklich! Wollte Gott, es gäbe auch für die Jungen keine! Dann wären sie bestimmt vernünftiger und sittsamer erzogen.“ (Rousseau, 1998, S. 392f.).

Das mangelnde Niveau dieser Logik begründete sich allein in der androzentrischen kollektiven Selbstsicherheit der Herrschenden und war daher als Grundlage einer im Kern befriedeten Gesellschaft nicht geeignet.

↓52

In Rousseaus wichtigstem Werk ‚Vom Gesellschaftsvertrag‘ erwies er sich als progressiver Vordenker eines demokratischen Gemeinwesens, der Unterwerfung ablehnte und stattdessen den gemeinsamen politischen Willen zum Zweck eines gesellschaftlichen Paktes, geregelt durch Gesetze, als Zielvorstellung formulierte. „Die Gesetze sind genau genommen nur die Bedingungen, auf welchen die bürgerliche Gesellschaft beruht. Das den Gesetzen unterworfene Volk muss deren Urheber sein.“ (Rousseau, 2000, S. 56). Im gesamten Werk kein Wort zur Lebenswirklichkeit der Frauen.

1.4 Die Ziele der Frauen

1.4.1 Menschen- und Bürgerrechte

Die Französische Revolution 1789 mit ihren Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war Ursprung und Hoffnung der entstehenden Frauenbewegungen in ganz Europa.

Das Volk forderte von König Louis XVI. ein Ende der Unterdrückung und politische Teilhabe an der Macht. Einfluss auf die Geschicke des Landes hatten nur Adel und Klerus als erster und zweiter Stand. Dieses Recht verlangte nun auch der dritte Stand, die Bürger.

↓53

„Wobei ... das Elend unter den Frauen am schlimmsten war. Ihre Rechtlosigkeit und Abhängigkeit, der Mangel an Schul- und Berufsbildung, der fehlende Zugang zu den Zünften, die Schwierigkeit, einen Erwerb außer Haus zu finden, der ihnen half zu überleben, und die schlechtere Bezahlung gegenüber den Männern verschärften die allgemeine Lage. Tausende wurden in die Prostitution getrieben, viele begingen Selbstmord, verhungerten mitsamt ihren Kindern oder überließen diese den Findelhäusern.“ (Schmölzer, 1999, S. 11f.).

Während der Französischen Revolution stürmten Frauen aller Schichten - erstmals als Gruppe, als soziale Bewegung - Versailles, um den König um Brot und Hilfe gegen die Preissteigerungen zu bitten. Auch unterstützten sie die Forderungen nach Anerkennung der Menschenrechtserklärung von 1789.

Traurige Berühmtheit erlangte die Schriftstellerin und gemäßigte Girondistin Olympe de Gouges (1748 - 1793) mit ihrer die allgemeine ‚Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte‘ erweiternden ‚Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin‘ (‚Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne‘) im Jahr 1791. Sie forderte den Zugang zu öffentlichen Ämtern für Frauen, die Gemeinschaftlichkeit des Eigentums in der Ehe, die Verbesserung der Lage der Frau durch ein staatliches Bildungswesen und das Wahlrecht für Männer und Frauen. Und auch sie berief sich auf Naturrecht und Vernunft.

↓54

„Zudem sind ihre Schriften ... frech und lustvoll zu lesen. Für sie sind öffentliches Elend und Korruptheit der Regierungen ein Produkt der Nichteinbeziehung der Frauen. Das weibliche Geschlecht ‚fühlt, dass sein Prestige nicht nur Gewalt über die Schwächen der Männer hat, deren Wünsche bald durch Verachtung ersetzt werden (...). Eine Revolution bereitet sich vor, die den Geist und die Seele des einen und des anderen Geschlechts anhebt, und alle beide werden in Zukunft am Gemeinwohl mitwirken.‘ ... Ohne Gleichheit der Geschlechter wird die Revolution zur Farce. ... Die widernatürliche Herrschaft der Männer über die Frauen komme aus psychologischen Quellen: männlicher Herrschsucht, Unwissenheit und Dummheit. Der Mann ‚extravagant, blind, von den Wissenschaften aufgeblasen und degeneriert, will er in diesem Jahrhundert der Aufklärung und Scharfsichtigkeit, doch in krassester Unwissenheit, despotisch über ein Geschlecht befehlen, das alle intellektuellen Fähigkeiten besitzt‘. ... Die Folge sei, dass Frauen wie Sklaven gehalten werden und sie daher als Sklaven über Männer zu herrschen beginnen. Diese doppelte Verkehrung kennzeichnet de Gouges als Inbegriff der allgemeinen Korruption, des Verfalls, der Zerrüttung. Aus der Position der Rechtlosigkeit entwickelte das weibliche Geschlecht sich nicht menschlich, sondern setzte hinterlistige Formen von Herrschaft durch. Seine Bildung wurde vernachlässigt. So wurden Frauen mehr schädlich als gut, ihre Politik heimlich, ihr Mittel die Einsetzung von Charme zur korrupten Macht über die Männer, ihre Waffe das Gift. Entsprechend verfolgt de Gouges keinen Opferdiskurs; sie denkt früh das Ineinander von Herrschaft und Unterdrückung bei Annahme einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter in Bezug auf Intelligenz, Fähigkeiten, Menschsein.“ (Haug, 2004, S. 15f.).

Sie wollte die Exekution des Königs verhindern und setzte sich stattdessen dafür ein, die Bürger selbst eine Regierungsform mit republikanischen, föderativen Grundzügen oder eine konstitutionelle Monarchie wählen zu lassen.

Für diese Kühnheiten wurde sie von den Jakobinern verhaftet und im November 1793 öffentlich guillotiniert.

↓55

Ihre ‚Erklärung‘, dieses „Dokument von ‚welthistorischer Bedeutung‘ ... wurde ganz einfach totgeschwiegen und ruhte fast 200 Jahre unbeachtet in den Pariser Archiven, bis es in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts von feministischen Historikerinnen wiederentdeckt wurde“ (Schmölzer, 1999, S. 13).

Erhalten geblieben über diesen langen Zeitraum sind allerdings ihre emanzipatorischen Kernaussagen in Artikel 1: „Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten“ sowie Artikel 10: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Sie muß gleichermaßen das Recht haben, die Tribüne (der Nationalversammlung als Schauplatz der Politik) zu besteigen.“ (Gerhard, 1990, S. 63; S. 263ff.; Böttger, 1990, S. 31; Hervé/Nödinger, 1999, S. 110).

Den Frauen, die zuvor auf den Barrikaden gekämpft hatten, wurde untersagt, an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen, oder gar auf ihnen zu reden, und mehr als fünf Frauen durften auf der Straße nicht mehr zusammenkommen. Die männlichen Bürger waren sich durchaus bewusst, dass sie somit vorsätzlich die Hälfte der Bevölkerung von den Errungenschaften der Revolution ausschlossen. Sie rechtfertigten dieses Unrecht - wie Talleyrand 1791 vor der französischen Nationalversammlung - als notwendigen Preis, wenn ein Verfassungsstaat das Glück möglichst vieler Menschen/Männer garantieren wolle.

↓56

„Auf diese Weise erklärt sich auch das scheinbare Paradox, daß das Jahrhundert, das den pathetischen Menschenrechtserklärungen der aufstrebenden bürgerlichen Nationen folgte, nämlich das neunzehnte, für den weiblichen Bevölkerungsteil eine Beschneidung von Rechten mit sich brachte, wie er sie zuvor nicht gekannt hatte.“ (Böttger, 1990, S. 18).

Napoleons Staatsstreich 1799 und seine Gesetzgebung im Code Civil 1804 erhoben den Gehorsam der Frauen gegenüber ihren Männern wieder zur Primärtugend. Als verheiratete Frauen gehörten sie zusammen mit Unmündigen, Kriminellen und Geistesschwachen zu den Personen ohne juristisches Recht.

„In dieser Hinsicht stattete der ‚Code Napoléon‘ jeden Ehemann mit außergewöhnlicher, beispielloser, ja despotischer Macht aus. Er konnte seiner Frau jeden Wohnort vorschreiben. Alles, was sie je besaß oder verdiente, wurde sein Eigentum. Bei einer Scheidung behielt er die Kinder, das Haus und alle Wertgegenstände, denn sie hatte keinerlei Recht auf den gemeinsamen Besitz. Bei einem Ehebruch drohten ihr zwei Jahre Gefängnis, während er nichts zu befürchten hatte. Den Französinnen ging es im finstersten Mittelalter besser als in der Zeit nach 1804, als Napoleons Code allgemeingültiges Recht wurde.“ (Miles, 1990, S. 250).

↓57

Das Napoleonische Recht galt in Teilen Deutschlands bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900. Fast überall in Europa blieben die Frauen von Freiheit, Eigentum und Gleichberechtigung mit den Männern ausgeschlossen. Auch das BGB änderte nichts an der bestehenden klassenübergreifenden Patriarchalisierung der Familie durch die Rechtsprechung, in der männliches und kapitalistisches Interesse zusammentrafen.

„Die ‚Hausfrauisierung‘ im Sinne der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bildete in der Folgezeit die Voraussetzung für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Herrschaft der Bürger-Patriarchen, die in vielen Aspekten bis heute besteht.“ (Schmölzer, 1999, S. 27).

Auch in England hatte die Entrechtung und Entmündigung der Frauen Ende des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht. Mary Wollstonecraft (1759 - 1797) ging 1792 mit ihrer Forderung ‚A Vindication of the Rights of Women‘, einer ‚Verteidigung der Rechte der Frauen‘ an die Öffentlichkeit. Diese Publikation erzielte sofort nach Erscheinen unerwartet hohe Nachfrage, „wurde ins Französische und Deutsche übersetzt und erlebte Auflagen in den USA. In nur sechs Wochen hat sich Mary (Wollstonecraft) die angestaute Wut von 30 Jahren von der Seele geschrieben und damit die erste feministische Theorie verfaßt, die Forderungen nach Frauenrechten mit den Forderungen nach einer zukünftigen freien Gesellschaft verknüpft.“ (Schmölzer, 1999, S. 73).

↓58

Ihr für die Zeit einzigartiges und radikales Werk entlarvte als Haupthindernis für die Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung die häusliche Unterdrückung und Erziehung, die Pflicht zu Gehorsam und den Männern zu gefallen. Ihr Buch ist ein Appell an die Vernunft, es fordert von Männern und Frauen die gleiche Tugendhaftigkeit, hergestellt durch Erziehung, in der Annahme, dass eine Gesellschaft, in der Vernunft und Tugend herrschen, Freiheit und Gleichheit ermögliche. Die Verweigerung von politischen Rechten sei Tyrannei, ebenso die wirtschaftliche Abhängigkeit von einem Mann in der Ehe. Frauen sind frei und gleich geboren, erst die Erziehung im Patriarchat weist ihnen die Rolle der Schwäche und Unterordnung zu. Weiblichkeit sei demnach also nur ein kulturelles Konstrukt.

Sie forderte bürgerliche Rechte und Pflichten auch für Frauen als rationalen, unabhängigen Wesen, geschützt durch ziviles Recht.

Sie forderte gemeinsame Erziehung und Ausbildung von Jungen und Mädchen, das Recht auf freie Berufswahl und -ausübung sowie die politische Vertretung.

↓59

Wollstonecraft ging 1792 nach Paris, „um die geliebte Revolution selbst zu erleben“ (Hervé/Nödinger, 1999, S. 281). 1797 starb sie bei der Geburt ihrer zweiten Tochter (vgl. Schmid, 1996, S. 342).

Ihre politische Weitsicht und ihre Forderungen sind bis in die Gegenwart richtungweisend geblieben. Seit dieser kathartischen Erkenntnis gingen die Frauenrechtlerinnen davon aus, dass die untergeordnete Stellung der Frau weder natürlich noch unvermeidlich ist, sondern durch einseitige gesellschaftliche Interessen geschaffen.

Diese zogen ihre Rechtfertigung seit 1859 aus den Erkenntnissen des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809 - 1882). Seine wichtigsten Werke ‚On the Origin of Species’ (Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl) 1859, und vor allem ‚The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex’ (Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl) 1871, wurden von den so genannten Sozialdarwinisten „auf soziale und gesellschaftliche Prozesse übertragen, um mit ihrer Hilfe zu Werturteilen über solche Prozesse zu gelangen“ (Hösle/Illies, 1999, S. 159).

↓60

Die evolutionsbiologischen Kategorien wurden reduziert auf die plakativen Exzerpte vom ‚Kampf ums Dasein‘, vom ‚Recht des Stärkeren‘ und der ‚natürlichen Auslese‘.

„Der sog. ‚Sozialdarwinismus‘ mit all seinen späteren, z. T. katastrophalen Auswirkungen sollte uns allen eine hinreichende Warnung sein. Der einfache Hinweis darauf, daß solche ‚Entgleisungen‘ mit dem Inhalt von Darwins Schriften nichts zu tun hätten, ist schlichtweg falsch, der kritische Leser kann sich davon gerade in der ‚Abstammung des Menschen‘ an zahlreichen Stellen überzeugen.“ (Vogel, 2002, S. XXV).

Diese Ambivalenzen zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und Deutung unter dem Einfluss des Zeitgeistes waren zwangsläufig Bestandteil seines Werkes wie auch seiner persönlichen Lebenshaltung. „Meistens seien es die Weibchen, die aus konkurrierenden Männchen auswählten, die sich oft in großer Zahl vor ihnen präsentierten und um ihre Gunst würben, und es sei keineswegs abwegig, ihnen dabei einen ästhetischen Geschmack zu unterstellen. Natürlich könnten wir nur durch einen Analogieschluß zu dem Ergebnis kommen, daß auch bei den Tieren die Weibchen ihre Partner wählten; aber der Bewohner eines anderen Planeten, der auf unserer Erde beobachtete, wie junge Bauern sich durch ihr Verhalten und ihre Kleidung um ein Mädchen bemühen, würde bei seinem Schluß, daß dies Mädchen eine Wahl ausübe, genau die gleiche Operation vollziehen.“ (Hösle/Illies, 1999, S. 128).

