7 Strukturdefizite und Bibliothek

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Anfang der 1990er Jahre „hatten die meisten westlichen Industrieländer mit einer schlechten Wirtschafts- und Haushaltslage zu kämpfen. Andere Staaten, wie die Niederlande oder die skandinavischen Länder, haben diese Probleme in den folgenden Jahren mehr oder weniger gut unter Kontrolle bekommen, Deutschland hat dies jedoch versäumt. Das deutsche Bibliothekswesen musste und muss immer noch unter dieser negativen Entwicklung leiden.“ (Vonhof, 2007a, S. 9f.).

7.1 Haushaltskonsolidierung

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Hinter dieser bürokratischen Nüchternheit verbirgt sich für die Bibliotheken ein grundlegender Eingriff in ihre Leistungs- und Handlungsfähigkeit, deutschlandweit und flächendeckend. Im Folgenden werden die Konsequenzen für die Praxis untersucht und der Gender-Bezug hergestellt.

Mit Sorge hat der Berufsverband Information Bibliothek BIB beobachtet, dass die drastischen Budgetreduzierungen die Bibliotheken zur Einschränkung ihres Angebotes zwingen und dass das Schließen von Bibliotheken und Bibliotheksfilialen in deutschen Städten zunehmend als gängiges Mittel zur Haushaltskonsolidierung eingesetzt wird.

Aus diesem Grund entstand am 23. April 2004, dem Tag des Buches, die interaktive Homepage www.bibliothekssterben.de als wirkungsvolle „Aktion, die drastisch genug ist, um von der Presse wahrgenommen und aufgegriffen zu werden“ (Vonhof, 2007b, S. 2). Ein schwarz-weißes Layout mit Grabsteinen und Sensenmann bildet das Eingangsportal zu den sich summierenden ,Todesanzeigen’. Die Bibliotheken, die von Kürzung und Schließung betroffen oder bedroht sind, können sich melden und finden Eintrag. „Die Meldung der Bibliotheksschließungen ist freiwillig; leider werden nicht alle gemeldet, so daß man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen kann.“ (Vonhof, 2007b, S. 2). Diese ist sicher auch Loyalitätskonflikten vor Ort geschuldet, die Liste verzeichnet dennoch unzählige Einträge und wächst jährlich. Den Anhang bildet eine Übersicht ,Mediendokumentation und Pressespiegel’ über mehrere Seiten in eigener Sache.

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Diese spektakuläre Homepage hat ihre Verdienste zweifellos dort, wo die Methodik der klassischen Bibliotheksstatistiken eine solche Fokussierung nicht ermöglicht oder zulässt. Kritisch zu sehen ist die Offenlegung der Misere und mit ihr die teils zweifelhaften Praktiken der Aufrechterhaltung von Angeboten trotz Einsparung des qualifizierten Personals. Dass dies als Ideengeber und Argumentationshilfe für Konsolidierer benutzt werden kann, ist den Betreibern durchaus bewusst. Sie verfolgen als höheres Ziel die Signalwirkung für deutsche Bildungs- und Kulturpolitiker. „Der Niedergang deutscher Bibliotheken ist endlich öffentlich, in einer Statistik erfaßt und für jeden einsehbar. Gefährdete Bibliotheken können durch die Internetseite auf sich aufmerksam machen und auf ihre schlechte Lage hinweisen. Die Homepage ist ein gutes Werkzeug, um Kritik bewußt zu provozieren und das mangelnde Interesse der Bevölkerung eventuell sogar in Unterstützung umzuwandeln.

So wird vielleicht den politisch Verantwortlichen klar, wie wichtig Bibliotheken für Bildung, Forschung und lebenslanges Lernen sind und daß endlich etwas gegen das deutschlandweite Bibliothekssterben getan werden muß.“ (Vonhof, 2007b, S. 4).

Die Auswertung der bisherigen Meldungen kommt erwartungsgemäß zu dem Ergebnis: „Von der Art der Bibliotheken ist die öffentliche Bibliothek mit großem Abstand die erste Wahl bei Mittelkürzungen und Schließungen.“ (Vonhof, 2007b, S. 7). Die Öffentlichen Bibliotheken sind hier mit 79 % vertreten, die Wissenschaftlichen Bibliotheken mit 12 % und die Spezialbibliotheken mit 9 % (vgl. Vonhof, 2007b, S. 7).

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Als vorrangig betroffen zeigen sich Bibliotheken mit einer Bestandsgröße von bis zu 20.000 Medieneinheiten. „Es ist zu vermuten, daß diese wohl als am ehesten entbehrlich erscheinen, da es sich hier oft um Zweigstellen oder um Einrichtungen kleinerer Orte handelt.“ (Vonhof, 2007b, S. 8). Und im Hinblick auf die Regionen erweisen sich der Osten und der Norden als am schwersten betroffen.

Während bei den Öffentlichen Bibliotheken Schließung und Personalreduzierung und erst an dritter Stelle die Reduzierung des Medienetats die häufigsten Nennungen erhalten, sind die Wissenschaftlichen Bibliotheken in erster Linie von massiver Kürzung ihrer Erwerbungsetats betroffen.

Jedoch auch die Aufschlüsselung nach Bundesländern zeigt deutliche politische Unterschiede in der Vorgehensweise. In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt überwiegen die Schließungen, in Bayern die Etatkürzungen und in Thüringen die Reduzierung der Öffnungs- und Arbeitszeiten (vgl. Vonhof, 2007b, S. 14f.).

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Um der Homepage weitere Dynamik zu verleihen, erwägen die Betreiber eine Umbenennung in ,Bibliotheksleben und -sterben’. „Dann könnte man zusätzlich noch hervorheben, was eine Traueranzeige generell ist: eine Familienanzeige. Die Bedeutung der Bibliothek als Teil des täglichen Lebens müsste noch deutlicher unterstrichen werden.“ (Vonhof, 2007b, S. 16).

Angebracht wäre vor allem künftig die kontinuierliche Meldung derjenigen Bibliotheken und Städte, deren Situation sich aufgrund der Homepage oder eigener Überzeugung nach ursprünglicher Schließungsabsicht wieder verbessert hat, so es sie denn dauerhaft und nachhaltig gibt.

