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Der in Realisierung befindliche Gender Budget-Prozess konzentriert sich in Verwaltungen und Bibliotheken in seiner ersten Stufe auf Nutzen- bzw. Nutzeranalysen.
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Dieser Ansatz folgt dem ergebnisorientierten Interesse, einerseits nach Beantwortung der Kernfrage, wer von den erbrachten Leistungen profitiert, und diese Auskunft andererseits in Bereichen und Projekten zu ermitteln, die bereits über vorliegendes genderspezifisches Datenmaterial verfügen.
Die wichtigste Informationsquelle in den Bibliotheken stellen traditionell die Benutzerdatensätze dar, die bei Anmeldung mit den Kategorien männlich/weiblich/juristische Person erstellt werden. Damit erfassen sie das Gros der Bibliotheksbenutzer und liefern den Bibliotheken wertvolle Grundlagen etwa für den Bestandsaufbau wie auch für die Zielgruppenarbeit.
Auf diese Weise nicht erfasst werden all die Personen, die die Bibliothek zur Nutzung der Präsenzangebote aufsuchen. Auch ist dieser Bereich durch die Angebotsdiversifikation gewachsen. Waren es früher bibliothekarische Beratung, Zeitungen und Zeitschriften, Nachschlagewerke und Kopiermöglichkeiten, so umfasst die Bibliotheksausstattung zunehmend auch Publikumsarbeitsplätze mit Internet- und Datenbankzugang, Office-Stationen und Anspielplätzen für Non-Book-Medien.
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Im öffentlichen Auftrag wie in ihrem Selbstverständnis sind die Bibliotheken Teil eines sich wandelnden Informationsmarktes.
Bibliotheksübergreifende Studien zu Leseverhalten und Mediennutzung haben daher auch für die Bibliotheksarbeit Aussagekraft und richtungweisende Bedeutung.
Zum Fortgang der Untersuchung gilt es daher zunächst, aus diesem Kontext die bisherigen geschlechterspezifischen Erkenntnisse zu exzerpieren, sichtbar zu machen und somit genderpolitisch aufzubereiten.
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Das Interesse von Verlagen und Buchhandel an Marktforschung ist betriebswirtschaftlich begründet und dient dem Zweck der Absatzförderung und Leistungssteigerung.
Ihre Umfragen blicken auf eine lange Tradition zurück und haben sich bis in die Gegenwart kontinuierlich differenziert und optimiert.
Neben die vorrangig ökonomische Ausrichtung trat zunehmend ein publikumszentrierter Forschungsansatz, der unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten auch den Nutzen für den Rezipienten untersucht, seine Bedürfnisse, Absichten, Kauf- und Lesemotive erforschen und erfahren möchte.
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An die Seite der Buchmarktforschung, später Buchmarkt- und Leserforschung, trat seit den 1960er Jahren die Medienforschung, die sich jedoch als Auftragsforschung für die Medien Tageszeitung, Zeitschrift, Hörfunk und Fernsehen verstand, und daher das Buch als Medium der Massenkommunikation zunächst kaum berücksichtigte.
Im Jahr 1978 wurde erstmals „in der Studie ‚Kommunikationsverhalten und Buch’, die von der Infratest Medienforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführt wurde, der Versuch unternommen, alle Medien mit einzubeziehen und zugleich die Buchnutzung in differenzierter Weise zu erfassen. Diese Studie brachte die Medien-Forschung der Bundesrepublik Deutschland einen Schritt voran; um einen ganzheitlichen Forschungsansatz handelt es sich aber auch bei dieser Studie noch nicht, da beispielsweise der Bereich der Bibliotheken nur peripher untersucht werden konnte. Künftigen Studien zur Medien-Forschung wird diese Studie sicherlich zugrunde gelegt und deren Methoden weiter entwickelt werden können.“ (Teckentrup, 1981, S. 25).
In den dann folgenden Jahren hat sich der Kreis der Forschungsinstitutionen wesentlich erweitert und damit auch das Spektrum der Forschungsfragen.
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Leseverhalten und Mediennutzung werden aus der Perspektive von Demoskopen und Freizeitforschern, von Medienforschungsinstituten und Universitäten erkundet. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung Lesen haben in regelmäßiger Folge die Veränderungen des Medienmarktes und die Reaktionen seiner Konsumenten beforscht, ihre aktuellen Erkenntnisse vorgelegt und Zukunftsperspektiven aufgezeigt. Eine historische Übersicht bietet Bonfadelli 1999.