↓61

Bei seinen weiteren Beobachtungen und Überlegungen zu den ästhetischen Präferenzen und den damit verbundenen Reproduktionschancen bei Tier und Mensch erkannte er einen Widerspruch: „Was den Menschen betrifft, so hebt Darwin die Anomalie hervor, daß es hier die Frau ist, die sich schön macht, und schließt daraus, daß in den ältesten Gesellschaftsformationen die Frau keine Wahl ausüben konnte, sondern diese dem Manne zustand. Er erklärt dies u. a. mit der geistigen Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau, die für ihn evident ist - sicher einer der zeitgebundensten Abschnitte seines Werkes. Immerhin plädiert er für eine umfassende Erziehung der Frauen.“ (Hösle/Illies, 1999, S. 133).

„Und was ist mit Darwins Vorurteilen im höheren Alter? Er hielt Schwarze für minderwertig, fand jedoch Sklaverei abstoßend; er wies Frauen eine untergeordnete Rolle zu, war indes völlig abhängig von seiner respekteinflößenden Ehefrau.“ (Desmond/Moore, 1992, S. 13). „Dennoch führten Emma und Charles Darwin eine harmonische, ja glückliche Ehe. Sie respektierten einander mit einer Liebe, die gerade an den Widerständen wuchs; sie trennten sich nur sehr selten für wenige Tage voneinander; sie schätzten gleichermaßen den Wert häuslicher Geborgenheit und eines intakten Familienlebens; sie zogen gemeinsam eine große, wohlgeratene Kinderschar auf.“ (Schmitz, 1983, S. 47).

Auch die folgende Episode gehört in diesen Kontext: „Als Darwin sich eines Nachmittags eine sanfte Anhöhe hinaufschleppte, wurde er von einem Ruf gestoppt. Über eine ‚undurchdringliche Hecke‘ hinweg erblickte er ... die respekteinflößende Miss Cobbe, ihres Zeichens Frauenrechtlerin und Tierschützerin, die darauf brannte, ihm von John Stuart Mills emanzipatorischem Buch ‚On the Subjection of Women‘ zu erzählen. Es sei ideal für sein Studium der menschlichen Abstammung, rief sie ihm zu, insbesondere die Kapitel über die geschlechtliche Auslese. Darwin belferte zurück, daß Mill ‚einiges von der Biologie lernen könnte‘. Die Überlegenheit der Männer sei das Produkt des ‚Kampfes ums Dasein‘; ihre besondere ‚Kraft und ihren Mut‘ verdankten sie dem Kampf ‚um den Besitz der Frauen‘. Als sie das hörte, bot ihm Miss Cobbe ihr Exemplar von Kant über die ‚Moral‘ an, damit er sich über seine offenkundigen ethischen Probleme klarwerde. Er lehnte dankend ab.“ (Desmond/Moore, 1992, S. 645).

↓62

Der Kampf der europäischen Frauen um Menschen- und Bürgerrechte, ausgehend von den Idealen der Französischen Revolution, hat seine Entsprechung in den Vereinigten Staaten von Amerika in der Anti-Sklaverei-Bewegung.

Seit 1650 war die Sklaverei in Nordamerika offiziell gestattet und bestand auch nach der Unabhängigkeitserklärung vom britischen Mutterland 1776 fort - in den Nordstaaten bis 1804, in den Südstaaten bis 1865.

In gemeinsamer Betroffenheit begannen sich die schwarzen und weißen Frauen gegen Rassismus und Sexismus zu wehren, als sie erkannt hatten, dass nicht nur Hautfarbe, sondern auch Geschlecht als gesellschaftliche Ausschlusskriterien zur Etablierung und Festigung von Herrschaft benutzt wurden.

↓63

„Der Kongreß von Seneca Falls im Jahr 1848 wird heute oft als die Geburtsstunde der Frauenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten betrachtet. Die in Seneca Falls versammelten Frauen (und Männer!) legten ihre Grundsatzerklärung vor, die ‚Declaration of Sentiments‘, verfaßt nach dem Modell der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Die KongreßteilnehmerInnen forderten die Gleichstellung von Mann und Frau in der Ehe, in Eigentumsrechten, in Gehaltsfragen sowie im Sorgerecht für Kinder und im Wahlrecht. Die letzte Forderung galt dabei als die radikalste.“ (Rubart, 1990, S. 135f.).

Durch das Verbot der Sklaverei nach dem Sezessionskrieg (1861 - 1865) war die ‚Rassenfrage‘ politisch zunächst gelöst, die Rechtlosigkeit der Frauen blieb.

Die hier in Folge entstehende Suffragettenbewegung richtete ihr Hauptaugenmerk auf die Durchsetzung der Anteilnahme der Frauen am öffentlichen Leben durch das ‚suffragium‘, das Stimmrecht, um auf diesem Weg grundsätzlich Einfluss auf die politischen Entscheidungen in Rechts- und Gesellschaftsangelegenheiten zu erreichen. In Amerika erlangten „Schwarze … das Wahlrecht durch den 15. Verfassungszusatz im Jahr 1870, Frauen das ihre durch den 19. Verfassungszusatz 1920, ein halbes Jahrhundert später“ (Leibowich, 2008, S. 44).

↓64

Größeren Bekanntheitsgrad erlangte die britische Suffragettenbewegung in ihren bis 1914 andauernden Wahlrechtsbemühungen.

Der Kampf der amerikanischen, vor allem auch der europäischen Frauen um Menschen- und Bürgerrechte war von schnell vorübergehenden Erfolgen und langfristigen, tief greifenden Rückschlägen geprägt.

Die Strömungen des 19. Jahrhunderts brachten Erfolge vorrangig für die Männer: Befreiung aus dem ständischen Staat, Aufbau einer Bürgergesellschaft und erste Schritte zur Überwindung des Rassismus.

↓65

Mit der Industrialisierung, die die Männer aus dem häuslichen Handwerk in die Fabriken zog, verengte sich der Aktionsradius für die Frauen; das bürgerliche Modell der Arbeitsteilung begann und mit ihm die Teilung von bezahlter öffentlicher Arbeit gegenüber unbezahlter und privater. Deren Entwertung nahm zu, je mehr die Güterproduktion maschinell, also außer Haus erfolgte. Diese Privatheit wurde ideologisch gestützt durch die Gesellschaftstheorien von der vermeintlich natürlichen Bestimmung der Frau und deren juristische Festschreibung.

Als eine der wenigen hellsichtigen Analysen aus dunkler Zeit sei hier nochmals Friedrich Engels aus dem Jahr 1884 über die Rolle der Ehe in diesem Zusammenhang zitiert: „So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel weniger als ihre höchste Form. Im Gegentheil. Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andre, als Proklamation eines bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter. … Die Einzelehe war ein großer geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnet sie neben der Sklaverei und dem Privatreichthum jene bis heute dauernde Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt, in dem das Wohl und die Entwicklung der Einen sich durchsetzt durch das Wehe und die Zurückdrängung der Andern. Sie ist die Zellenform der civilisirten Gesellschaft, an der wir schon die Natur der in dieser sich voll entfaltenden Gegensätze und Widersprüche studiren können.“ (Engels, 1920, S. 52).

Und weiter über die Bedeutung der Ehe für die Gesellschaft: „In der alten kommunistischen Haushaltung, die viele Ehepaare und ihre Kinder umfaßte, war die den Frauen übergebne Führung des Haushalts ebensogut eine öffentliche, eine gesellschaftlich nothwendige Industrie, wie die Beschaffung der Nahrungsmittel durch die Männer. Mit der patriarchalischen Familie, und noch mehr mit der monogamen Einzelfamilie wurde dies anders. Die Führung des Haushalts verlor ihren öffentlichen Charakter. Sie ging die Gesellschaft nichts mehr an. Sie wurde ein ,Privatdienst’; die Frau wurde erste Dienstbotin, aus der Theilnahme an der gesellschaftlichen Produktion verdrängt. … Die moderne Einzelfamilie ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau, und die moderne Gesellschaft ist eine Masse, die aus lauter Einzelfamilien als ihren Molekülen sich zusammensetzt. … Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentirt das Proletariat.“ (Engels, 1920, S. 61f.).

↓66

Diese in allen Lebensbereichen manifestierte Ungleichheit der Geschlechter sperrte die Frauen endgültig im Haus ein und von allen öffentlichen Beteiligungen aus. Die Vervollkommnung von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ besiegelte vollends die Polarisierung der Geschlechtercharaktere.

„Am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich hatte sich diese Ideologie der den Geschlechtern durch Geburt innewohnenden polaren Charaktereigenschaften von Rationalität, Aktivität und Erwerbsgesinnung beim Mann und spiegelverkehrt Emotionalität, Passivität und häuslich-tugendhafter Gesinnung bei der Frau als herrschendes Leitbild sogar bis weit in die Arbeiterbewegung und Frauenbewegung hinein durchgesetzt.“ (Böttger, 1990, S. 32).

Aus einem solch beengten und isolierten Heim heraus war ein Kampf um allgemeine Menschen- und Bürgerrechte nicht zu führen. Die revolutionär gestimmtem Frauen konzentrierten sich daher auf die Wurzeln der Ungleichheit und setzten sich für Basisrechte ein: Frauenwahlrecht, Frauenbildung und Beteiligung der Frauen an der Gesetzgebung.

1.4.2 Frauenwahlrecht

↓67

„Während der revolutionären Monate 1848/49 besuchten Frauen Versammlungen, verfolgten in der Paulskirche die Verhandlungen, nähten Fahnen und kämpften vereinzelt auch auf den Barrikaden. ... Die Teilnahme der Frauen ... war ... so unübersehbar, daß die nun folgende allgemeine Einschränkung der politischen Rechte die Frauen ganz besonders traf.“ (Asche/Huschens, 1990, S. 171f.).

„Die Demokratin, Initiatorin und spätere Führerin der bürgerlichen Frauenbewegung Louise Otto reagierte auf diesen Widerspruch mit der Gründung der ‚Frauen-Zeitung‘ im Frühjahr 1849. ... Bis zu ihrem Verbot im Dezember 1850 bildete diese Zeitschrift gewissermaßen das Forum der zahlreichen Frauenvereine, die sich in den meisten Staaten des Deutschen Bundes gebildet hatten.“ (Schmitter, 1996, S. 72).

Das Vereinsgesetz von 1850 verbot die Anwesenheit von Frauen in politischen Versammlungen, Frauenvereine wurden aufgelöst. Da Frauen in keiner politischen Partei sein durften, waren sie nun gezwungen, die Männer zu überzeugen, die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in ihre Parteiprogramme aufzunehmen.

↓68

1891 forderte die SPD in ihrem ‚Erfurter Grundsatzprogramm‘ das ‚allgemeine, gleiche und direkte Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts‘ (vgl. Asche/Huschens, 1990, S. 172).

August Bebel (1840 - 1913), der Vorsitzende der SPD, hatte 1879 (Bebel, 1973, S. 21) sein viel beachtetes Werk ‚Die Frau und der Sozialismus‘ veröffentlicht, eine Kritik der Industriegesellschaft und des Klassenstaates, der Frauen und Arbeiter gleichermaßen entmündigt hat. Sie beginnt: „Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein. Die Formen dieser Unterdrückung haben im Laufe der Zeiten und in den verschiedenen Ländern gewechselt, aber die Unterdrückung blieb. Die Erkenntnis, unterdrückt zu sein, ist auch im Laufe der geschichtlichen Entwicklung öfter den Unterdrückten zum Bewußtsein gekommen und führte zu Änderungen und Milderungen ihrer Lage, aber eine Erkenntnis, die das eigentliche Wesen dieser Unterdrückung in ihren Ursachen erfaßte, ist bei der Frau wie bei dem Arbeiter erst das Resultat unserer Tage.“ (Bebel, 1973, S. 35). Aus dieser Überzeugung heraus unterstützte Bebel das Ringen der Frauen um politische Gleichberechtigung.

„Das Frauenwahlrecht, dessen Forderung 1876 in Hedwig Dohms Schrift ‚Der Frauen Natur und Recht‘ ausführlich dargestellt worden war, wurde auf der von bürgerlichen Frauen einberufenen Volksversammlung vom 2. Dezember 1894 in Berlin, in der die spätere Sozialdemokratin Lily Braun ihre historische Rede über ‚Die Bürgerpflicht der Frau‘ hielt ..., zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vorgetragen.“ (Schmitter, 1996, S. 72).

↓69

Gesellschaftlich blieb die Forderung umstritten; als abschreckendes Beispiel wurden die englischen Suffragetten hingestellt und die männlich unerwünschte Erscheinungsform der emanzipierten Frau.

1902 gründete sich in Hamburg der ‚Deutsche Verein für Frauenstimmrecht‘, da hier das Vereinsgesetz nicht galt. Das Selbstbewusstsein der Frauen wuchs, in der Überzeugung, dass auch Frauentätigkeiten soziale und staatspolitische Leistungen darstellten.

Dem entgegen stand bis 1918 das weit verbreitete, an Steuerzahlung und Steuerklassen gebundene Dreiklassenwahlrecht sowie eine deutsch-nationale, überwiegend konservative Weltanschauung.