Unter Leitung der bereits zitierten Professorin Cornelia Vonhof hat die Hochschule der Medien, Fakultät Information und Kommunikation, Stuttgart, mit dem Studiengang Bibliotheks- und Medienmanagement zum 15. August 2005 ein virtuelles Handbuch ,Haushaltskonsolidierung in Bibliotheken’ im Internet erstellt. Es wurde mit dem B.I.T.-Innovationspreis 2006 ausgezeichnet und ist unter der Adresse www.spareninbibliotheken.de einsehbar.

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Neben den Analysen nationaler und internationaler Sparmaßnahmen enthält es eine Fülle von Auskünften, wie dem Sparen in Bibliotheken begegnet wird und werden kann, vom Fundraising und Merchandising über Förderkreise und Gebührenkonzepte bis zu so genannten 1-Euro-Jobs.

Die ,Bestandsaufnahme der finanziellen Situation der Bibliotheken - Deutschland und international’ kommt abschließend zu dem Ergebnis: „Die Bibliotheken anderer Länder hatten die schlechte Etatsituation besser abgefangen. Durch bessere Kooperationen, Konsortialbildung und den intensiven Einsatz von EDV gelang es ihnen früher und besser, dem Abwärtstrend der öffentlichen Haushalte zu begegnen. …

In Deutschland existiert im Vergleich zu vielen anderen Ländern der Welt immer noch kein Bibliotheksgesetz, das Kommunen verpflichtet, Bibliotheken zu unterhalten. Solange der Betrieb von Bibliotheken eine freiwillige Leistung der Städte bleibt, wird sich auch der Stellenwert der Bibliotheken in der Politik und bei der Bevölkerung nicht verbessern.

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Es gibt in Deutschland keine nationale Bibliothekspolitik, die verbindliche Richtlinien vorgibt und das gesamtdeutsche Bibliothekswesen im Blick hat. Das Bibliotheksnetz ist vielmehr zersplittert in Landes- und Kommunenzuständigkeiten. Jedes Bundesland, jede Region verfolgt eine andere Bibliothekspolitik, sodass von einer gemeinsamen Perspektive für das deutsche Bibliothekswesen nicht die Rede sein kann.“ (Vonhof, 2007a, S. 10).

Diese pointierte Gesamteinschätzung einschließlich Ursachenanalyse wird in Kapitel 7.2 weitere Vertiefung erfahren.

7.1.3 Großstadtbibliotheken

In der Rubrik ,Bibliothekspolitik’ widmet die Fachzeitschrift ,Buch und Bibliothek’ der Finanzsituation der Großstadtbibliotheken Duisburg, Frankfurt/Main, ZLB Berlin, München und HÖB Hamburg im Jahr 2003 breiten Raum.

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Der Leiter der Stadtbibliothek Duisburg konstatiert: „Wohin man auch schaut, überall blickt die Finanzkrise dieses Landes zurück.“ (Barbian, 2003, S. 714). Er stützt dieses Resümee auf die Auswertung der politischen Berichterstattung über Kommunalhaushalte, deren Defizite und deren Auswirkungen wiederum auf die Bildungs- und Kulturpolitik.

Auch der Leiter der Münchner Stadtbibliothek beginnt seine Analyse mit einem Blick auf die Potenziale der Bibliotheksträger: „Unbestritten, diese Zahlen gelten als desaströs: Betrugen die Gewerbesteuereinnahmen der Städte und Gemeinden 1999 noch 27 Milliarden Euro, so sanken sie im Jahr 2003 auf 16,4 Milliarden. Parallel dazu erhöhte sich das Defizit der Kommunen bis 2003 auf zehn Milliarden Euro. Die weltweiten wie nationalen Gründe der Konjunkturschwäche und die Folgen für Bundesbudget und Länderhaushalte sind allgemein bekannt, im Fall der Städte und Gemeinden zeigen sich aber die Finanzprobleme in nochmals verschärfter Form.

Von einem ,Webfehler unserer Demokratie’ spricht Stephan Articus, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. In der Tat: ,Über Jahre hinweg haben Bund und Länder die Städte als eine Art Selbstbedienungsladen betrachtet, nahmen ihnen nach Belieben Geld ab und schoben ihnen im Gegenzug Kosten zu’. Ob es sich dabei um den sicherlich sinnvollen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, die erhöhte Gewerbesteuerumlage des Bundes oder um großzügige Abschreibungsmöglichkeiten der ,Global Player’ handelt, alle drei Beispiele kennzeichnen eine einseitige Politik mit fatalen kommunallastigen Finanzfolgen.“ (Schneider, 2003, S. 726).

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Die Auswirkungen auf die Großstadtbibliotheken manifestieren sich in umfassenden Konsolidierungsprogrammen. Für München bedeutet dies, 4,5 Millionen Euro bis 2006 einzusparen, entsprechend 90 von 490 Planstellen sowie Sach- und Investitionsmittelkürzung (vgl. Schneider, 2003, S. 726).

In Frankfurt/Main hatten „Stadtteilbibliotheken, seit ihrer Eröffnung nicht mehr renoviert, … mit einem Drittel des Medienetats und zwei Dritteln ihres Personals ihr flächendeckendes Netz präsent zu halten …“ (Purbs, 2003, S. 721), in Dresden gibt es seit 1996 Konsolidierungspläne in Drei-Jahres-Schritten mit Sparzielen zwischen jeweils 500.000 DM und 500.000 Euro (vgl. Flemming, 2003, S. 731) und auch Hamburg hatte bis 2003 bereits 22 Prozent des Personals (rund 125 Stellen) abgebaut und die Standorte um 13 Bücherhallen reduziert (vgl. Schwemer-Martienßen, 2003, S. 735).

Die Bibliotheksleitungen begegnen diesen Vorgaben mit dem Bemühen, durch Zielvereinbarungen, Kontrakte, Mehrjahresschritte, Leistungskonzentrationen und Technikunterstützung ein Mindestmaß an Gestaltungsraum und Planungssicherheit zu erhalten. Die Auswirkungen zeigen sich jedoch flächendeckend in gleicher Weise: Personalreduzierung, Rückzug aus der Fläche, Ringen um Drittmittel sowie Überlegungen, selbst durch Ehrenamtlichkeit nicht auf Fachlichkeit verzichten zu müssen. Die Leiterin der Zentral- und Landesbibliothek Berlin berichtet: „Wir bieten auch Menschen, die sich ehrenamtlich bei uns engagieren wollen, in verschiedenen Bereichen gute Möglichkeiten. Vor allem bei unseren alten Sammlungen müsste viel unbearbeitet liegen bleiben, wenn nicht frühere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein- bis zweimal pro Woche zu uns kommen und Bestände aufarbeiten würden.“ (Lux, 2003, S. 724).