Das Interesse der 1970er Jahre galt signifikant dem Wettbewerb zwischen Buch und Fernsehen. Letzteres bezeichnete Elisabeth Noelle-Neumann, die langjährige Leiterin des Institutes für Demoskopie Allensbach, in einem Vortrag zur Eröffnung der Buchmesse 1974 als „’Fressfeind’ des Bücherlesens“ (vgl. Muth, 1993, S. X). Gleichfalls referierte sie in diesem Vortrag eine Erkenntnis, die bis heute unwiderlegt geblieben ist: „ Im Vortrag von 1974 beschrieb ich einen physiognomischen Test, mit dem sich - unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialer Schicht - Heiterkeit, psychologisches Wohlbefinden erkennen lassen und berichtete: ‚In jeder Altersgruppe, jeder Bildungsgruppe, jeder Gruppe, die wir untersuchen, finden wir diejenigen, die Bücher lesen, heiterer als diejenigen, die keine Bücher lesen. Die Unter-30jährigen Bücherleser zum Beispiel wirken zu 46 % heiter, die Nichtbücherleser zu 22 Prozent; bei den Unter-45jährigen mit höherer Schulbildung, die Bücher lesen, werden als heiter empfunden 43 Prozent, bei denen, die keine Bücher lesen, 22 Prozent. Machen wir die Gegenprobe und vergleichen Altersgruppen, Bildungsgruppen, Männer und Frauen, die viel oder wenig fernsehen, so erhalten wir das entgegengesetzte Bild: Überall finden wir diejenigen, die viel fernsehen, unfroher, die weniger fernsehen, heiterer. Ich hoffe nicht, daß diese Bemerkung banal ausgedeutet wird, etwa in dem Sinn: Fernsehen macht unfroh. Es soll nur gesagt werden, daß das Fernsehen jedenfalls nicht das gleiche bewirkt wie Bücherlesen. Wir können nicht zweifeln: Bücherlesen bewirkt etwas, was Menschen wohltut. Wir wissen nur noch nicht genau, was das eigentlich ist.’
Fast zwanzig Jahre später sind wir noch immer nicht klüger, aber der Zorn, es handle sich nur um die gut bemäntelte Verteidigung kommerzieller Interessen, hat sich gelegt.“ (vgl. Muth, 1993, S. X).
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Weitere zehn Jahre später hat sich die Computernutzung in den Fokus des Interesses geschoben, die Fernsehdauer nimmt nach wie vor einen großen Teil der Freizeit in Anspruch, und doch hat sich auch das Lesen in allen aktuellen Statistiken einen mittleren Rang bewahrt.
Es verwundert nicht, dass das Hauptaugenmerk dieser Erhebungen auf den Wettbewerb der Informationsübermittler (Computer, Fernsehen, Radio, Buch etc.) und Informationsträger (DVD, CD-ROM, CD, Video, Buch etc.) gerichtet ist. Selbstverständlich wird auch erfragt, durch welche Inhalte der Informationsbedarf gedeckt wird.
Parallel hierzu erfolgt die Typologie der Befragten nach den Kern-Kategorien: Alter, Geschlecht, Familienstand, Bildungsgrad, Berufstätigkeit, Einkommen, Wohnortgröße und lage.
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Hieraus soll im Folgenden die Kategorie Geschlecht als Einzelkategorie untersucht werden.
Aus der Fülle der vorliegenden Studien seien hier diejenigen einer näheren Prüfung unterzogen, deren grundlegende Erkenntnisse auch für die Bibliothekspraxis dauerhafte Relevanz erlangt haben.
Im Jahr 1993 erscheinen drei Studien:
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Verzichtet wird in diesem Zusammenhang auf die Betrachtung der Studien, die sich gezielt mit dem Leseverhalten in Ost und West beschäftigen.