1.4.3 Frauenbildung

↓70

Die allgemeine Schulpflicht bestand im Land Preußen seit 1717, seit 1763 auch für Mädchen. Jungen und Mädchen besuchten die Volksschulen, während die Höheren Schulen auch im 19. Jahrhundert - trotz der von Wilhelm von Humboldt (1767 - 1835) getragenen Bildungsreform - noch weitgehend den Jungen vorbehalten blieben.

Die wenigen, so genannten ‚Höheren Töchterschulen‘ gingen meist auf private Initiativen zurück und entsprachen im unterrichtlichen Niveau weitgehend den Mittelschulen.

„Nach der Konferenz der Mädchenschulpädagogen, die 1872 in Weimar stattfand, sollte sich die höhere Mädchenbildung an den Interessen des zukünftigen Ehemannes orientieren ... und die Schule, die von diesem Ziel abwich, als Mittelschule eingestuft werden.“ (Schmitter, 1996, S. 53).

↓71

Diese Mädchenschulen sollten „in eine Organisation gefaßt werden ..., ‚welche auf die Natur und Lebensbestimmung des Weibes Rücksicht nimmt‘. Die berühmte Begründung dieser These, ganz dem Gedankengut Rousseaus verhaftet, die Helene Lange später ‚mit unglaublicher Verblüffung‘ las, lautete so:

‚Es gilt, dem Weibe eine der Geistesbildung des Mannes in der Allgemeinheit der Art und der Interessen ebenbürtige Bildung zu ermöglichen, damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau am häuslichen Herde gelangweilt und in seiner Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde, daß ihm vielmehr das Weib mit Verständnis dieser Interessen und der Wärme des Gefühls für dieselben zur Seite stehe.‘

Die Lebensbestimmung der Frau? Hier traten die fundamentalen Unterschiede in der Betrachtung klar zutage ...“ (Frandsen, 1999, S. 47f.).

↓72

Der Lehrerin Helene Lange (1848 - 1930), einer führenden Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, ist es zu verdanken, dass ab 1893 zum Abitur führende Gymnasialkurse für Mädchen angeboten wurden (vgl. Heinsohn, 1996, S. 151).

„Eine Studienmöglichkeit gab es für Frauen in Deutschland jedoch in jener Zeit immer noch nicht.

1893 wurde wiederum eine Petition mit 60.000 Unterschriften zum Frauenstudium abgelehnt, nicht anders geschah dies 1894 (und das war nun schon die vierte Petition in dieser Sache). - Die bürgerliche Frauenbewegung ... legte also eindeutig den größten Wert auf die Verbesserung der Mädchen- und Frauenbildung, um fähig zu werden, über neue Pflichten auch neue Rechte zu gewinnen.“ (Nave-Herz, 1997, S. 25).

↓73

Zu groß waren die Vorurteile gegen Akademikerinnen. „Es fehlt dem weiblichen Geschlecht nach göttlicher und natürlicher Anordnung die Befähigung zur Pflege und Ausübung der Wissenschaften und vor allem der Naturwissenschaften und der Medicin. Die Beschäftigung mit dem Studium und die Ausübung der Medicin widerstreitet und verletzt die besten und edelsten Seiten der weiblichen Natur, die Sittsamkeit, die Schamhaftigkeit, Mitgefühl und Barmherzigkeit, durch welche sich dieselbe vor der männlichen auszeichnet.“ (zit. nach Glaser, 1996, S. 300). Diese Ansicht vertrat 1872 Theodor von Bischoff, ein im In- und Ausland anerkannter Wissenschaftler.

Und der Leipziger Psychiater Paul Julius Möbius (1853 - 1907) äußerte sich im Jahr 1900 wissenschaftlich ‚Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes‘. Als Beweis dienten Vergleiche mit Tieren und Kindern, vermeintliche Beobachtungen und allgemeine Volksweisheiten der Zeit, sowie vor allem Rückschlüsse aus Größe und Gewicht von Männer- und Frauengehirnen. Seine im Original nur 26 Seiten umfassende Schrift machte unverzüglich etliche Neuausgaben erforderlich, jeweils ergänzt um die von Wissenschaftlern und Frauen zahlreich publizierte Kritik und Widerlegung seiner Thesen. Streckenweise sehr erfrischend äußerte sich die Philosophin Hedwig Dohm (1831 - 1919) im Anhang zur sog. 3. Auflage: „Nachdem der schöne alte Herr Möbius dem Weibe die lange Liste ihrer tierähnlichen Qualitäten entrollt hat, setzt er mit goldiger Naivität hinzu: ‚Sehen wir uns auch genötigt, das normale Weib für schwachsinnig zu erklären, so ist damit doch nichts zum Nachteil des Weibes gesagt.‘ Kleiner Schäker!“ (Möbius, 1901, S. 84).

1896 wurden erste Gasthörerinnen an preußischen Universitäten zugelassen und 1907 waren nur sieben deutsche Universitäten bereit, Studentinnen zu immatrikulieren.

↓74

„Das Deutsche Reich, das Land der Dichter und Denker, bildete in dieser Beziehung also ein Schlußlicht. Offenbar fürchtete gerade das deutsche Bildungsbürgertum zuviel zu verlieren und wollte diese einzige Grundlage seines gesellschaftlichen Einflusses vorerst keineswegs mit den Frauen teilen.“ (Gerhard/Wischermann, 1990, S. 140).

Und viele Jahre später: „Die Universität wurde vor allem wegen ihrer Benachteiligung angehender Wissenschaftlerinnen kritisiert. Die seit der Mitte des Jahres 1994 amtierende Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts wies in ihrem Vortrag ‚Der aufhaltsame Aufstieg der Frauen in der Wissenschaft‘ ... darauf hin, daß Frauen auf den oberen Ebenen der universitären Hierarchie noch immer am geringsten vertreten seien. Sie wies nach, daß die Ursachen für diesen Zustand in den Strukturen eines auf männliche Berufsbiographien zugeschnittenen Wissenschaftsbetriebs liegen.“ (Schmitter, 1996, S. 53f.).

Die Widerstände gegen Frauenstudium und Frauenwissenschaft waren von Beginn an erheblich und begründeten sich aus den Überzeugungen der Epoche, aus Tradition und Kenntnisstand. Es ging auch hier um geistige und körperliche Schwäche der Frau, Ablenkung von ihrer vermeintlich naturgegebenen Bestimmung, Vernachlässigung ihrer ‚eigentlichen‘ Pflichten und vor allem um den drohenden Verlust der männlich definierten Weiblichkeit.

↓75

Bis hierhin trifft man auf die langen Schatten von Rousseaus Bildungsroman ‚Emile oder Über die Erziehung‘ und dessen willfährige Adaption in den Wissenschaften.


Die in den vorangegangenen Kapiteln in Schwerpunkten skizzierten Ziele der Frauen stehen exemplarisch für ein universales Erfordernis zur Normalisierung ihrer gesellschaftlichen Situation.

„Die Stellung der Frauen in der modernen Gesellschaft wurde erst in dem Moment zu einem öffentlich diskutierten Thema, als Frauen daran Kritik übten. Ihr Protest gegen Diskriminierung und Unterdrückung, in Deutschland seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Vereinen und Zeitschriften organisiert, machte auf etwas aufmerksam, das bis dahin mehr oder weniger erfolgreich verdrängt worden war: die prinzipiell ungleichen Lebenschancen von Frauen und Männern in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Daß Frauen nicht an politischen Wahlen teilnehmen durften, daß sie keine staatsbürgerlichen Rechte besaßen, daß ihre Erwerbsarbeit schlechter entlohnt wurde als die von Männern, daß sie viele Berufe nicht ergreifen, viele Schulen nicht besuchen konnten und zu Universitätsstudien nicht zugelassen waren - all das galt so lange als selbstverständlich, wie sich niemand daran störte. ...

↓76

Allenfalls bewogen sie die Verteidiger des Status quo dazu, ihn argumentativ zu rechtfertigen. Ein Wandel trat erst dann ein, als ... die Einzelstimmen sich zu einem Chor zusammenfanden und ihr Anliegen vielstimmiger und lautstärker in die Öffentlichkeit trugen.“ (Frevert, 1999, S. 52).

1.5 Die Erfolge der Frauen

Das Ziel einer partnerschaftlichen Gesellschaft stets vor Augen, haben die Frauen nichts unversucht gelassen - privat und öffentlich, angepasst und radikal, bürgerlich und proletarisch, als Einzelkämpferinnen und in politischen Vereinen - , die herrschende Definition und Zuweisung der Geschlechterrollen transparent zu machen, um ein von beiden Geschlechtern entworfenes und akzeptiertes Menschenbild als Lebens- und Rechtsgrundlage herzustellen. Kein öffentliches Rede- und Versammlungsverbot, keine Missachtung und Lächerlichmachung, kein Hohn und Spott konnte sie von ihrer Überzeugung abbringen, allenfalls behindern.

Und vieles wurde durchaus erreicht: das Frauenwahlrecht in Deutschland 1918, erstmals praktiziert 1919, die Zugangsberechtigung zu Höheren Schulen und in die Universitäten. Ab 1918 war auch Frauen die Dozentur erlaubt, ab 1920 die Habilitation (vgl. Wagner-Link, 1997, S. 7).

1.5.1 Prolog: Bürgerliches Gesetzbuch 1900

↓77

Das Inkrafttreten des ‚Bürgerlichen Gesetzbuches‘ im Jahr 1900 vollendete eine seit 1873 eingeleitete Jahrhundertaufgabe der Reichsgesetzgebung zur Vereinheitlichung des in viele Rechtsgebiete und Rechtsquellen zersplitterten Privatrechts in Deutschland (vgl. Leipold, 1999, S. 19f.).

„Die unverheiratete volljährige Frau oder die Witwe hatten - jedenfalls seit der Aufhebung der noch in einigen Ländern bestehenden Geschlechtsvormundschaft - generell eine wesentlich selbständigere Position; privatrechtlich, nicht allerdings hinsichtlich ihrer staatsbürgerlichen Rechte, waren sie den Männern nahezu gleichgestellt.“ (Dölemeyer, 1997, S. 634).

Nach der BGB-Reform „ist als Fazit ... zu konstatieren, daß die Normen über den Status der Ehefrau, definiert in ihrer Stellung zu Ehemann und Familie und auch im wesentlichen begrenzt durch diese, ... zwar einige Änderungen erfahren haben (teils zum Besseren - teils zum Schlechteren), daß die Gesamtauffassung von der Rollenverteilung in Ehe und Familie aber konstant war“ (Dölemeyer, 1997, S. 658).

↓78

Die Geschlechtsvormundschaft - nun ehemännliche Vormundschaft - über die Ehefrau blieb in Deutschland erhalten, im Gegensatz zu den Festlegungen im sonstigen europäischen Recht.

„Die vom Gesetzgeber garantierte Geschäfts- und Prozeßfähigkeit der Ehefrau - ‚Symbol seiner modernen Frauenauffassung‘ - steht angesichts der Wirklichkeit der Verwaltungsgemeinschaft nur auf dem Papier. An der Rolle des Ehemannes als Vormund der Frau, an der ‚cura maritalis‘ alten Stils, hat sich durch das BGB wenig geändert - die ehemännliche Autorität und Entscheidungsgewalt wird weiterhin zum ‚Palladium der Ehe‘ erhoben.“ (Buchholz, 1997, S. 680).

Diese Reform, von Rechtswissenschaft und Politik als ‚Manifest liberaler Rechtskultur‘ gefeiert, mit dem ‚die deutsche Nation nicht nur die formelle Rechtseinheit der privatrechtlichen Beziehungen, sondern auch Gerechtigkeit und Wohlfahrt‘ gewährleistete, wurde von den Frauen, der ‚größeren Hälfte des Volkes‘, schon damals als unwürdig, als unzeitgemäß und kulturhemmend verworfen.

↓79

Neben den Fragen zum Verwaltungs- und Nutznießungsrecht des Ehemannes an Person und Vermögen seiner Frau sowie den umfassenden Rechten des Mannes an ehelichen wie unehelichen Kindern, war es vor allem das „Entscheidungsrecht des Ehemannes ‚in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten‘, ein die Handlungs- und Geschäftsfähigkeit aller verheirateten Frauen beschränkender ‚Gehorsamsparagraph‘, der als § 1354 BGB bis 1953 geltendes Recht war“ (Gerhard, 1990, S. 118).

„Alle für Frauen seither errungenen Rechtsfortschritte im Privatrecht, vom ersten Gleichberechtigungsgesetz aus dem Jahr 1957 bis zur Ehe- und Familienrechtsreform von 1977, sind in diesem Sinne nur ‚Abschlagszahlungen‘ auf die Forderungen der radikalen Frauenbewegung um 1900.“ (Gerhard, 1990, S. 120).

Da die Rechtsvereinheitlichung durch das BGB im Hinblick auf die Frauen in enttäuschender Weise bei den traditionellen Normen blieb, von Selbstbestimmung und Gleichberechtigung keine Rede war, konnte eine Befriedung in der so genannten Frauenfrage nicht erwartet werden. Die elementaren Rechte der Frauen blieben Vision, jedoch ungebrochen ihr Wille, diese zu erreichen.

↓80

Neben den vielen weltweit engagierten Frauen des öffentlichen Lebens und den Protagonistinnen der zweiten Frauenbewegung ab den 1970er Jahren sind es vor allem zwei Persönlichkeiten, die die rechtliche und gesellschaftliche Situation der Frauen im 20. Jahrhundert grundlegend und bis heute wirksam geprägt haben: Elisabeth Selbert und Simone de Beauvoir. Langjährig in Vergessenheit geraten, erfahren sie gerade durch die Genderforschung erneute Aufmerksamkeit und nun auch den angemessenen Platz in der Geschichte.