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An Improvisationsgeschick und Erfahrung in Krisenmanagement hat es den Bibliotheken zu keiner Zeit gefehlt und doch erhebt sich stets erneut die Frage: „Wenn Tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Öffentlichen Bibliotheken, Millionen ihrer Kundinnen und Kunden, eine nicht geringe Anzahl von Kultur- und Bildungspolitikern von der Wichtigkeit und Leistungsfähigkeit der Öffentlichen Bibliotheken überzeugt sind, stellt sich natürlich die Frage, warum die eingangs geschilderte Finanzkrise ausgerechnet diese Bibliotheken in ihrer Substanz und Existenzfähigkeit so außerordentlich bedroht?“ (Barbian, 2003, S. 716). Eine der möglichen Antworten gibt der Autor selbst: „Es fehlt an einer schlagkräftigen Lobby. Das ist zu allen Zeiten schlecht, doch geradezu verhängnisvoll wird es in einer Situation, in der die Lobbyvertreter anderer öffentlicher Interessen mit Vehemenz ihren Anteil am Finanzkuchen verteidigen oder zurückerobern. Eine Lobby findet sich leider nicht von selbst. Sie muss organisiert werden - und das ist eine Aufgabe für Profis. Genau da liegt eines der zentralen Probleme.“ (Barbian, 2003, S. 716f.). Auch hatte der Autor zuvor bereits festgestellt: „Nach der endgültigen ,Abwicklung’ des Deutschen Bibliotheksinstituts (DBI), dessen Ende von den Kultur- und Finanzministern der Länder herbeigeführt wurde, befindet sich das größte Land in Europa in der Verlegenheit, nicht einmal einen zentralen Koordinator für die konzeptionelle und praktische Arbeit im Inland und für die Beziehungen zum Ausland benennen zu können.“ (Barbian, 2003, S. 715).

Und selbst die direkteste Form des Lobbyismus, die Intervention der Bibliothekskunden durch ein großflächig angelegtes Bürgerbegehren, wie in München 2003 zum Erhalt der Stadtteilbibliotheken, hat hohe Hürden zu überwinden. Es hat zwar „eine breite Öffentlichkeit für die Situation der Bibliotheken sensibilisiert, das erforderliche Quorum von Ja-Stimmen aber nicht erreicht“ (Schneider, 2003, S. 730). Das Ergebnis erbrachte 80.569 Ja- zu 35.479 Nein-Stimmen. Erforderlich wären mindestens 90.282 Ja-Stimmen gewesen (vgl. Schneider, 2003, S. 730).

Seit diesem Überblick über die Finanzlage der Großstadtbibliotheken hat es keine weitere synoptische Darstellung in der Fachliteratur gegeben. Umso wichtiger bleiben die jährlichen Meldungen an die Deutsche Bibliotheksstatistik. Da sich die Finanzlage der Kommunen seitdem nicht verbessert hat, behält die verdienstvolle Zusammenstellung in ,Buch und Bibliothek’ bis auf weiteres bedauerlicherweise ihre Bedeutung.

7.2 Personalfluktuation

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Auch in Zeiten knapper Finanzmittel heben Politik und Verwaltungsspitzen die Bedeutung von Bildung und Kultur stets positiv hervor. Sie sind stolz auf die Leistungen ihrer Bibliotheken und erklären deren Wirken für unverzichtbar.

Und auch bei der Suche nach neuen Einnahmequellen und Ausgabenreduzierungen streben sie nach Gerechtigkeit, zum Beispiel durch die Festsetzung von Sparquoten mit allgemeiner Verbindlichkeit. Um arbeitsrechtliche Härten oder gar betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden, wird die so genannte natürliche Fluktuation zum Personalabbau genutzt. Diese ergibt sich flächendeckend durch Pensionierung, Verrentung oder Altersteilzeit, durch gesundheitliche Gründe oder Arbeitsplatzwechsel an einen anderen Ort. Und sie ergibt sich am Schwerpunkt Frauenarbeitsplatz. Familienphasen mit anschließender Elternzeit und daran anschließender Arbeitszeitreduzierung, wie in Kapitel 6.3 herausgearbeitet, erzeugen kontinuierlich Vakanzen. Hiervon sind die Bibliotheken als Frauenbetriebe in weit höherem Maß betroffen als traditionell überwiegend männlich besetzte Bereiche wie Tiefbau oder Datenverarbeitung.

Eine vermeintlich gerechte Besparung durch eine verbindliche Sparquote für die Gesamtverwaltung erzielt in der Praxis also zwangsläufig ein strukturelles Ungleichgewicht zu Lasten der Frauenbetriebe. Um diese Gerechtigkeitslücke zu schließen, müsste sie zunächst als solche erkannt und anerkannt werden. Dies geschieht im Alltag nicht und der Hinweis auf die fehlenden Finanzmittel ist stets geeignet, die Thematik auf dem Status quo zu belassen. Angesichts dieser Praxiserfahrungen ist eine Gender-Analyse dringend erforderlich.

7.3 Bibliotheken als freiwillige Aufgabe

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Bei der Ursachenforschung für die prekäre Situation der Bibliotheken treffen sämtliche Überlegungen auf den einen Grund: die Freiwilligkeit.

Der Finanzausschussvorsitzende in Weimar stellte dazu in einer kommunalpolitischen Rede fest: „Auch von Weimar werden deshalb vom Land streng ein Sparhaushalt und dabei vor allem der Verzicht auf so genannte freiwillige Leistungen gefordert.

Deshalb denken das sich redlich mühende Gemeinderatsmitglied und der von der Rechtsaufsicht getriebene Bürgermeister: Nichts wie ran! Leisten wir dem Willen der Obrigkeit folge und hoffen dafür auf eine Belohnung. So treibt dann der Stadtrat die Verwaltung an, ,Jagd’ auf Personalstellen zu machen, und so fordern Verwaltungsspitzen vom Stadtrat, sich ehrlich am ,Meucheln’ freiwilliger Leistungen zu beteiligen.