In der zuerst genannten Allensbach-Studie erhält der geschlechterbezogene Einzelaspekt bereits in der Einleitung ein eigenes Kapitel „Die Beziehung der Frau zum Buch“ (Muth, 1993, S. 13), das deutlich erkennen lässt, welch starker Denktradition die Auswertung und Interpretation nüchterner Datenerhebungen noch verhaftet ist: „Mit seinen Thesen zur weiblichen Lektüre bekam bereits der Leipziger Bibliothekar Walter Hofmann Ärger. Sein Institut für Leser- und Schrifttumskunde hatte nämlich festgestellt, daß Frauen einen wesentlich anderen literarischen Geschmack haben als Männer. Aufgrund dieser Erkenntnis entwickelte er einen eigenen Katalog für Frauen, der nach weiblichen Interessen gegliedert war und damit konsequent von den üblichen bibliothekarischen Kategorien zum Mißvergnügen vieler Zunftgenossen abwich. Als der Autor dieser Einführung 40 Jahre später anhand demoskopischer Daten ebenso auf diese Abweichung hinwies und daraus einige Folgerungen ableitete, bezog er gleichfalls öffentliche Schelte (‚Muth’, 1972). Doch neueste Untersuchungen bringen nichts anderes zutage: Bei der fiktionalen Literatur haben Frauen, bei der nonfictionalen Literatur Männer die Majorität. Ob man nach dem zuletzt gekauften, nach dem zuletzt gelesenen oder nach dem gewünschten Buch fragt - es zeichnet sich immer auf der einen Seite ein starkes Interesse für Ratgeber-, für Unterhaltungsliteratur und auch für religiöse Bücher ab, auf der anderen Seite geht die Tendenz zur Fachliteratur, zum Sachbuch, zum politischen Buch und zum harten Krimi.
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Sicher schlägt sich darin auch ein Stück Lesergeschichte nieder. Von der bürgerlichen Gesellschaft auf die häusliche Rolle zurückgedrängt, konnten viele Frauen nur ‚aus zweiter Hand’, durch literarische Vermittlung, am ‚wirklichen Leben’ teilhaben. Das Erstaunliche ist, daß dieser ‚kleine Unterschied’ auch in der emanzipierten Schicht nicht verschwindet. Lange Ausbildungswege beeinflussen zwar das Leseinteresse der Frau, jedoch nicht so, daß das typische weibliche Leseinteresse völlig unterdrückt würde. Auch als Akademikerin ist die Leserin keine Zweitausgabe ihres männlichen Kollegen.“ (Muth, 1993, S. 13f.).
Bei der weiteren Auswertung gelingt es dem Autor schließlich, sich ein wenig von dieser Assoziationskette zu lösen, er bleibt allerdings beim traditionellen Vokabular: „Während Männer vor allem instrumentelle Leser sind, sind viele Frauen in ihre Lektüre buchstäblich verliebt, sie betrachten Bücher als das Schönste, was es gibt, und finden sich in dem oben dargestellten Partytest überwiegend in der Gruppe ein, in der über interessante Bücher gesprochen wird.
Schon Mädchen beschäftigen sich intensiver und hingebungsvoller als Jungen mit Büchern, sie sind auch empfänglicher für die elterliche ‚Verführung zum Lesen’, aber auch in ihrer Lesefreude persistenter gegen eine weniger lesefreundliche Umwelt …
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Bücherlesen ist also auch geschlechtsspezifisch bestimmt. Es gibt in den vorliegenden Untersuchungen keinen Anhaltspunkt dafür, daß es sich dabei um einen bloß anerzogenen Unterschied handelt.“ (Muth, 1993, S. 14).
Diese Interpretation ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass objektives Datenmaterial künftig auch eine objektive Auswertung - einschließlich sachlicher Diktion - erhält und nicht so sehr dazu benutzt wird, interessengeleitete Verfestigungen zu bekräftigen.
Auch fällt bei der Untersuchung auf, dass die Kategorie Geschlecht beim Kauf, Schenken und Lesen von Büchern jeweils als Einzelkategorie erhoben wird, nicht jedoch durchgängig bei den Untersuchungen nach Alter, Bildungsgrad, Lesegewohnheiten u. a. Dies ist noch dem Zeitgeist geschuldet und erfolgt in jüngeren Untersuchungen durchaus differenzierter.
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Die eingangs ebenfalls genannte, zweibändige Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zur Lesesozialisation erhebt die Kategorie Geschlecht bereits durchgängig und wertet sie auch in der Mehrzahl der Tabellen aus. Der erste Band über das Leseklima in der Familie widmet sich im Ergebnis-Überblick mit einem eigenen interpretierenden Kapitel der Geschlechterdifferenz im Leseverhalten. „Daß Bücher bei den Mädchen größeren Anklang finden als bei den Jungen, ist ein erwartbares Ergebnis: 61 Prozent der Mädchen lesen ausdrücklich gern, aber nur 43 Prozent der Jungen, außerdem lesen die Mädchen häufiger und auch durchschnittlich länger.“ (Hurrelmann, 1993, S. 51).