1.5.2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“

Die Frauen, die bis zur Erschöpfung im und nach dem Zweiten Weltkrieg das Überleben gesichert, die Trümmer nicht nur praktisch, sondern auch politisch beseitigen halfen und den Wiederaufbau zum Teil auf wichtigen Posten organisierten, wurden mit der Rückkehr der Männer aus Krieg und Gefangenschaft wiederum ins zweite Glied gedrängt. Als Überhöhung aller bisherigen Frauenbilder wirkte nun auch noch die Mütterlichkeitsideologie des Nationalsozialismus nach und manifestierte sich ab den 1950er Jahren als Heim- und Herd-Ideal.

„Wenn Frauen in den fünfziger Jahren wissen wollten, wie ihr Ehemann zu behandeln sei, mussten sie nicht lange überlegen. Einschlägige Handbücher gaben den Leserinnen praktischen Rat.

↓81

,Machen Sie die Kinder schick’, mahnte etwa ein Leitfaden von 1955. ,Vermeiden Sie jeden Lärm. Ermahnen Sie die Kinder, leise zu sein. Wenn er nach Hause kommt, lassen Sie ihn zuerst erzählen - und vergessen Sie nicht, dass seine Gesprächsthemen wichtiger sind als Ihre. Schieben Sie ihm sein Kissen zurecht, und bieten Sie ihm an, seine Schuhe auszuziehen. Sprechen Sie mit leiser, sanfter und freundlicher Stimme. Denken Sie daran: Er ist der Hausherr. Sie haben kein Recht, ihn in Frage zu stellen!’

Jene Frauen, die diese Rezepte beherzigen sollten, hatten noch wenige Jahre zuvor ihre Familien allein versorgt, ohne ihre Männer. Die Frauen, deren Dasein nun vornehmlich darauf abzielen sollte, dem Gatten ein behagliches Heim zu schaffen, hatten in bis dahin unbekannter Selbstbestimmung wesentlich dazu beigetragen, einen ganzen Staat wieder aufzurichten. …

Zur Stunde null sind fast 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland weiblich.“ (Theile, 2006, S. 78).

↓82

Das geltende Familienrecht und die schleppende Umsetzung eines Gleichberechtigungsgesetzes begünstigten die Hausfrauenehe. Der Ehemann konnte den Arbeitsplatz der Ehefrau gegen ihren Willen kündigen, er verfügte allein über ihr Vermögen und selbst in ihrer Domäne als Hausfrau und Mutter hatte die Frau kaum Rechte, sondern ausschließlich Pflichten. Bei Beamtinnen galt Heirat als Entlassungsgrund (vgl. Meyer, 1989, S. 37).

Der Parlamentarische Rat, eine 1948 von den elf Landtagen der westlichen Besatzungszonen Deutschlands gewählte Versammlung zur Beratung und Formulierung des Grundgesetzes bestand aus 65 Abgeordneten (vgl. Botzenhart, 1993, S. 201ff.), darunter „nur vier Frauen“ (Eschenburg/Benz, 1983, S. 486).

„Weder die Juristin Elisabeth Selbert noch ihre aus der Sozialarbeit kommende SPD-Genossin Frieda Nadig waren bescheidene Naturen. Und schon gar nicht sanftmütig zu nennen war die große alte Dame christlicher Politik, Helene Weber, die als 68jährige in Deutschland schon zum zweiten Male die Anfänge parlamentarischer Arbeit mitbestimmte, da sie bereits 1919 in Weimar der Nationalversammlung angehört hatte, damals als Mitglied der Zentrumspartei. Ihre Kollegin, die katholische Fürsorgerin Helene Wessel, wird ebenfalls als energisch, mutig und kämpferisch beschrieben. Auch sie verfügte im Parlamentarischen Rat über legislative Vorerfahrungen: von 1928 bis 1933 war sie als 30jährige Zentrumsabgeordnete im Preußischen Landtag.

↓83

Ohne Zweifel steht hier Elisabeth Selbert im Vordergrund, deren Weg als Sozialdemokratin, Juristin und Verfechterin der Gleichberechtigung besonders interessant ist.“ (Meyer, 1989, S. 37).

„Nur 34 Tage nach der feierlichen Unterzeichnung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), am 22. September 1896, wurde Elisabth Rohde in Kassel geboren. Ihr Leben sollte in Zukunft aufs engste mit diesem fast gleichaltrigen Gesetzeswerk verbunden sein. Sie brachte schließlich - über fünfzig Jahre später - den Stein zur Reform des BGB ins Rollen.“ (Limbach, 1999, S. 239).

Nach Abschluss der Höheren Handelsschule wurde sie zunächst Auslandskorrespondentin und nach Kriegsbeginn Beamtenanwärterin bei der Post. Motiviert durch ihren späteren Ehemann, Adam Selbert, Vorstandsmitglied des Kasseler Arbeiter- und Soldatenrates, trat sie 1918 der SPD bei. Partnerschaftlich teilten sie Zeit und Verantwortung für die vierköpfige Familie, für berufliche und politische Arbeit. Sie holte das Abitur nach und schloss - trotz Familie - nach nur sechs Semestern das Jurastudium ab, Promotion 1930 in Göttingen.

↓84

Als eine der letzten Frauen erhielt sie die Zulassung zur Anwaltschaft, bevor 1934 auch dieser Beruf für Frauen von den Nationalsozialisten gesperrt wurde. 1945 erlangte sie die Zulassung als Notarin (vgl. Böttger, 1990, S. 123).

„Der Niedersächsische Landtag entsandte Elisabeth Selbert 1948 in den Parlamentarischen Rat ... Elisabeth Selbert entschied sich dafür, an der Ausgestaltung der Justizgrundrechte und der Organisation der Rechtsprechung mitzuwirken, denn nach ihrer Erfahrung mit der Justiz im Nationalsozialismus hielt sie es für besonders wichtig, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gedanken der Gewaltenteilung zur Geltung zu verhelfen. ...

Mit dem Gleichheitsgebot beschäftigte sich der Ausschuß für Grundsatzfragen. Die Teilnahme an diesem Gremium hielt Elisabeth Selbert nicht für notwendig, weil sie glaubte, ‚daß die Festschreibung der Gleichberechtigung der Frau in der Verfassung ganz selbstverständlich sei, nachdem die Frauen so viel geleistet hatten in zwei Weltkriegen und ihre Gleichstellung im gesellschaftlichen Leben ja längst praktisch und faktisch anerkannt war‘. Doch die Mitglieder des Ausschusses hatten sich ... nicht dazu entschließen können, die generelle Gleichberechtigung von Frauen und Männern in den Grundrechtskatalog aufzunehmen.“(Limbach, 1999, S. 239).

↓85

Der aus der Weimarer Reichsverfassung übernommene Artikel 109, Absatz 2, lautete: ‚Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten‘ (vgl. Langer, 1985, S. 74).

„Im zuständigen Ausschuß für Grundsatzfragen buchstabierte man ... die Gleichberechtigung von Mann und Frau so: ‚Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muß Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln. Jedoch dürfen die Grundrechte nicht angetastet werden.‘ Mit dieser Formulierung wäre in Gesetzgebung und Rechtsprechung eine Gleichbehandlung der Geschlechter in weite historische Ferne gerückt.“ (Meyer, 1989, S. 38).

Mit der Anwendung des „formalen Prinzips der Gleichbehandlung von Gleichen und der Ungleichbehandlung Ungleicher hatte bereits Aristoteles den Ausschluß von Sklaven und Frauen von den Staatsbürgerrechten begründet“ (Degener, 1997, S. 871).

↓86

Das Recht zur Ungleichbehandlung der Geschlechter wegen ‚eigenartiger‘ Ungleichheit sollte also festgeschrieben bleiben, um auch im Privatrecht keinerlei Änderungen vornehmen zu müssen.

Eine grundsätzliche Verbesserung der Rechtsstellung der Frau war jedoch das Anliegen von Elisabeth Selbert. Ihr Antrag, den es zunächst in der eigenen Fraktion durchzusetzen galt, lautete uneingeschränkt: ‚Männer und Frauen sind gleichberechtigt‘. Sein Anliegen war, die Gleichberechtigung eindeutig formuliert und als Grundrecht durchzusetzen, mit bindender Wirkung für Gesetzgebung, Exekutive und Rechtspflege (vgl. Langer, 1985, S. 74).

Er war unter Hinweis auf ein zu erwartendes Chaos und Rechtsvakuum, vor allem im Privatrecht, abgelehnt worden. Dort nämlich ging es im Familienrecht immerhin um „das eheliche Güterrecht, welches die Ehefrau nicht an dem in der Ehe durch den erwerbstätigen Mann erzielten Vermögen teilhaben ließ; das Namensrecht, welches allein den Nachnamen des Mannes als Familiennamen zuließ; und schließlich die Entscheidungsmacht des Ehegatten in familiären Angelegenheiten“ (Limbach, 1999, S. 241). Ferner um die im Gesetzbuch festgeschriebene Pflicht der Ehefrau, den Haushalt zu führen, sowie das Recht des Ehemannes, ein von der Frau begründetes Dienstverhältnis zu kündigen.

↓87

„Mit Entschiedenheit verteidigt Elisabeth Selbert jedoch die Selbstverständlichkeit der Gleichberechtigung vor dem Parlamentarischen Rat nach ihrer ersten Niederlage: ‚Ich kann bei dieser Gelegenheit erklären: in meinen kühnsten Träumen habe ich nicht erwartet, daß der Antrag im Grundsatzausschuß abgelehnt werden würde. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß man heute weiter gehen muß als in Weimar und daß man den Frauen die Gleichberechtigung auf allen Gebieten geben muß. Die Frau soll nicht nur in staatsbürgerlichen Dingen gleichstehen, sondern muß auf allen Rechtsgebieten dem Mann gleichgestellt werden. Die Frau, die während der Kriegsjahre auf den Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.‘ Dann schlug sie vor, daß dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31. März 1953 eingeräumt werde zur Anpassung des Bürgerlichen Gesetzbuches an das Grundgesetz. Und sie schloß mit einer Warnung: ‚Sollte der Artikel in dieser Fassung heute wieder abgelehnt werden, so darf ich Ihnen sagen, daß in der gesamten Öffentlichkeit die maßgeblichen Frauen wahrscheinlich dazu Stellung nehmen werden, und zwar derart, daß unter Umständen die Annahme der Verfassung gefährdet ist.‘“ (Meyer, 1989, S. 38).

Der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid, der den Antrag unterstützt hatte, fasste vermittelnd die Mehrheitsmeinung der Traditionalisten zusammen: „Es ist klar, daß die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs, zum Beispiel die Bestimmungen, die die Frau in ihren Rechtshandlungen an gewisse Genehmigungen binden, nicht getroffen worden sind, um die Frau zu benachteiligen. Diese Bestimmungen sind getroffen worden, um die Frau zu schützen.“ (zit. nach Limbach, 1999, S. 240).

Und fortfahrend: „Es handelt sich also genau gesehen darum, daß die Frau erwartet, daß diese fürsorgliche Vormundschaft über sie aufgehoben wird. Es geht den Frauen letzten Endes (...) um die Ehre und nicht um die Besserstellung.“ (zit. nach Langer, 1985, S. 74).

↓88

Nach erneuter Ablehnung des Antrages erhob sich über den überraschten Männern ein von Frauen entfachter außerparlamentarischer Sturm. „Alle Frauenverbände meldeten in Bonn ihren Protest an und plädierten mit Nachdruck für die Aufnahme des Gleichberechtigungssatzes. Waschkörbeweise kamen Briefe von den unterschiedlichsten Einsendern.“ (Limbach, 1999, S. 242).

Diesem breiten öffentlichen Protest konnten sich die Abgeordneten nicht mehr verschließen und nahmen die von Elisabeth Selbert vorgeschlagene Formulierung im Januar 1949 einstimmig an. Worum es den Frauen ging, hatte sie noch einmal ausgeführt: „Es ist ein grundlegender Irrtum, bei der Gleichberechtigung von der Gleichheit auszugehen. Die Gleichberechtigung baut auf der Gleichwertigkeit auf, die die Andersartigkeit anerkennt. Mann und Frau sind nicht gleich. Ihre Besorgnis, daß die Gleichstellung der Frau Gleichmacherei sei, ist daher gleichfalls unbegründet. Unsere Forderung auf diese Art Gleichberechtigung entspringt auch nicht frauenrechtlerischen Tendenzen. Ich bin in den 30 Jahren, in denen ich in der politischen Bewegung stehe, nie Frauenrechtlerin gewesen und werde es nie sein. Ich bin vielmehr der Meinung, daß auch die Mitarbeit der Frau im Politischen nur unter Einsatz ihrer besonderen Art erfolgen soll. Nur in einer Synthese männlicher und weiblicher Eigenart sehe ich einen Fortschritt im Politischen, im Staatspolitischen, im Menschlichen überhaupt.“ (zit. nach Roetteken, 1999, S. 262).

Ihren Erfolg hat Elisabeth Selbert später als ‚Sternstunde ihres Lebens‘ bezeichnet. „Es ist nicht zu hoch gegriffen, ihn gleichfalls als Sternstunde für die bundesrepublikanischen Frauen zu bewerten.“ (Limbach, 1999, S. 243).