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Ein gefährliches Treiben, wenn sich Haushaltskonsolidierung nur auf die Maxime ,Sparen, Sparen, Sparen’ beschränkt! Man kann gemeinsam den Gürtel enger schnallen, bis keiner mehr Luft bekommt! Meine Damen und Herren, hier wurzelt nicht nur das Übel, sondern eine Katastrophe, die auch vor keiner Stadtbücherei halt machen wird.

Denn so unstreitig es … sein dürfte, dass diese ein wesentlicher Bestandteil der kommunalen Kultur- und Bildungsarbeit ist, hat es sich eingebürgert, die Stadtbücherei stets als freiwillige Leistung der Kommune anzusehen. Mit dieser Festschreibung ist sie aber zugleich - bitte entschuldigen Sie die Deutlichkeit - latent vom Tode bedroht. Warum? In den Köpfen vieler politischer Entscheidungsträger hat sich festgesetzt, dass es sich bei den als ,freiwillig’ beschriebenen Leistungen quasi um ,Spaßaufgaben’ handelt, die man bei fehlender finanzieller Leistungsfähigkeit vorrangig wegstreichen muss. Vor allem wäre es ein Fehler anzunehmen, dass, ohne ein offensives Gegensteuern, mit dem stillen Sterben vieler unserer Stadtteilbibliotheken in den vergangenen zehn Jahren irgendeine Sparwut befriedigt worden wäre. So besteht unverändert die absurde Gefahr, dass die Schließung einer Stadtbücherei mit dem Fehlen von ordentlichen Sanitäranlagen und Brandschutztüren in Kindergärten der Kommune begründet wird.“ (Hasenbeck, 2003, S. 208).

Der hier zitierte Finanzexperte weist in aller Deutlichkeit auf die Konsequenzen der fehlenden rechtlichen Grundlage für die Existenz der Bibliotheken im Gegensatz zu den seit einigen Jahren gesetzlich abgesicherten und mit Standards versehenen Kinderbetreuungseinrichtungen hin.

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Die Kommunalordnungen unterscheiden Pflichtaufgaben in Form von Auftragsangelegenheiten und Weisungsaufgaben im Auftrag der Länder und des Bundes gegenüber den kommunalen Selbstverwaltungsangelegenheiten. Hierzu zählen die freiwilligen Aufgaben und die Pflichtaufgaben ohne Weisung.

Im Wortlaut einzelner Gemeindeordnungen ist nicht einmal der Terminus ‚Freiwillige Leistung’ bzw. ‚Freiwillige Aufgabe’ enthalten. „Die Thüringer Kommunalordnung kennt den Begriff der ,freiwilligen Leistung’ nicht einmal. Dort wird - ohne eine Rangfolge festzulegen - nur von ,Eigenen Aufgaben’ als den Aufgaben im eigenen Wirkungskreis gesprochen.“ (Hasenbeck, 2003, S. 210).

Ebenso in der Niedersächsischen Gemeindeordnung. Diese nennt im Eingangskapitel die Grundlagen der Gemeindeverfassung, die mit der gemeindlichen Selbstverwaltung beginnen und in § 2 die Aufgaben der Gemeinden umreißen: „Die Gemeinden sind in ihrem Gebiet die ausschließlichen Träger der gesamten öffentlichen Aufgaben, soweit die Gesetze nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmen. Sie stellen in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für ihre Einwohnerinnen und Einwohner erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereit.“ (Thiele, 2006, S. 6).

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Der Kommentar führt aus: „Soweit nicht gesetzlich die Schaffung von Einrichtungen vorgeschrieben ist, entscheiden die Gemeinden darüber … Die Leistungsfähigkeit der Gemeinde ist ein Maßstab für Umfang und Art der Bereitstellung der erforderlichen Einrichtungen.“ (Thiele, 2004, S. 10).

Dass sich diese Leistungsfähigkeit vorrangig auf die Finanzkraft der Kommune bezieht, verdeutlichen diverse Kommentare. „Bei der Wahrnehmung dieser Selbstverwaltungsaufgaben sind die Kommunen frei, d. h. es gibt keine besonderen staatlichen Rechtsvorschriften oder Weisungen, die ihnen inhaltliche Vorgaben für die Aufgabenerfüllung in diesem Bereich geben. Die Gemeinden unterscheiden vielmehr eigenverantwortlich darüber, ob sie die Aufgaben wahrnehmen und wie sie diese erfüllen wollen; mit anderen Worten: Sie entscheiden über das ,Ob’ und das ,Wie’ der Aufgabenerfüllung. Hierbei sind die Gemeinden nur den allgemeinen Gesetzen unterworfen. Sie können diese Aufgaben jedoch nur dann übernehmen, wenn ihnen nach ordnungsgemäßer Wahrnehmung der Pflichtaufgaben hierfür noch Mittel zur Verfügung stehen.“ (Vogelsang/Lübking/Jahn, 1997, S. 46).

Aus dieser juristischen Eindeutigkeit ziehen Kämmerei und Finanzsteuerung ihre Legitimation, grundsätzlich und insbesondere in Phasen schwacher Konjunktur auch den Bildungsbereich Bibliothek immer wieder in Bedrängnis zu bringen.

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Allerdings kennt das Kommunalrecht darüber hinaus auch den Begriff der ‚Daseinsvorsorge’ und thematisiert in diesem Kontext durchaus die Bibliotheken. „Öffentliche Einrichtungen sind das mit Abstand wichtigste und kommunaltypischste Instrument der Leistungserbringung in den Aufgabenfeldern der Infrastruktur, des Sozialen und der Kultur … Mit dem Bau von Mehrzweckhallen, Abwasserentsorgungsanlagen, Bibliotheken oder auch nur der Unterhaltung von Wiesen und Plätzen, auf denen Feste und Märkte stattfinden können, werden Räume für die Grundrechtsausübung geschaffen. Gleichgültig, ob die betreffenden Leistungen in der modernen Gesellschaft existenznotwendig sind (Abwasserentsorgung, Wasserversorgung) oder ob es ,nur’ um Kommunikation und Unterhaltung geht - stets wird ein unverändert wichtiger und nachgefragter Beitrag zur sog. ,Daseinsvorsorge’ geleistet. …

Eine Pflicht zur ,Schaffung, Aufrechterhaltung’ oder ,Erweiterung’ einer öffentlichen Einrichtung besteht nicht, außer wenn in einem speziellen Gesetz eine darauf gerichtete kommunale Pflichtaufgabe … statuiert ist …“ (Burgi, 2006, S. 218f.).