↓89

Ebenso einstimmig die kurz darauf einsetzende Reaktion der Männer: „Keiner der Abgeordneten wollte im nachhinein gegen die Gleichberechtigung der Frauen gewesen sein und sich dem Druck der Frauenöffentlichkeit gebeugt haben. Grotesk lesen sich die Quasi-Entschuldigungen der Herren. So vermerkt der CDU-Abgeordnete Walter Strauß ...: ‚Ich glaube, daß ich für die überwiegende Anzahl aller deutschen Männer und insbesondere aller deutschen Ehemänner spreche, wenn ich sage, daß der Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau uns zumindest seit 1918 bereits so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß uns die Debatte etwas überrascht hat.‘“ (Meyer, 1989, S. 38).

Und Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, erklärte „ein wenig beleidigt, die Debatte sei nur entstanden, weil Frau Selbert nicht am Ausschuß für Grundsatzfragen teilgenommen habe; dort habe man sich mit wohl erwogenen Argumenten gegen die Aufnahme des Gleichberechtigungsgrundsatzes ausgesprochen. Im übrigen, so fuhr er - sich selbst widersprechend - fort, habe dieses ‚Quasi-Stürmlein‘ ihn nicht beeindruckt oder zum Rückzug veranlaßt, ‚denn unser Sinn war von Anfang an so, wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben.‘“ (Limbach, 1999, S. 242f.).

Mit der Aufnahme des uneingeschränkten Gleichberechtigungssatzes als Artikel 3, Absatz 2, in das Grundgesetz bestand die Verpflichtung, die Familienrechts-Paragrafen im Bürgerlichen Gesetzbuch bis 1953 anzupassen.

↓90

Doch auch diese Rechtsreform traf auf massive Widerstände. „Es gab gewichtige juristische Meinungen, die bestrebt waren, den Willen des Parlamentarischen Rates auszuhöhlen oder zumindest zu verwässern. Sie gingen davon aus, daß Mann und Frau in natürlicher Weise verschieden seien und daß sich dies auch im Recht niederschlagen müsse; ja sie gingen sogar so weit zu erklären, das männliche Entscheidungsrecht in allen Fragen, die das gemeinsame Leben der Eheleute betreffen (§ 1354 BGB), der väterliche 'Stichentscheid‘ sowie die ‚Alleinvertretungsmacht‘ des Vaters (§§ 1628, 1629) stünden mit dem Gleichberechtigungsartikel im Einklang. Man berief sich dazu auf die ‚natürliche Ordnung‘ der Ehe und eine ‚gewisse natürliche Präponderanz des Mannes‘!“ (Langer, 1985, S. 75).

Auch für die beiden Kirchen war die ‚innerfamiliäre Entscheidungsgewalt‘ des Mannes ‚unverzichtbar‘. „Nun begann eine recht unwürdige gesetzgeberische Prozedur.“ (Langer, 1985, S. 75).

Als einzige der vier ‚Mütter des Grundgesetzes‘ zog Elisabeth Selbert 1949 nicht in den Bundestag ein, sondern kehrte nach Kassel in ihre Anwaltskanzlei zurück. Sie wirkte jedoch weiterhin an der Konzeption zur Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes mit und die Gleichberechtigung der Frau blieb auch im Berufsalltag ihr Thema bis zu ihrem Tod 1986.

↓91

Abgesehen von dem Bundesverdienstkreuz 1956 und den Würdigungen, die ihre Heimatstadt ihr zuteil werden ließ, fielen ihre Person und ihr Name viele Jahre der öffentlichen Vergessenheit anheim. Bis 1993 ist sie nicht einmal in der Brockhaus-Enzyklopädie verzeichnet, erst ab der 20. Auflage 1998 wird ‚ihr entscheidender Anteil an der Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im GG ...‘ gewürdigt.

Nicht zuletzt die Genderforschung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die patriarchalisch verschütteten Frauenleistungen aufzuspüren und deren historische Verdienste nach heutigem Kenntnisstand zu würdigen. So ist auch die Zahl der Publikationen über die kluge, mutige und persönlich bescheiden gebliebene Juristin Dr. Elisabeth Selbert in den letzten Jahren gewachsen; sie ist Gegenstand von Dissertationen und historischen Untersuchungen, Namensgeberin für Straßen, öffentliche Institutionen und Preise und mit Fundstellen im Internet nennenswert vertreten.

Ihr politisches Vermächtnis, diese weitsichtige und unnachgiebige Weichenstellung zur richtigen Zeit in angemessener Form auf offiziellem Weg, wirkt bis heute nach und hat über fünfzig Jahre die Grundlage für die schrittweisen Errungenschaften der Frauen gebildet.

1.5.3 „Man kommt nicht als Frau zur Welt ...“

↓92

Nicht klug, selbstlos und in geschlossenen Gremien auf vorgegebenen Entscheidungswegen, sondern klug, empört und öffentlich hat sich im Jahr 1949, dem Jahr der ‚Sternstunde‘ von Elisabeth Selbert, die schon damals berühmte Französin Simone de Beauvoir ebenfalls mit dem Frauenbild beschäftigt.

Simone de Beauvoir wurde 1908 in Paris geboren, die Familie gehörte dem gehobenen Bürgertum an, verarmte jedoch in späteren Jahren.

„Die kleine Simone war fromm, fleißig und eine sehr disziplinierte Musterschülerin. Schon früh wurde ihr vom Elternhaus vermittelt, etwas Besonderes zu sein, und bereits mit Fünfzehn wollte sie Schriftstellerin werden.“ (Schmölzer, 1999, S. 325).

↓93

Weil ohne ausreichende Mitgift wenig Hoffnung auf eine standesgemäße Heirat bestand, musste sie einen Beruf erlernen. 1927 schloss sie ihre Studien zur Literatur und Philosophie an der Sorbonne ab. Mangels attraktiver Alternative wurde sie Lehrerin und "die erste Frau, die jemals Philosophie an einem Jungen-lycée‘ unterrichtete“ (Appignanesi, 1989, S. 36).

Die Bekanntschaft mit Jean-Paul Sartre (1905 - 1980) bestimmte seit 1929 ihr Leben. Das intellektuelle Paar blieb bewusst unverheiratet und kinderlos.

„Simone blieb durch all die Jahre hindurch Sartres strengste Kritikerin ... Sartre widmete sein ganzes philosophisches Werk ihr. Sobald Simone einer seiner Ideen oder Schriften das Imprimatur erteilt hatte, zählte kein anderer Kritiker mehr.“ (Appignanesi, 1989, S. 51).

↓94

„Nach Sartres Tod, 1980, verfiel sie in eine tiefe Depression, die sie nur durch ihre Arbeit ... bewältigen konnte … Ihr aktives Leben mit Reisen und feministischem Engagement allerdings hat sie bis zu ihrem Tod im April 1986 weitergeführt.“ (Schmölzer, 1999, S. 332).

In den Augen ihrer Biografen ist sie „die intellektuelle Frau des 20. Jahrhunderts schlechthin“ (Moi, 1996, S. 17) und „hat dem Kampf der Frauen den Boden bereitet, dem Kampf, der das Leben der halben Menschheit in fast allen Teilen der Welt verändert hat ...“ (Bair, 1990, S. 780).

„Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Das Thema ist ärgerlich, besonders für die Frauen; außerdem ist es nicht neu. Im Streit um den Feminismus ist schon viel Tinte geflossen, zur Zeit ist er fast beendet: reden wir nicht mehr davon. Man redet aber doch davon.“ Mit diesen Sätzen beginnt Simone de Beauvoir 1949 ihr grundlegendes Werk ‚Das andere Geschlecht‘. Die wörtliche Übersetzung des Originaltitels ‚Das zweite Geschlecht‘ lässt die hierarchischen Verhältnisse noch deutlicher erkennen.

↓95

Untersuchungsgegenstand ist die Frau, ihre biologischen, sozialen und historischen Erscheinungsformen und ihre Bedeutung als Figur mythologischer, soziologischer, psychologischer und anthropologischer Auslegung. Die enzyklopädische Leistung des Buches trat hinter dem Skandal zurück, den das Werk bei Erscheinen auslöste. Eine Frau hatte es gewagt, nicht zuletzt aus der Kenntnis der gelebten Erfahrung, ‚Sexus und Sitte der Frau‘ - so der Untertitel - in die Öffentlichkeit zu tragen.

Beeinflusst durch die philosophischen Strömungen ihrer Zeit und das existenzialistische Gedankengut ihres Lebenspartners Sartre übertrug sie die Leitideen von Selbstbestimmung und Wahlfreiheit auf Sein und Rolle der Frau. Sie hinterfragte Schicksalhaftigkeit, Konvention und kulturelle Verabredung. Obwohl selbst privilegiert durch Berühmtheit und autonomen Lebensstil, wurde sie zunehmend sensibel gegen die unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der beiden Geschlechter (vgl. Bovenschen, o.J., S. 934ff.).

Der in Abkehr von den traditionellen metaphysischen Entwürfen und rational-technischen Welterklärungen unternommene Versuch des Existenzialismus, zu einer neuen Sinnfindung durch Betonung des persönlichen Vollzuges in der Verwirklichung von Existenz zu gelangen, hielt es zunächst nicht für nötig, weibliches Sein als eigenständige Lebensform zu erkennen und anzusehen.

↓96

Simone de Beauvoir hat das Wagnis unternommen, dieses Defizit aufzuarbeiten, ohne zu ahnen, dass ihre Überlegungen eine Phänomenologie des Weiblichen erschaffen würden, und dass diese Bestandsaufnahme über Jahrzehnte die Grundlage für die Frauenbewegung bilden sollte.

„Wieso fechten die Frauen die männliche Selbstherrlichkeit nicht an? Kein Subjekt versteht sich ohne weiteres spontan als das Unwesentliche. Nicht das Andere definiert das Eine, indem es sich selbst als das Andere definiert: es wird von dem Einen, das sich als das Eine versteht, als das Andere gesetzt. Damit aber die Umkehrung vom Anderen zum Einen nicht vollzogen wird, muß das Andere sich diesem fremden Standpunkt unterwerfen. Woher kommt diese Unterwerfung bei der Frau?“ (Beauvoir, 2000, S. 14).

Ausgehend von dieser Frage kam sie im Lauf ihres Lebens wie ihrer akribischen Forschungsarbeit bald zu der Überzeugung: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt. Die gesamte Zivilisation bringt dieses als weiblich qualifizierte Zwischenprodukt zwischen dem Mann und dem Kastraten hervor. Nur die Vermittlung anderer kann ein Individuum zum ‚Anderen‘ machen.“ (Beauvoir, 2000, S. 334).

↓97

Diese frühe Erkenntnis entlarvte Weiblichkeit als Zuweisung von außen, als kulturelles Konstrukt, das die Möglichkeit der Veränderung implizierte. Ausgehend vom existenzphilosophischen Gedankengut, das im Kampf um die Freiheit individuelle Selbstbestimmung forderte, rief sie die Frauen auf, ihren Objektstatus abzulegen und selbst Subjekt zu werden - obwohl ihr durchaus bewusst war, wie nahezu unmöglich dies für die meisten Frauen angesichts deren Lebenswirklichkeit sein würde.

Trotz ihres philosophischen und intellektuellen Umfeldes war Simone de Beauvoir Einzelkämpferin und dies in einer Epoche, die von Kriegsnachwirkungen, existenziellen Ängsten und tief verwurzelten patriarchalischen Vorstellungen geprägt war.

Mut, Weitsicht und ihr scharfer analytischer Verstand hinterlassen mit dieser pragmatischen, bibliophilen Bestandsaufnahme weiblicher Identität ein Werk von selten erreichter wirkungsgeschichtlicher Bedeutung.

1.5.4 Reformen im Bürgerlichen Gesetzbuch

↓98

Das Jahr 1968 steht symbolisch für das Ende der deutschen Nachkriegsgeschichte, für das Ende der Verdrängung des Nationalsozialismus, autoritärer Strukturen und traditionellen Obrigkeitsdenkens und gleichzeitig für die erfolgreiche Demokratisierung und Pluralisierung der bundesdeutschen Gesellschaft. Die Studentenbewegung strebte die Umgestaltung der kapitalistischen Ordnung in eine sozialistisch klassenlose Gesellschaft an und die Frauen vertrauten darauf, dass diese gleichfalls für sie gelte. Die Kämpfer zur Beseitigung des Ungleichgewichtes zwischen Kapital und Arbeit hielten die Frage der Geschlechterhierarchie jedoch für zweitrangig und lehnten die Diskussion darüber ab. Die sexuelle Befreiung war erwünscht, praktizierte Gleichberechtigung nicht.

Trotz aller bürgerlichen und nunmehr auch demokratischen Errungenschaften der Gesellschaft sollte sich auch in dieser Epoche an dem minderen Status der Frauen zunächst nichts ändern. Dennoch hatte sich ihre Ausgangssituation durch die Leistung weitsichtiger Vorgängerinnen wesentlich gebessert: Im Grundgesetz stand die Gleichberechtigung festgeschrieben und die weibliche Identität war öffentlich definiert und mit dem Namen Simone de Beauvoir verbunden. (Die Rückbesinnung auf Elisabeth Selbert erfolgte erst etwa zwanzig Jahre später.)

Die grundgesetzliche Basissicherung und ein einendes weibliches Bewusstsein bildeten dieser zweiten Frauenbewegung ein solides Fundament. „Ihre Slogans ‚Das Private ist politisch‘ und ‚Frauen gemeinsam sind stark‘ erwiesen sich als ausgesprochen zugkräftig und werbewirksam.“ (Frevert, 1999, S. 54).

↓99

Mit Beharrlichkeit drangen sie auch auf die immer noch nicht abgeschlossene Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes im Bürgerlichen Gesetzbuch.

Der Auftrag des Parlamentarischen Rates, den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes bis 1953 auch im Privatrecht geltend werden zu lassen, war nicht zu realisieren. Einzelheiten waren umstritten und in der Überzahl die Verfechter der ‚natürlichen Ordnung‘, unter Hinweis auf den ‚Schutz von Ehe und Familie‘ in Artikel 6, Absatz 1, des Grundgesetzes.