Und zur Präzisierung des Begriffes ‚Daseinsvorsorge’: „Weder eine Legitimation noch eine Privilegierung kommunaler wirtschaftlicher Betätigung ergibt sich daraus, dass es typischerweise um Leistungen ,zur Befriedigung der Bedürfnisse für eine dem jeweiligen Lebensstandard entsprechende Lebensführung’ (,Daseinsvorsorge’) geht. Dieser über Jahrzehnte etablierte Begriff bringt zum Ausdruck, dass staatliche wie kommunale Aufgabenerfüllung in einem modernen Gemeinwesen notwendigerweise über die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung hinaus gehen. Aus ihm lässt sich aber nicht ableiten, dass bestimmte Leistungen der Infrastruktur oder des Sozialen nur durch den Staat bzw. die Kommunen (in Monopolstellung) erbracht werden dürfen. Auch die Leistungstiefe … lässt sich nicht allein mit Hilfe dieses Begriffs beantworten.“ (Burgi, 2006, S. 250f.).

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Werden also die Bibliotheken durchaus als Bestandteil der kommunalen Selbstverwaltung gesehen, ja sogar den Aufgaben der Daseinsvorsorge zugeordnet, so gibt es gute Gründe, die die Existenz der Bibliotheken rechtfertigen, jedoch bis heute keine gesetzliche Grundlage, die die Existenz der Bibliotheken auch sichert.

7.4 Initiativen für ein Bibliotheksgesetz

Diese Diskrepanz von bekundeter Wertschätzung gegenüber den Bibliotheken bei gleichzeitig mangelnder finanzieller und rechtlicher Existenzsicherung hat in Fachkreisen seit langem die Forderung nach einem deutschen Bibliotheksgesetz hervorgerufen und aufrechterhalten. Der Erfolg steht nach wie vor aus. „In der Bundesrepublik Deutschland sucht man sowohl im Bereich der Bundesgesetzgebung als auch in der der Bundesländer vergeblich ein ausdrücklich als solches bezeichnetes Bibliotheks,gesetz’. Diese für ausländische Bibliothekare vielleicht etwas seltsam anmutende Situation herrschte allerdings nicht immer so vor. Zumindest in einem Teil Deutschlands, der DDR, existierte für viele Jahre eine Art ,Bibliotheksgesetz’, die sogenannte ,Bibliotheksverordnung’ von 1968. Darin fanden sich u. a. detaillierte Bestimmungen über Aufgaben, Gliederung und Arbeit von Bibliotheken. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Untergang der DDR verschwand diese Regelung und verwandelte sich zu einem historischen Aspekt des Bibliothekswesens in Deutschland.“ (Müller, 2000, S. 43).

Und für die Bundesrepublik ist zu konstatieren: „Im Rückblick dürfte es einigermaßen verwunderlich sein, dass Bibliotheken und Bibliotheksverbände während der ersten vier Jahrzehnte der Bundesrepublik an der bibliotheksbezogenen Gesetzgebung fast gar nicht direkt beteiligt waren. Parlamentarier und Ministerialbeamte haben Hunderte von Gesetzestexten mit Auswirkungen auf die bibliothekarische Tätigkeit formuliert, ohne die betroffenen Bibliothekare zu fragen, was sie davon jeweils hielten. Diese gerade auch unter dem Gesichtspunkt des Demokratiegedankens unbefriedigende Situation begann sich jedoch ab dem Jahr 1990 zu verbessern. Die bibliothekarischen Verbände wurden nun regelmäßig vom Justizministerium um Stellungnahmen zu Gesetzesvorhaben gebeten, und ihre Vertreter nach Bonn geladen.“ (Müller, 2000, S. 44).

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Werden Bibliotheksexperten nun nach Berlin geladen, so geht es vorrangig um Fragen der Wissenschaftlichen Bibliotheken, um Die Deutsche Bibliothek und Fragen des Pflichtexemplarrechts wie des Urheberrechts, insbesondere im Hinblick auf Digital Rights, um nur einige Beispiele zu nennen.

Eine Initiative für alle Bibliothekssparten, also auch für Öffentliche Bibliotheken, erfolgte durch den Europarat in den Jahren 1999/2000 nach jahrelanger Vorbereitung. „Vier Bereiche sind für die Bibliotheksarbeit relevant und müssten daher hinsichtlich einer Bibliotheksgesetzgebung oder politischer Maßnahmen in Betracht gezogen werden:

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Diese vier Kernpunkte bilden das Grundgerüst für die ,Richtlinien zur Bibliotheksgesetzgebung und -politk’, die vom Kulturkomitee … 1999 verabschiedet wurden.“ (Vitiello, 2000, S. 38).

Birgit Dankert, langjährig Professorin an der Fachhochschule Hamburg, Fachbereich Bibliothek und Information, seinerzeit auch Sprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände sowie Mitglied in dem europäischen Lobbyverband für Bibliotheken in Europa EBLIDA, unterstreicht die Bedeutung der Initiative des Europarates: „Die Politik der EU war zunächst auf Wirtschaftsfragen ausgerichtet. Die Erkenntnis, dass auch Informationen und digitaler Datentransfer einen Markt bilden, vor allem aber der inzwischen verbindlich formulierte kulturelle Auftrag der EU haben den Bibliotheken eine deutlich konturierte Rolle in der Europapolitik zugewiesen. Die EU hat den hohen kulturellen und wirtschaftlichen Wert der Bibliotheken erkannt. Das ist ein großer Fortschritt und schlägt sich in einem Ausmaß politischer Akzeptanz nieder, das bisher nirgendwo erreicht werden konnte.

Die Richtlinien des Kulturkomitees des Europarats für eine Bibliotheksgesetzgebung zeigen zugleich deutlich, dass Bibliotheken sich in einem politischen Spannungsfeld befinden und dementsprechend agieren müssen. Es geht um

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Diese Problembereiche geben Fragen auf, die einer politischen Lösung bedürfen. Sie sollten in einem demokratischen Diskussionsprozess geklärt und geregelt werden. Darin sehe ich die Aufgabe europäischer Bibliothekspolitik.“ (Dankert, 2000, S. 15).

Einen Überblick über die Situation in Europa gab fünf Jahre später die Leiterin der Bundesgeschäftsstelle des Deutschen Bibliotheksverbandes, Barbara Schleihagen, anlässlich des Thüringer Bibliothekstages im Oktober 2005: „2/3 aller 25 EU-Länder haben ein Bibliotheksgesetz. Es gibt derzeit nur neun Länder, die überhaupt keine eigenständige Bibliotheksgesetzgebung vorzuweisen haben. Dazu gehören neben Deutschland die folgenden Länder: Frankreich, Irland, Luxemburg, die Niederlande, Malta, Österreich, Portugal und Zypern.

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Diese neun Länder lassen sich wiederum in zwei Gruppen teilen: Länder, die früher ein Bibliotheksgesetz hatten wie Irland und die Niederlande, und eine Handvoll Länder, die noch nie über ein Gesetz verfügten. …

Von den 16 EU-Ländern, die über ein eigenes Bibliotheksgesetz verfügen, haben 15 ihre Gesetzgebung in den letzten Jahren aktualisiert.“ (Schleihagen, 2005, S. 10f.).

Mit Blick auf Deutschland stellt sie fest: „Die Länder der Europäischen Union mit vorbildlichem Bibliothekswesen verfügen alle über ein Bibliotheksgesetz auf nationaler Ebene. Aber es ist nicht nur das Gesetz, was das Bibliothekswesen so vorbildlich sein lässt. Vielmehr ist das Gesetz ein konkreter Ausdruck des politischen Willens des Staates, Bibliotheken zu fördern. Auch mit finanziellen Mitteln.“ (Schleihagen, 2005, S. 7).

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Die Initiative das Europarates einschließlich der vorbildlichen europäischen Länder basiert auf internationalen Empfehlungen. Bereits 1994 erschien ein Manifest der UNESCO mit dem Titel ‚Öffentliche Bibliothek’. Im Kapitel ‚Finanzierung, Gesetzgebung und Vernetzung’ heißt es: „Die Öffentliche Bibliothek gehört in den Verantwortungsbereich kommunaler und nationaler Behörden. Sie muß von einer spezifischen Gesetzgebung getragen werden und durch nationale und kommunale politische Körperschaften finanziert werden.“ (Dankert, 1997, S. 10).

Das Manifest entstand in Zusammenarbeit mit der International Federation of Library Associations and Institutions IFLA.

Im Jahr 2001, in deutscher Übersetzung 2005, bekräftigen diese Institutionen ihre Haltung zu dem Erfordernis gesetzlicher Grundlagen für Öffentliche Bibliotheken in der Publikation ‚Dienstleistungen Öffentlicher Bibliotheken. IFLA/UNESCO Richtlinien für die Weiterentwicklung’. Auch hierin findet sich ein eigenes Kapitel ‚Gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen’ und spezifiziert ‚Gesetzgebung für das Öffentliche Bibliothekswesen’: „Öffentliche Bibliotheken sollten auf einer Gesetzesgrundlage arbeiten; dies sichert ihnen den Fortbestand und ihren Platz innerhalb der Verwaltungsstruktur.“ (Gill, 2005, S. 13). Unter Berücksichtigung nationaler Unterschiede werden als Mindestanforderungen formuliert: „In jedem Fall sollte die Gesetzgebung die Zuständigkeiten und die Finanzierung regeln. Sie sollte ebenso den Öffentlichen Bibliotheken innerhalb des Bibliotheksnetzes des Landes oder der Region ihren Platz einräumen.“ (Gill, 2005, S. 14).

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Trotz dieser internationalen und europäischen Vorgaben gilt für Deutschland die Analyse von Birgit Dankert fort: „Oft genug kann sich Deutschland bei den Forderungen der UNESCO zu Information, Bildung und Kultur als hochqualifizierter Partner mit Förder- und Vorbildstatus profilieren. Das ist bei den Forderungen des Manifestes zum Öffentlichen Bibliothekswesen keineswegs der Fall.

Weder im weltweiten Vergleich der Kulturen noch im Verhältnis zu Standards der wohlhabenden hochtechnisierten Industrienationen kommt Deutschland im Öffentlichen Bibliothekswesen eine führende Rolle zu.“ (Dankert, 1997, S. 3).

Das derzeit wichtigste Strategiekonzept deutscher Bibliothekare, ‚Bibliothek 2007’ der Bertelsmann Stiftung und Bundesvereinigung Deutscher Bibliotheksverbände BDB, muss diese Einschätzung auch im Jahr 2004 bestätigen: „Ein stärkerer bundesrechtlicher Einfluss und eine übergreifende Zuständigkeit für die Bibliotheken mit dem Ziel der Koordinierung und Förderung ihrer Entwicklung sind dennoch unentbehrlich. Die Informations- und Wissensgesellschaft erfordert es, dass Institutionen, die dem freien Informationszugang und dem lebenslangen Lernen dienen, in einem Gesamtzusammenhang betrachtet werden.

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Eine gesetzliche Verpflichtung für diese Perspektive existiert nicht.“ (Beger, 2004, S. 15f.).

Von der Zielvorstellung haben sich die deutschen Bibliothekare jedoch keineswegs getrennt: „Ein Bildungs- und Informationsgesetz auf Bundesebene ist langfristig die richtige Lösung, um eine qualitativ gleichwertige Bildung und Informationsversorgung für alle Bürger in Deutschland zu gewährleisten und gleichzeitig eine Verbindlichkeit für die Rolle und Aufgaben der Bibliotheken zu schaffen. Im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit schnellen Handelns und langfristigen Gesetzgebungsverfahren muss diese Verbindlichkeit jedoch bereits kurz- und mittelfristig im Kontext einer zukunftsfähigen Bildungspolitik geschaffen werden.“ (Beger, 2004, S. 16).

Vorgeschlagen wird daher zunächst eine „BEA BibliotheksEntwicklungsAgentur als zentrales Steuerungsinstrument für Innovation und Qualitätssicherung der bundesweiten Bibliotheksentwicklung zu gründen“ (Beger, 2004, S. 27). Und in „Anlehnung an die jährlichen Fördervolumen anderer Einrichtungen für wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme wäre bei einer Stiftungsgründung ein Innovationsfonds in der Größenordnung von etwa 40 Millionen Euro ein tragfähiger Ansatz.