Bis 1957 das vom Grundgesetz geforderte ‚Gleichberechtigungsgesetz‘ verabschiedet wurde und 1958 in Kraft trat, war „es Sache der Gerichte, im Streitfall die Gleichberechtigung zu verwirklichen“ (Limbach, 1999, S. 243).

↓100

Danach verbesserte sich die Rechtsstellung der Frauen: gesetzlicher Güterstand wurde die Zugewinngemeinschaft, der Geburtsname der Frau durfte als Namensbestandteil beibehalten werden und das Alleinentscheidungsrecht des Mannes in ehelichen Angelegenheiten wurde zugunsten der gemeinsamen elterlichen Gewalt aufgehoben.

„Das ‚Gleichberechtigungsgesetz‘ vom 18. Juni 1957 ... brachte der Ehefrau zwar in vieler Hinsicht eine Stärkung ihrer Rechte, eine wirkliche Gleichberechtigung in der Familie war ihr indes nicht zugedacht. ... Die ehelichen Pflichten waren nach Geschlecht verteilt; der Frau war der Haushalt zugewiesen, den sie freilich in eigener Verantwortung führen sollte, ausgestattet mit einer primär den Mann verpflichtenden Schlüsselgewalt. ... Zu eigener Erwerbstätigkeit sollte die Frau indes nur berechtigt sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie, mithin im Haushalt vereinbar war ...“ (Schwab, 1997, S. 810).

Die Reform zielte darauf ab, die traditionelle Hausfrauenehe als Leitbild zu belassen, die Frau in dieser Rolle aber stärker zu schützen.

↓101

„Gleichwohl brauchte der Gesetzgeber weitere zwanzig Jahre, um die verfassungsgemäße Rechtslage in die Gesetzesform zu bringen.

Den Meilenstein auf dem Weg zu den gleichen Rechten der Ehefrau in der Familie bildet für die Bundesrepublik das ‚Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts ...‘ ... Die Reform ... fand letztlich aber eine überwältigende Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, ... ein Zeichen dafür, wie gründlich sich die gesellschaftspolitische Stimmungslage gewandelt hatte ...“ (Schwab, 1997, S. 811).

1976 erfolgte zunächst die Reform des Namensrechts, „wonach bei Eheschließung auf Wunsch der Name der Frau als gemeinsamer Familienname gewählt werden kann“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1998, S. 199). Die Beibehaltung des jeweiligen Geburtsnamens wurde erst 1994 gesetzlich erlaubt.

↓102

Die wichtigste Neuerung 1977 war die Abkehr von dem rechtlich fixierten Leitbild der ‚Hausfrauenehe‘ in Richtung ‚Partnerschaftsehe‘ (vgl. Leicht-Scholten, 1997, S. 26). Die ungleichgewichtigen Rechtspositionen von Mann und Frau in der Ehe wurden aufgehoben und die familiären Funktionsteilungen in das Einvernehmen der Eheleute gestellt.

Die amtliche Begründung zum Regierungsentwurf lautete: „In der Fassung des Gesetzes soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die Ehe eine partnerschaftliche Verbindung ist, in der keinem Teil von vornherein eine bestimmte Funktion zugeschrieben wird.“ (zit. nach Schwab, 1997, S. 811f.).

Und eine weitere wesentliche Änderung trat in Kraft - die Ablösung des ‚Schuldprinzips‘ zugunsten des ‚Zerrüttungsprinzips‘ im Falle eines Scheiterns der Ehe und als Grund der Scheidung. Bereits 1930 hatte Elisabeth Selbert das Thema ‚Zerrüttungsprinzip‘ zum Gegenstand ihrer Dissertation gewählt (vgl. Limbach, 1999, S. 245f.). Ferner wurde „mit dem Anspruch auf Versorgungsausgleich die von Frauen geleistete Haus- und Familienarbeit in Form von Unterhalts- und Rentenansprüchen - und damit eine Gleichwertigkeit von Erwerbstätigkeit und Haushaltsführung - anerkannt“ (Leicht-Scholten, 1997, S. 27).

↓103

Den grundlegenden Neuerungen von 1977 sind zahlreiche weitere Anpassungen von Einzelgesetzen gefolgt und die Juristen sehen den „Diskurs um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Familie an der Neige des 20. Jahrhunderts bei keinem Ende angelangt. Er wird der Gesellschaft auferlegt sein, solange die Geschlechtlichkeit des Menschen seine Sozialität mitbestimmt.“ (Schwab, 1997, S. 827).

1.5.5 Gleichheit und Differenz

Zur Erreichung der faktisch immer noch ausstehenden Gleichstellung haben Frauen im Lauf der Jahrhunderte immer wieder theoretische Positionen und Strategien entwickelt. Einen einheitlichen ‚feministischen’ oder ‚weiblichen’ Standpunkt gibt es bis heute nicht, da die Vorstellungen von Gerechtigkeit stets abhängig sind von individuellen Erfahrungen und Erwartungen. Die durchaus voneinander abweichenden Konzepte existieren nebeneinander, sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Protagonisten und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ihrer Verbreitung und Durchsetzbarkeit.

Der Diskurs ist historisch geprägt durch bürgerliches versus proletarisches Gedankengut, er ist bis heute bestimmt durch Gleichheitsansatz versus Differenzansatz und die Strategien unterscheiden sich durch Systemimmanenz versus Dekonstruktion. Diese vielfältigen und differenzierten Basistheorien der Gender-Debatte sind im Folgenden als Überblick zusammengefasst.

↓104


Humanismus und Aufklärung

Verankert in der Tradition des Idealismus und der Romantik lag der Sinn der ersten Frauenbewegung darin, ,das Werk der Welterlösung zu fördern’. Freiheit, Gleichheit und sittliche Höherentwicklung des Individuums für alle Klassen der menschlichen Gesellschaft war nur durch Bildung möglich. „Freiheit und Mündigkeit ist hier - ganz im Sinne der Aufklärung - Folge der Selbstbestimmung, Bildung die Hilfe.“ (Nave-Herz, 1997, S. 105).


Marxismus und Arbeiterbewegung

↓105

Die proletarische Frauenbewegung trat von Anfang an für die Abschaffung der kapitalistisch geprägten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als Quelle der Unterdrückung der Menscheit und damit auch der Frauen ein. „Primäres Ziel war hier, ein Klassenbewußtsein zu schaffen, das zu gesamtgesellschaftlicher Veränderung drängt.“ (Nave-Herz, 1997, S. 105). Nur in diesem Kontext wurde die Selbstbestimmung der Frauen als realisierbar gesehen, diese blieb andererseits stets Teilziel eines übergreifenden marxistisch-sozialistischen Gesamtkonzeptes.


Bürgerliche Frauenbewegung

Diese erste Frauenbewegung, also seit Mitte des 19. Jahrhunderts, hatte die größte Mitgliederzahl und setzte sich für die gleichen Rechte der Frauen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung ein. Die Veränderung der Situation der Frauen wird gefordert, allerdings ohne die Gesellschaftsordnung selbst in Frage zu stellen. Gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind eher Folge, nicht jedoch Ziel dieses Konzeptes.

↓106


Feminismus

Die zweite Frauenbewegung, also nach 1968, hat differenzierte Konzepte und Strategien hervorgebracht, die „vornehmlich das Patriarchat als primären Feind betrachten. Hier wird eine weibliche Gegenkultur zu der männlichen postuliert und der gemeinsame Klassenkampf … nicht als ein vorrangiges politisches Anliegen betrachtet, sondern als ,männliche Strategie, die nur die wahren Tatbestände verschleiert’, abgelehnt. Die radikalen Feministinnen meinen, daß man den Kampf auf einer sehr viel früheren Ebene der Unterdrückung führen müsse, nämlich der der Sexualität und der der patriarchalischen Verhaltensweisen, durch die alle Frauen durch alle Männer unterdrückt würden.“ (Nave-Herz, 1997, S. 105).

↓107


Gleichheitsthe orie„Geschlechterforschung ist mit einer vertrackten Mischung aus Gleichheitsforderungen ,und’ Differenzbehauptungen zwischen Frauen und Männern konfrontiert. Auf Gleichheit respektive Gleichstellung zwischen den Geschlechtern wird bestanden, solange zwischen Frauen und Männern ungleiche soziale, politische und kulturelle Zugänge in der Gesellschaft wirksam werden, deren Folgen negativ anwachsen. Mit Gleichstellung ist allerdings eine Differenz zwischen den Geschlechtern keinesfalls aus der Welt. Gesucht wird ihre moderne Form jenseits hierarchischer Zuschreibungen und Zumutungen.“ (Pasero, 1994, S. 273).

Der Gleichheitsansatz geht davon aus, dass Männer und Frauen grundsätzlich die gleichen Fähigkeiten besitzen, jedoch durch unterschiedliche Sozialisation verschiedene Begabungen, Interessen und Eigenheiten ausbilden. Die Geschlechterrolle wird als erworben, erlernt, anerzogen gesehen, eine Veränderung der Geschlechterrolle durch Angleichung der Frauen an die Männer kann und soll die Gleichberechtigung herbeiführen. Biologische Geschlechterunterschiede werden nicht geleugnet, jedoch als eher irrelevant für die Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten und die gesellschaftliche Ungleichheit der Geschlechter betrachtet.

Diese aufklärerische Egalitätstheorie setzte sich besonders in der Frauenforschung der 1970er Jahre erneut durch und prägte die Handlungskonzepte.

↓108


DifferenztheorieDer Differenzansatz rückt seit den 1980er Jahren, wie bereits in der ersten deutschen Frauenbewegung, wieder stärker in die Betrachtung. Er betont in Abgrenzung zum Gleichheitsansatz die Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Er sieht weibliche Besonderheiten auch als genetisch bedingt und wertet diese im Gegensatz zur gesellschaftlichen Abwertung gegenüber männlichen Eigenschaften auf. Männliche Eigenschaften werden mit Herrschaft, Gewalt und Kriegen verbunden und als gesellschaftlich unerwünscht und wenig vorbildhaft erkannt. Der Differenzansatz sucht keinen gleichberechtigten Platz für Frauen im männlich geprägten System, er dringt auf gesellschaftliche Veränderung. Propagierte Werte und Normen werden hinterfragt, der Kanon um weibliche Fähigkeiten und Leistungen erweitert.

Der Differenzansatz erstreckt sich schließlich auf weitere traditionelle Diskriminierungskriterien wie Ethnizität, Weltanschauung und soziale Schicht.

Da sich zunehmend herausstellt, dass Gleichheits- wie Differenztheorie nachhaltige Erkenntnisse gezeitigt haben, ist die moderne Genderforschung in besonderer Weise zu analytischer Präzision verpflichtet.

↓109


PoststrukturalismusIn der Sprachwissenschaft bedeutet der Strukturalismus eine Theorie, die Sprachen als strukturierte Zeichen auffasst und Methoden zu ihrer Beschreibung entwickelt. Für die Frauen ging es um die Frage, inwieweit Sprache Wirklichkeit abbildet und inwieweit sie die Lebensqualität der Menschen prägt, indem sie ihr sprachlichen Ausdruck verleiht oder sie in eine vorgegebene Struktur zwingt.

Die Kritik der Frauen richtete sich gegen die weibliche Unsichtbarkeit in einer sprachlichen Struktur, in der die männliche Form für allgemeine Aussagen stand. Als Ergebnis dieser Kritik entstand der Poststrukturalismus, der in der Sprache kein geschlossenes, unveränderbares System mehr sieht. Bedeutungen wandeln sich durch individuellen Gebrauch von Begriffen in wechselndem Kontext. Der Poststrukturalismus verabschiedet die Vorstellung des Strukturalismus von letzten Bedeutungen und verbindlichen Strukturen. Erst das individuelle sprachliche Handeln der Subjekte schafft aus materiellen Zeichen eine Bedeutung für die Objekte.

„Poststrukturalistische Perspektiven … sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ‚Sprache’ und symbolische Ordnung als privilegierten Ort der Konstitution von Wirklichkeit betrachten. Sprache ist demnach nicht Abbild einer gegebenen Wirklichkeit, sondern sinn- und damit ordnungsstiftend, d. h. welterzeugend. … Sprache und die in ihr eigenlogisch wirkenden eingelagerten Überschüsse sind aus poststrukturalistischer Perspektive der Ort, an dem soziale Wirklichkeit organisiert wird …“ (Villa, 2004b, S. 237).

↓110


Dekonstruktion

Konstruktivismus im Kontext der Geschlechterforschung bezeichnet eine Perspektive, die davon ausgeht, dass das Geschlecht keine natürliche oder ontologische Tatsache darstellt, sondern als Produkt (sozialen) Tuns begriffen werden muss. „Dabei wird gerade auch biologisches Wissen - in je sehr unterschiedlicher Weise - hinterfragt und als epochenspezifischer Diskurs … bzw. spezifisches lebensweltliches Wissen … relativiert.“ (Villa, 2004a, S. 143).

Zur Überwindung des konstruktivistischen Ansatzes erfolgte die Begriffsprägung der Dekonstruktion. „Dekonstruktion bezeichnet … Argumentationen …, die sich vor allem in der Sprach- und Literaturwissenschaft gegen hermeneutische Verfahren abgrenzen und nach textimmanenten Differenzen und deren produktiver Kraft für die Schaffung von Sinn suchen. Der Sinn eines Textes ergibt sich demnach auch daraus, dass das, was nicht gesagt bzw. geschrieben wird, konstitutiv für den explizit formulierten Sinn ist.“ (Villa, 2004a, S. 143).

↓111

Extrahiert aus der Sprachwissenschaft bedeutet dies: „Die Gewissheit, dass etwas so ist, wie es scheint, wird dekonstruktivistisch abgelöst durch die Verzeitlichung der Kategorien, die Historisierung der Perspektiven und die Öffnung universeller Strukturen und formaler Begriffsschemata. Was universell gegeben scheint, wird zurückgeführt auf historische Prozesse und kulturelle Übereinkünfte …

Folglich kann Dekonstruktion als grundlegende Infragestellung der abendländischen Denktradition betrachtet werden, da sie sowohl die Wahrheit der Dinge als auch die metaphysischen Vorstellungen von Homogenität und Einheit, von Ursprung und Kausalität infrage stellt.“ (Schmitt, 2005, S. 45).

Protagonistin und wichtigste Vertreterin dieser Denkrichtung ist bis heute die amerikanische Wissenschaftlerin Judith Butler mit ihrer Diskurskritik ‚Gender Trouble’ von 1990, die seit 1991 unter dem Titel ‚Das Unbehagen der Geschlechter’ in deutscher Übersetzung vorliegt.

↓112


Seit die Frauen begonnen haben, ihre Wesensbestimmung der ausschließlich biologischen Betrachtung zu entziehen, ist das Geschlechterverhältnis zunehmend als Gegenstand der Sozial- und Geisteswissenschaften theoriefähig geworden. Der beunruhigende Effekt dieses Prozesses liegt in der damit verbundenen Entessenzialisierung. An die Stelle tradierter Gewissheiten ist die Pflicht zu differenzierter Wahrnehmung getreten. Je nach Perspektive kann dies als unerwünschte Unübersichtlichkeit oder notwendige Sensibilisierung eingeschätzt werden. Die von den Frauen mit Nachdruck thematisierte Komplexität des Geschlechterverhältnisses - im akademischen Diskurs wie im profanen täglichen Leben - hat die Grundlage geschaffen für einen neuen unverstellten Blick auf die Geschlechter. Diese Impulse manifestieren sich in permanent reformerischer Gesetzgebung wie in den wieder auflebenden öffentlichen Diskussionen um die Gender-Thematik.

1.6 Die Lebenswirklichkeit der Frauen

Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau ist auf vielen Gebieten erreicht. Geschlechtergerechtigkeit in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht gilt es noch herbeizuführen, da bisher „keine Maßnahmen geschaffen wurden, um faktisch bestehende Ungleichheiten, vor allem auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. ... Die rechtliche Anerkennung der Gleichwertigkeit von Hausarbeit und Erwerbstätigkeit wird solange nur eine Leerformel bleiben, solange die moralische und wirtschaftliche ‚Unterbewertung‘ von Hausarbeit verändertes Rollenverhalten nicht unterstützt.“ (Leicht-Scholten, 1997, S. 27).

„So sehr sich die ‚Lebensform Ehe‘ als tragende Säule sozialer Sicherung für Frauen als immer weniger tragfähig erweist, so sehr erweist sich auch der zweite Grundpfeiler, nämlich die Absicherung durch Einbindung in den Erwerbsarbeitsmarkt, zunehmend brüchig. Nach wie vor benachteiligen noch stets existierende androzentrische Normalitätsstandards, die trotz gegenläufiger Tendenzen die männliche Vollerwerbsbiographie zum Maßstab nehmen, Frauen in ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt. Gleichzeitig werden just zu jenem Zeitpunkt, an dem sich Frauen diesen Zugang stärker denn je erkämpft zu haben scheinen, Prognosen vom ‚Ende der Arbeit‘ immer stärker zur Realität, kämpfen auch westliche Industrienationen mit wachsender Arbeitslosigkeit und geraten immer mehr ArbeitnehmerInnen in den Kreislauf ungeschützter Beschäftigungen, die sie zu ‚working poor‘ machen.

↓113

Solange also die Lebensverhältnisse vieler Frauen ... gesellschaftlich marginalisiert bleiben, finden sich diese vor Alternativen gestellt, die in Wirklichkeit keine sind, da weder Ehe noch Arbeitsmarkt das Versprechen sozialer Sicherheit einzulösen vermögen.“ (Moser, 2002, S. 18f.).

„Seit dem 15. November 1994 heißt es nach dem ... Gleichberechtigungsgrundsatz: ‚Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.‘ Damit ist der Staat in die Pflicht genommen, es bei der rechtlichen Gleichstellung nicht zu belassen, sondern aktiv Frauenförderung zu betreiben. Doch ist die faktische Gleichstellung nicht nur ein Auftrag an den Gesetzgeber. Sie verlangt von den Frauen, daß sie ihre Rechte wahrnehmen.“ (Limbach, 1999, S. 247).

1.6.1 Statistik

Laut Statistischem Bundesamt stellt sich die Situation der ,Frauen in Deutschland’ im Jahr 2004 folgendermaßen dar: Gegenwärtig liegt der Anteil der weiblichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Deutschlands bei 51 %.

↓114

Bereits bei den Schulabschlüssen treten deutliche Unterschiede zutage: der Anteil der Mädchen liegt in Hauptschulen bei 44 %, Gesamtschulen 48 %, Realschulen 51 % und Gymnasien 54 %, hier mit steigender Tendenz. Ferner: Sonderschulen 37 %, Berufsfachschulen 46 %, Höherqualifizierung per Abendschule 52 %. Bei den studienberechtigten Schulabgängen liegen die Frauen bei 53 %, im akademischen Alltag jedoch sind sie fast in allen Bereichen in der Minderheit, bei Promotionen mit 36 %, bei Habilitationen mit 22 %.

Die Hälfte der Bevölkerung Deutschlands ist aktiv oder passiv am Erwerbsleben beteiligt, davon zu 44 % Frauen, allerdings unabhängig von Einkommenshöhe und Arbeitszeitaufwand. Hiervon arbeiten über 40 % in Teilzeitbeschäftigung.

Frauen verbringen pro Woche durchschnittlich 12 Stunden mit bezahlter Arbeit, Männer 22,5 Stunden. Frauen leisten etwa 31 Stunden pro Woche unbezahlte Arbeit, Männer 19,5 Stunden. Nach dieser Statistik liegt der gesamte Zeitaufwand für unbezahlte Arbeit höher als der für Erwerbsarbeit. Die weitere Binnendifferenzierung zeigt, dass bei den Frauen die Ernährungs-, Pflege- und Reinigungstätigkeiten weit überwiegen gegenüber handwerklichen Interessen und Ehrenämtern bei Männern.

↓115

Eine Studie über die Zeitökonomie von Frauen und Männern in der Stadt Basel im Jahr 2000 kam zu einem differenzierteren Ergebnis: „Pro Kopf gerechnet arbeiten Frauen jährlich bezahlt und unbezahlt ungefähr 160 Stunden mehr als Männer. Dies entspricht immerhin der Arbeitszeit von fast vier Wochen Vollerwerbsarbeitszeit jährlich! Es handelt sich um Ferien oder Freizeit, welche den Frauen im Vergleich zu den Männern schlicht fehlen.“ (Madörin, 2004, S. 34).

Zurück zum Statistischen Bundesamt und zur Situation der ,Frauen in Deutschland’ im Jahr 2004:

In Haushalten mit Kindern verändern sich die Zeitanteile der Frauen grundsätzlich und zuungunsten von Erwerbsarbeit und Freizeit, die der Männer kaum. Befremdlicherweise wird der Gruppe der dauerhaft in Abhängigkeit lebenden Hausfrauen keine separate statistische Auswertung gewidmet.

↓116

Trotz guter Qualifikation und hohen Bildungsniveaus - wie bereits dargestellt - reicht das Einkommen bei jeder zehnten erwerbstätigen Frau nicht für den Lebensunterhalt. Arbeiterinnen verdienen durchschnittlich 25 % weniger als Arbeiter, und weibliche Angestellte verdienen 33 % weniger als männliche. Selbst bei vergleichbaren Tätigkeiten in sogenannten Leistungsgruppen liegt diese Differenz bei durchschnittlich 20 %.

Ähnlich stellt sich die Situation auf europäischer Ebene dar. „Der Anteil von Frauen an der ‚erwerbstätigen Bevölkerung‘ stieg in der EU von 35 % 1975 auf 45 % 1996. Den höchsten Anteil haben Frauen in Schweden mit 57,4 %, den niedrigsten in Italien mit 35 %. Die ‚Arbeitslosigkeit‘ von Frauen liegt in der EU im Durchschnitt bei 12,4 %, bei Männern bei 9,5 %.“ (Gubitzer, 2002, S. 171).

„‘Frauen als Unternehmerinnen‘ sind mit 9,6 % 1996 (Männer 19,9 %) in der EU noch immer eine Minderheit. ...

↓117

Als Angestellte werden qualifizierte Frauen nur bis zu qualifizierten Positionen in der mittleren Hierarchie vorgelassen. Das Management bleibt ihnen großteils verschlossen. In der BRD besetzen 20 % der Stellen im mittleren Management Frauen. 6 % der Vorstandsmitglieder und GeschäftsführerInnen in Großunternehmen sind Frauen. ...

Frauen verdienen im europäischen Durchschnitt in allen Sektoren nur 80 % des Lohnes, den ihre männlichen Kollegen erhalten, wobei die Differenz mit höherer Qualifikation steigt: Arbeiterinnen bekommen 74,4 %, weibliche Angestellte 69,1 % des Männerlohnes bzw. -gehalts. Weibliche Führungskräfte erhalten europaweit im Durchschnitt 14,96 EURO/Stunde, Männer 19,75 EURO/Stunde, d. h. 24 % weniger Gehalt für Managerinnen.“ (Gubitzer, 2002, S. 173).

Dieses durchgängige Ungleichgewicht setzt sich fort in den Bereichen Rente, Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe, die regionalen Unterschiede einmal ganz unberücksichtigt gelassen.

↓118

„In Deutschland sind Frauen in wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichen noch immer nicht entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten. Frauen haben oft eine andere Lebensplanung als Männer. Sie wählen vielfach andere Berufe und Studienfächer als ihre männlichen Altersgenossen. Sind Kinder zu betreuen, schränken insbesondere Mütter ihre Erwerbstätigkeit zeitlich ein, um Familie und Beruf vereinbaren zu können.“ (Statistisches Bundesamt, 2004, S. 3).

Immerhin ist der Frauenanteil an einflussreicher Stelle - in den Parlamenten und Regierungen - kontinuierlich gewachsen, auf 32 % im Deutschen Bundestag und durchschnittlich 31 % in den Landtagen.

Das Politikverständnis dieser Frauen „ist offensichtlich in einem starken Maße von dem geprägt, was wir Alltagspolitik nennen würden. Es ist praxis- und personenbezogen und besonders an Fragen orientiert, wie Menschen leben und wie ihnen in bestimmten Problemlagen geholfen werden kann. ... Nach meinen Ergebnissen, aber auch nach anderen Studien, sind es vor allem die weiblichen Abgeordneten, die Themen in die Diskussion bringen, die nach gängiger patriarchaler Sicht der privaten Sphäre zugerechnet werden. In ihren Debattenbeiträgen behandeln sie Fragen wie: weibliche Erwerbstätigkeit, Mutterschutz, Abtreibung, Scheidungsrecht, soziale Sicherung, Fragen der sexuellen Selbstbestimmung, Umwelt- und Naturschutz sowie Verbraucherfragen. Obwohl sich das Themenspektrum der heutigen Parlamentarierinnen ... erweitert hat, thematisieren vor allem Frauen Fragen der weiblichen Alltags- und Berufspraxis. ...

↓119

Aber Politik ist ... nach wie vor fest in männlicher Hand. ... Für die demokratische Legitimation moderner Gesellschaften ist die verstärkte Präsenz und Partizipation von Frauen gleichzeitig Herausforderung und ein noch immer unabgeschlossenes Projekt.“ (Meyer, 1999, S. 258).

1.6.2 Öffentliche und private Arbeit

Die zunehmende Präsenz der Frauen in der Öffentlichkeit, in der Politik, in Wirtschaft und Wissenschaft und vor allem in den Medien hat immerhin dazu geführt, dass die so genannte Frauenfrage öffentlich und politikfähig geworden ist. Mit großem Aufwand wurden Maßnahmen ins Leben gerufen, die den Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern sollten: flexiblere Arbeitszeitmodelle, phasenweise Unterbrechung der Erwerbstätigkeit, verbesserte Infrastrukturmaßnahmen zur Kinderbetreuung.

In Verbindung mit Frauenförderplänen und Antidiskriminierungsvorschriften stellen sie ein Instrumentarium dar, das die Benachteiligung der Frauen auszugleichen und die Startvorteile der Männer zu kompensieren beabsichtigt. Diese rein kompensatorische Frauenpolitik lässt die Geschlechterfrage immer noch als Frauenproblem erscheinen, und die einseitige Frauenförderung zementiert die alleinige Verantwortung der Frauen für Familie und Privathaushalt, während die grundlegenden Strukturen des Machtungleichgewichtes zwischen den Geschlechtern weiterhin nicht angetastet werden.

↓120

Diese Art der reformorientierten Frauenförderung ist insofern gleichzeitig systemkonservativ, als sie nicht zu einem Wandel, sondern zur Modernisierung und damit zum Erhalt des bestehenden gesellschaftlichen Systems beiträgt. Frauenförderung individualisiert und beschränkt die Gleichstellungspolitik und drängt die Forderung nach einem grundlegenden Strukturwandel in den Hintergrund.