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Bereits mit diesem relativ geringen finanziellen Aufwand von umgerechnet ca. 0,50 Euro pro Bürger ist es möglich, bildungspolitisch dringend notwendige Verbesserungen zu erzielen.“ (Beger, 2004, S. 33).

Diese mutige und dennoch pragmatische Initiative wird auf allen Ebenen des deutschen Bibliothekswesens als gemeinsames Ziel vorangetrieben. Die Umsetzung wird seit dem Jahr 2006 erschwert durch die Föderalismusreform, die den Bundesländern die alleinige Zuständigkeit für Bildung und Kultur übertragen hat. Mit dieser Schwierigkeit konfrontiert sieht sich ebenfalls die im Jahr 2002 vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland (EK Kultur)’, die in zweiter Legislaturperiode tätig ist. „Der Zwischenbericht der EK Kultur zum Ende der 15. Legislaturperiode erwähnt das Thema Bibliotheksgesetzgebung mit keinem Wort. Lediglich im Tätigkeitsbericht der EK Kultur findet sich der Bericht über die Expertenanhörung zum Bereich Bibliotheken. Darin wurde festgehalten, dass die Experten mehrheitlich ein Bibliotheksgesetz befürworten.

… Es gibt derzeit keine einschlägige Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Bereich des Bibliothekswesens. Nach Art. 70 GG fällt die Gesetzgebungskompetenz für den Erlass eines Bibliotheksgesetzes allein den Ländern zu. Richtig ist, dass im Rahmen der Expertenanhörung von seiten der Experten die Ansicht geäußert wurde, eine bundeseinheitliche Regelung sei sinnvoller als eine Vielzahl unterschiedlicher und uneinheitlicher Landesgesetze. Allerdings wurde die kompetenzrechtliche Problematik ausdrücklich gesehen und angesprochen.“ (Steinhauer, 2006, S. 893f.).

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Parallel hierzu gibt es auf der Ebene der deutschen Bundesländer erneute Aktivitäten. Auf der Grundlage der Landesverfassung wird in Thüringen ein ‚Bibliotheksgesetz als Konkretisierung von Grundrechten’ (Steinhauer, 2006, S. 893) angestrebt. „Parallel zur laufenden Reform des Hochschulrechts wird im Freistaat Thüringen die Möglichkeit diskutiert, mit einem Bibliotheksgesetz die bibliothekarischen Dienstleistungen des Landes auf eine neue gesetzliche Grundlage zu stellen. Der Landesverband Thüringen im Deutschen Bibliotheksverband (DBV) hat dazu am 14. März 2006 einen Gesetzentwurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Dieser Entwurf wird derzeit sowohl in der Thüringer Politik als auch in bibliothekarischen Fachkreisen diskutiert.“ (Steinhauer, 2006, S. 880).

In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, „dass es zumindest für einen Teilbereich des öffentlichen Bibliothekswesens im Land Baden-Württemberg das ‚Gesetz zur Förderung der Weiterbildung und des Bibliothekswesens’ vom 20. März 1980 in der Fassung der Änderung vom 17. Juni 1997 gibt“ (Steinhauer, 2006, S. 891).

Seit 2006 widmet sich auch der Landesverband Niedersachsen im Deutschen Bibliotheksverband wieder dieser Thematik. So standen die ‚16. Gemeinsamen Bibliothekstage für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt’ in Hannover unter dem Tagungsthema ‚Bibliotheksgesetz - ein Rettungsanker für die Bibliotheken?’. Undine Kurth, Vorsitzende des DBV-Landesbeirates in Sachsen-Anhalt, kommentiert das Tagungsthema in ihrem Grußwort dergestalt: „Das lässt schon eine Katastrophensituation vermuten - was ja mit Blick auf die Situation mancher öffentlicher Bibliothek auch nicht ganz falsch genannt werden kann.“ (Kurth, 2006, S. 5).

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Zur Situation in Deutschland stellt sie fest: „Zwar gibt es vereinzelte Länderregelungen: So wird in der Verfassung von Schleswig-Holstein die Förderung von Bibliotheken als Staatsziel betont. Baden-Württemberg erwähnt Bibliotheken im Weiterbildungsgesetz und Hessen beschreibt die Wahrung des kulturellen Erbes im Hessischen Hochschulgesetz. In Bayern existiert eine Bibliotheksverordnung, und auch die Landesverfassung von Sachsen-Anhalt erwähnt die Bibliotheken in Artikel 36. So weit, so gut - nur reicht dies nicht.“ (Kurth, 2006, S. 6).

Die Referate der Gäste aus Südtirol und Schweden wussten von der politisch bindenden Wirkung der Bibliotheksgesetzgebung ihrer Länder zu berichten.

International vorbildliche Konzepte nennt das Strategiepapier ‚Bibliothek 2007’, und doch können sich deutsche Bildungs- und Kulturpolitiker nicht entschließen, sich an diesen Best-Practice-Beispielen zu orientieren.

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Die bisherige, nahezu standardisierte Entgegnung der Bibliotheksträger auf die Forderung der Bibliotheken nach einer gesetzlichen Grundlage fasst ein seinerzeit zuständiger Ministerialbeamter aus Schleswig-Holstein zusammen: „Auf welcher Grundlage, nach welchen Kriterien und in welcher Höhe sich die Länder an der Förderung des Bibliothekswesens beteiligen, das unterscheidet sich beträchtlich. Ein spezielles Bibliotheksgesetz, das Aufgaben, Mindeststandards und Finanzierung der Öffentlichen Bibliotheken regelte, gibt es bisher in keinem der Länder. Die Forderung danach wird - nicht erst seit dem ‚Bibliotheksplan '73’ - aus Fachkreisen immer wieder erhoben; selbst die Kulturpolitiker in Ländern und Kommunen tun sich aber schwer damit. Ich meine zu Recht, nicht nur, weil auf absehbare Zeit Mehrheiten für Leistungsgesetze auf bisher nicht gesetzlich geregelten Politikfeldern kaum zu erhalten sein dürften. Mit jedem Gesetz geht Gestaltungsfreiraum verloren, und die Normierung nimmt zu. Die gemeindliche Selbstverwaltung, eine wichtige demokratische Errungenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, wird ohnehin immer weiter eingeengt. Der Kulturbereich ist einer der letzten verbliebenen Freiräume; würde auch er noch durch Gesetze zur Theater-, Museums-, Musikschul- und eben Bibliotheksförderung aufgegeben, so könnte von einer eigenständigen, lokale Traditionen und Besonderheiten berücksichtigenden kommunalen Kulturpolitik kaum mehr die Rede sein, sie würde weitgehend auf eine Auftragsverwaltung reduziert.