„Indem institutionalisierte Gleichstellungspolitik zum eigenen Politikbereich wird, geht der ursprüngliche Gedanke verloren, daß Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe praktisch alle Politikbereiche betrifft. ‚Frauenpolitik wird auf diese Weise ghettoisiert‘ und als Sondermaßnahme aus dem ‚eigentlichen‘ politischen Prozeß ausgegliedert.“ (Cordes, 1996, S. 140).

„Diese Politik, so wichtig und hilfreich sie im einzelnen ist, bearbeitet stets nur die negativen Folgen einer Struktur, der sie nichts anhaben kann. Sie repariert an Problemen herum, ohne ihnen wirklich zu Leibe zu rücken. Zugleich stellt sie Frauen insgesamt in ein schiefes Licht, läßt sie als Mängelwesen erscheinen, denen mittels mehr oder weniger großzügiger Fördermaßnahmen auf die Beine geholfen werden muß - wobei das Ergebnis zwangsläufig immer hinter den Erwartungen zurückbleibt und bei allen Beteiligten automatisch Enttäuschungen produziert.

↓121

Eine Politik, die solche Enttäuschungen vermeiden und sich nicht nur im Kreise drehen möchte, muß die grundlegenden Strukturen selber ins Visier nehmen. Dazu zählt in erster Linie die klassische Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen.“ (Frevert, 1999, S. 66).

Der Gesellschafts- und Kulturkritiker Ivan Illich (1926 - 2002), der die Diskriminierung der Frau durchaus erkannte und benannte, sah dafür weder natürliche noch kulturelle Gründe, sondern allein die Bedingungen der Industriegesellschaft. Er war allerdings 1982 noch der Überzeugung: „Außerhalb des Industriesystems ist geschlechtsneutrale Arbeit undenkbar. Es gibt nur wenige Tätigkeiten, die von Frauen und Männern gleicherweise verrichtet werden können. Der Mann kann in der Regel keine Frauenarbeiten ausführen.“ (Illich, 1995, S. 44). Er veranschaulichte dies mit Beispielen aus den Bereichen Hygiene und Haushalt.

Auch die Familiensoziologie hielt lange Zeit die Fiktion eines homogenen Haushalts ‚Familie‘ aufrecht, „obwohl dieser eine für beide Geschlechter differente Wirklichkeit darstellt: für die Frau als Arbeitsplatz und für den Mann als Freizeitort, mit den daraus resultierenden ungleichen Folgen für den weiteren persönlichen und beruflichen Lebenslauf“ (Metz-Göckel, 1993, S. 413).

↓122

Die reformorientierte Gleichstellungspolitik für Frauen stärkt die Teilhabe an der bisherigen Männerdomäne Erwerbsarbeit und erweitert die traditionelle Frauenrolle. Bei diesem Ansatz, der den Frauen weiterhin in alleiniger Zuständigkeit alle Folgen der Reproduktionsarbeit und den privaten Haushalt zuweist, bleibt die geschlechterspezifische Arbeitsteilung erhalten und die gesellschaftliche Tradition unangetastet.

Nach ernüchternder Einschätzung erfüllt die gezielte Frauenpolitik „lediglich eine Alibifunktion“ (Hoecker, 1999, S. 255) und dient auf diese Weise zugleich dem Erhalt des Status quo.

„Ein neues Konzept zur Veränderung der zentralen Strukturbedingungen der Geschlechterungleichheit muß aber vor allem Instrumentarium für die Neugestaltung der Lebensfelder Arbeit, Privatheit und Politik anbieten. ...

↓123

Die ‚Definition von Arbeit‘ müßte neu bestimmt werden als ‚Gesamtarbeit zur Produktion und Reproduktion‘ der Gesellschaft. Gesellschaftliche Gesamtarbeit umfaßt öffentliche und private, produktive und reproduktive Arbeit in Familie, Gesellschaft sowie auf dem privaten und öffentlichen Arbeitsmarkt. Produktion und Reproduktion wären als zwei verschiedene, aber gleichermaßen existentielle Arbeitsformen einander gleichzustellen. Da jeder Mensch auf beide angewiesen ist, müßte auch jeder an beiden in gleicher Weise und gleichem Umfang teilhaben.“ (Cordes, 1996, S. 143f.).

Von diesem demokratisierenden Prozess und seinem partnerschaftlichen Ziel ist die Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Realität weit entfernt.

„Trotz allen Mediengeraunes von ‚neuen Vätern‘ und ‚neuen Männern‘ sind Männer traditionellen Rollenvorgaben erstaunlich treu geblieben. Das wird sowohl in Meinungsumfragen deutlich als auch an konkreten Verhaltensmustern - von der Namenswahl bei einer Eheschließung bis zur innerfamiliären Arbeitsteilung. Zwar gestehen Männer Frauen heute weit mehr Handlungs- und Experimentierraum zu als noch vor zwanzig Jahren; ihr eigenes Rollenbild jedoch erweist sich als höchst unflexibel. ...

↓124

Erst in allerjüngster Zeit machen sich Ansätze bemerkbar, diese Perspektive zu revidieren und die ‚Frauenfrage‘ als ‚Männerfrage‘ neu zu definieren.“ (Frevert, 1999, S. 59f.).

Der Münchener Soziologe Ulrich Beck (*1944) beschrieb diese Einstellung der Männer behutsam als „verbale Aufgeschlossenheit bei weitgehender Verhaltensstarre“ (Beck, 1990, S. 31), eine immer wieder zitierte Definition mit nachhaltiger Gültigkeit.

Bis heute ist die gesamte Thematik von Gleichheit und Differenz der Geschlechter auch eine emotional geführte Debatte, deren Befriedung so lange aussteht, bis die Gleichwertigkeit der Geschlechter ihren Ausdruck findet in der jeweils selbstbestimmten Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, von partnerschaftlichen Lebens- und Berufsperspektiven sowie in den gemeinsam erbrachten Leistungen für schutz- und pflegebedürftige Angehörige der Vorgänger- und Nachwuchsgeneration.

↓125

Dass die Gesellschaft von diesem partnerschaftlichen Ideal auch heute noch weit entfernt ist, belegen die im vorherigen Kapitel angeführten Statistiken über zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen bei gleichzeitig nicht überwundenen Lohndifferenzen und dem Zwang zur Orientierung an der Norm männlicher Erwerbsbiografien.

1.6.3 Armutsrisiko

Wie weit die Gesellschaft von einem partnerschaftlichen Leben entfernt ist, lässt sich am deutlichsten erkennen an der zwar langzeitig vorhandenen, jedoch in den letzten Jahren zunehmend publizierten und damit öffentlich gemachten Armutsdiskussion.

Publikationen über Menschenrechte kommen übereinstimmend zu den immer wieder gleichen Asymmetrien - weltweit. „Daß Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen, aber fast zwei Drittel der Arbeitsstunden leisten, dabei nur ein Zehntel des Welteinkommens verdienen und weniger als ein Hundertstel des Weltvermögens besitzen, wie die Vereinten Nationen 1995 bekanntgaben, kann Frauen nicht in Siegesstimmung versetzen.“ (Weingarten/Wellershoff, 1999, S. 13).

↓126

Und eine andere Quelle: „Trotz unbestreitbarer großer historischer Fortschritte sind Frauen heute immer noch in vielen Lebensbereichen strukturell diskriminiert.

Auch im demokratischen Staat mit gleichberechtigten Männern und Frauen ist Armut immer noch weiblich.

↓127

Unter dem Schlagwort ‚Feminisierung von Armut‘ hatte bereits in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten eine Diskussion begonnen über den steigenden Anteil von Frauen an der Armutsbevölkerung. Es wurde aufgezeigt, dass sich der Abstand zwischen Männern und Frauen in Bezug auf ihre Armutsquote zwischen 1950 und 1980 vergrößert hatte.

In den europäischen Ländern ist diese Thematik weniger häufig untersucht worden, kommt jedoch für Schweden, Großbritannien, Deutschland und Österreich auf eine um 30 % bis über 50 % erhöhte Armutsgefährdung von Frauen (vgl. Heitzmann, 2002, S. 125).

Noch ringt die Wissenschaft um einen objektiven Standard für Armut und eine möglichst exakte Definition. Auch müssen die verwendeten Messmethoden und die empirisch gewonnenen Ergebnisse der sozioökonomischen Armutsforschung über den Wissenschaftsbetrieb hinaus dem Alltagsbewusstsein standhalten, das Armut vorrangig als moralische Kategorie definiert, als einen Zustand, gegen den etwas getan werden muss.

↓128

„Armut ist weiblich. Diese im Alltagsbewusstsein weitgehend akzeptierte These zeigt sich in wissenschaftlichen Untersuchungen mangels Studien entweder gar nicht, oder nur bedingt. Mit ein Grund für die Unsichtbarmachung von Frauen in der Armutsforschung ist die herkömmliche Art der Messung dieser Benachteiligung. Als Bezugseinheit dient in der Regel der Haushalt. Es wird von einer Gleichverteilung der Einkommen ausgegangen, und basierend auf diesen Annahmen Armutsgefährdung operationalisiert und ‚berechnet‘. Aus feministischer Sicht verschleiert dieser Zugang zur Armutsmessung die benachteiligte Position von Frauen. Ihre geringen Einkommen, die sich aufgrund ihrer eingeschränkten Teilhabe am Arbeitsmarkt, im System der sozialen Sicherung und - im ökonomischen Sinn - nicht zuletzt innerhalb des Familienverbandes ergeben, setzen sie einem höheren Risiko der Armutsgefährdung aus, dem sie - statistisch - entgehen, weil sie als Haushaltsmitglied den ökonomischen Status aller Mitglieder teilen. Fragen zum Zugang zu Ressourcen, zur Kontrolle über die Ressourcen, zu Konflikten im Haushalt und schließlich zur Verteilung von Macht bleiben im Rahmen der Armutsberichterstattung im Verborgenen.“ (Heitzmann, 2002, S. 132f.).

Dies bezieht sich auf die Berichterstattung der Bundesregierung im Jahr 2001, aktualisiert 2005.

1.7 Die Ziele der Genderforschung

Wenngleich die entscheidenden Impulse zum Gender-Diskurs aus der feministischen Wissenschaftskritik und der feministischen Ethik hervorgegangen sind, so war diese Nahtstelle anfangs durch „auffallend wenige Texte“ (Frey, 2003, S. 11) gezielt belegt worden. Die aktuelle Fachliteratur sah zunächst eher selten eine kontinuierliche Entwicklung mit schrittweise modifizierten Strategien. Meist fanden sich lediglich kurze historische Exkurse oder einleitende Worte minimalen Umfanges. Dies ändert sich zunehmend. „Die Ursprünge von GM (Gender Mainstreaming, Anm. d. A.) sind im Kontext der internationalen Frauenbewegungen und Institutionen der Entwicklungspolitik zu verorten. ... Der im Entwicklungsdiskurs eingeläutete Paradigmenwechsel von der ‚Integration von Frauen in die Entwicklung’ (Women in Development, WID) zur Anforderung einer durchgehenden Berücksichtigung von Geschlechterverhältnissen (Gender and Development, GAD) ... mündete in der Strategie des GM.“ (Frey/Kuhl, 2004, S. 195).

↓129

Alternativer Sprachgebrauch und definitorische Differenzierung suggerieren einen eindeutigen Bruch zwischen Frauenforschung und Genderforschung. Doch ohne sein historisches Gepäck ist der Gender-Diskurs nicht zu führen.

Das Attribut ‚post‘ im Zusammenhang mit Moderne, Feminismus, Strukturalismus und Konstruktivismus signalisiert den jeweiligen Endpunkt einer Entwicklung, einer Denkrichtung, einer Theorie.

Der Neuentwurf des Gender-Konzeptes geriert sich zunächst mit jener Leichtigkeit, die für die zukünftige Problemlösung benötigt wird. Die zur Problemlösung erforderlichen Kenntnisse umfassen jedoch auch all diese historischen Belastungen, Fehlentwicklungen, Konfrontationen und Diskriminierungen, um nunmehr Fortschritte im humanen Sinn zu erzielen.

↓130

Die Mehrdimensionalität und wechselseitige Bedingung von Sex und Gender, von Gleichheit und Differenz, von Natur und Kultur, von Einfluss und Ohnmacht ist historische Mitgift für die Genderforschung und Voraussetzung für einen „cultural turn“ (Baader, 2004, S. 323) in Wissenschaft und Lebenswirklichkeit.

„In die Wissenschaft hat Gender als analytische Kategorie zunehmend Eingang gefunden; hier hat sich während der letzten Jahre eine starke Ausweitung von der Frauenforschung zu den Gender Studies vollzogen. Diese beschränken sich nicht länger auf die Geschlechterdifferenz, sondern weisen nach, wie Gender in Prozessen der Interaktion und des Symbolischen konstruiert wird.“ (Hertzfeldt/Schäfgen/Veth, 2004, S. 9).

Die Genderforschung will Normen und Werte sichtbar machen, durch die Entscheidungsprozesse gesteuert werden. Sie will „tiefer graben als bisherige Gleichstellungspolitik“ (Pettersson, 2004c, S. 12). Sie holt Vorurteile, Vorstellungen und Normen aus ihrer Unsichtbarkeit und hinterfragt sie. Sie will Analyse, Transparenz, Differenzierung und angemessene Gewichtung. Genderforschung ist Methode, Prozess und Beginn einer Entwicklung.

↓131

Sie geht von der Annahme aus, dass es keine geschlechterneutrale Wirklichkeit gibt. Jede Maßnahme, jede Entscheidung wirkt sich unterschiedlich auf die Lebenssituation von Männern und Frauen aus.


© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 4.0Zertifizierter Dokumentenserver
der Humboldt-Universität zu Berlin
HTML-Version erstellt am:
28.11.2013