In der öffentlichen Diskussion wird die Forderung nach Kulturgesetzen oft mit dem Plädoyer vermengt, Kulturförderung nicht länger als ‚freiwillige’, sondern als ‚Pflicht’aufgabe anzusehen und zu behandeln. Das wäre natürlich mit der Verabschiedung eines entsprechenden Leistungsgesetzes der Fall. Ich bezweifle allerdings, daß der Verteilungskampf um die kommunalen Mittel leichter würde, wenn noch mehr Ansprüche auf gesetzlicher Grundlage gegeneinander stünden. Im übrigen halte ich die immer wieder neuen Versuche, die Aufgaben der Kulturförderung auch ohne den Verweis auf Spezialgesetze als Pflichtaufgaben zu begründen, zwar für tiefschürfend, scharfsinnig und rührend, aber auch für ineffektiv. Wo die Einsicht fehlt, daß Kultur lebens- und überlebensnotwendig ist, daß Ausgaben für die Kulturförderung, für die Weiterentwicklung der geistigen Infrastruktur eines Landes, einer Gemeinde unverzichtbare Zukunftsinvestitionen sind, kann sie auch auf diesem Weg nicht herbeigeredet werden.“ (Carl, 1998, S. 102f.).

Trotz der Einsicht „Andererseits darf ein Land auch nicht beliebig lange tatenlos zusehen, wenn das Ziel der flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung der Bevölkerung offenkundig verfehlt wird“ (Carl, 1998, S. 106), bleibt er bei dem Hinweis auf projektgebundene Förderprogramme und der Erteilung guter Ratschläge. Und eben deshalb bleibt auch die Forderung der Bibliothekare nach einer verbindlich gesicherten Arbeitsgrundlage aktuell.

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Der Schlussbericht der Enquete-Kommission ‚Kultur in Deutschland’ liegt seit dem 11.12.2007 als Drucksache 16/7000 des Deutschen Bundestages vor. Von Seite 129 bis 132 beschäftigt er sich explizit mit den Öffentlichen Bibliotheken. Als Handlungsempfehlungen werden unter anderem genannt, dass die Länder Bibliotheksgesetze erlassen sollen und dass Öffentliche Bibliotheken Pflichtaufgabe werden sollen (vgl. Deutscher Bundestag, 2007, S. 132).

Und der Bundespräsident äußert sich anlässlich der Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar am 24.10.2007: „Meine Meinung ist: Bibliotheken gehören deshalb in Deutschland auf die politische Tagesordnung.“ (Köhler, 2008, S. 5).

Bis sie dort angekommen sind, gelten für die Bibliotheken die derzeitigen Rahmenbedingungen.

7.5 Gender-Desiderate

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Die vorangegangene Untersuchung in Kapitel 6 und 7 über den Frauenarbeitsplatz Bibliothek und seine Rahmenbedingungen ergibt zweierlei Handlungserfordernis.

Befürworter der bestehenden Strukturen werden in den Gender-Initiativen keinen Handlungsbedarf für die Bibliotheken sehen, da diese ja traditionell Frauenarbeitsplätze sind und einen akzeptablen Professionalisierungsgrad erreicht haben. Es wurde aufgezeigt, dass selbst die Führungspositionen in Öffentlichen Bibliotheken in zunehmendem Maß von Frauen bekleidet werden.

Betrachtet man die Bibliotheken solitär als Beschäftigtengruppe, so vermittelt diese eher den Eindruck, künftig der Männer-Quoten zu bedürfen, insbesondere in den Öffentlichen Bibliotheken.

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Als Grobziel sind Gender Mainstreaming und Gender Budgeting hier scheinbar bereits übererfüllt, und für Entscheidungsträger wäre Vorschub geleistet, das Thema betriebswirtschaftlich mit den bekannten Zahlen zu belegen, mit dieser Rechtfertigung öffentlich zu machen und guten Gewissens auf Status quo zu beenden.

Dass es sich hierbei keineswegs um Spekulation oder gar Unterstellung handelt, beweist die Geschichte: Die geschlechterpolitischen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre in Gesetzgebung und Berufswelt wurden durch Auseinandersetzungen erzielt, nicht durch gemeinsames partnerschaftliches Streben.

Auch die Kerngedanken des Gender Budget hätten in dieser Zeit längst umgesetzt werden können, auch im Vorfeld der neuen Begriffsprägung und durchaus bereits im kameralistischen Haushalt. Voraussetzung war und ist der politische Wille sowie Spezifizierungen bei der Datenerhebung.

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Da dies jedoch kaum geschehen ist, bedarf es nun erneut der nachdrücklichen Aufforderung durch europäische und staatliche Vorschriften.

Und selbst auf dieser Grundlage verläuft - wie aufgezeigt - der Implementierungsprozess singulär, schleppend, eher verlautbarend als handlungsorientiert, von Widerständen und mangelndem Problembewusstsein begleitet. Der gewöhnungsbedürftige und komplexe Produkthaushalt und die in Aussicht stehende Doppik legen das Abwarten näher als die Initiative.

Die vorliegende Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass einerseits das Konzept Gender Budget viel tiefer greift als die bisherigen Gleichstellungsprogramme und dass andererseits die Bibliotheken als ein Spezialgebiet künftiger Operationalisierungsprozesse bei näherem Hinsehen diverse Handlungsdesiderate aufweisen. Dies insbesondere und gegen allen Anschein im Personalbereich, auch wenn die bisherigen Gender Budget-Ansätze bis hierhin noch längst nicht vorgedrungen sind.

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Das eingangs dieses Kapitels in Aussicht gestellte zweite Handlungserfordernis findet seine Begründung in der vorliegenden Untersuchung. Diese musste, in Anbetracht der erstgenannten Handlungsdefizite - mangelndes Problembewusstsein und daher mangelnde Initiative - die Kausalität von Problem Gender Gap, Konzept Gender Budget und Operationalisierungsebene Bibliothek mit ihren Desideraten entsprechend tiefgreifend und umfassend herausarbeiten.


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28.11.2013