Unter der Überschrift ‚Geschlechtsspezifische Differenzen des Lesens: Systematische Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen’ erfolgt eine mehrseitige Analyse der wichtigsten Forschungsergebnisse. Diese schließt mit der Feststellung: „Insgesamt läßt sich aber zeigen, daß die Varianz im Lesen bei Jungen und Mädchen, insbesondere im Hinblick auf die Häufigkeit der Lektüre, weder durch die Schule noch durch das Leseklima in der Familie vollständig erklärt wird. Wenn man also vorhersagen will, ob ein Kind eher viel oder eher wenig liest, bleibt das Geschlecht einer der zuverlässigsten Prädikatoren.“ (Hurrelmann, 1993, S. 53).
Auch der zweite Band über Leseerfahrungen und Lesekarrieren beinhaltet ein eigenes Kapitel zur geschlechterspezifischen Auswertung, und auch er stellt zunächst fest: „Das ganze Untersuchungsmaterial durchzieht wie ein roter Faden der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Lesen und der Entwicklung männlicher und weiblicher Lesekarrieren. Die Beziehung von Frauen zu Büchern ist intensiver und bleibt auch während einer längeren Phase, in der weitgehend auf das Lesen verzichtet wird, lebendiger als bei Männern. … Nicht nur in der vorliegenden Untersuchung, die sich auf spezielle Leser bzw. Nichtleser-Gruppen konzentrierte, sondern auch in Repräsentativuntersuchungen traten auffallende Unterschiede im Leseverhalten von Männern und Frauen zutage, ohne daß Indizien gefunden werden konnten, daß diese Unterschiede ausschließlich oder zumindest in erster Linie sozialisationsbedingt sind.“ (Köcher, 1993, S. 300).
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Bei weitergehender Prüfung stellt sich jedoch heraus: „Die Langzeitanalyse, die allerdings nur für Westdeutschland durchgeführt werden kann, erbringt jedoch einen überraschenden Befund: Die signifikanten Unterschiede in der Leseintensität von Männern und Frauen, die in allen Repräsentativuntersuchungen der letzten Jahre bestätigt werden, haben sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet; noch Ende der 60er Jahre entsprach die Leseintensität von Frauen weitgehend der von Männern: … Während allgemein davon ausgegangen wird, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede in allen Bereichen allmählich vermindern, gilt dies zumindest für das Leseverhalten nicht, da sich die Leseintensität von Frauen in den letzten Jahrzehnten weit überdurchschnittlich erhöht hat. Die Trendanalyse macht deutlich, daß der Anstieg des Leseinteresses in der gesamten Bevölkerung überwiegend auf das wachsende Interesse von Frauen an Büchern zurückgeht. …
Es liegt nahe zu vermuten, daß der überproportionale Anstieg der Leseintensität bei Frauen darauf zurückzuführen ist, daß ihre Bildungschancen bis in die 60er Jahre hinein deutlich schlechter waren und sie erst in den letzten Jahrzehnten bei den Bildungsabschlüssen mit Männern gleichgezogen haben. Nach wie vor korreliert Lesen hoch mit dem erreichten Bildungsabschluß; von den Frauen mit höherer Schulbildung lesen 58 Prozent kontinuierlich, von den Frauen mit einfacher Schulbildung 30 Prozent. Analysiert man jedoch die langfristige Entwicklung des Leseinteresses getrennt nach Bildungsgruppen, wird erkennbar, daß die Leseintensität von Frauen in allen Bildungsschichten angestiegen ist, sogar überdurchschnittlich bei Frauen mit einfacher Schulbildung. Unter Frauen mit höherer Schulbildung ist der Anteil regelmäßiger Leserinnen von 50 auf 58 Prozent angestiegen, unter Frauen mit einfacher Schulbildung von 20 auf 30 Prozent. Ganz anders verläuft die Entwicklung bei Männern. Zwar ist auch die Leseintensität von Männern langfristig gestiegen, hält man die Bildung konstant, wird jedoch deutlich, daß sich in den einzelnen Bildungsgruppen bei Männern die Leseintensität nicht erhöht hat.“ (Köcher, 1993, S. 301ff.).
Die daran anschließende recht differenzierte Ursachenforschung mündet in eine Hypothese: „In den letzten Jahrzehnten hat sich das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein von Frauen tiefgreifend verändert. Entsprechend lautet unsere Hypothese zur Erklärung des überdurchschnittlichen Anstiegs der Leseintensität von Frauen, daß Frauen heute ihre Neigungen und Interessen selbstbewußter verteidigen als das früher der Fall war. … Wenn die Hypothese zuträfe, … liegt eine weitere Schlußfolgerung von beträchtlicher Tragweite nahe; danach würden sich durch die Emanzipation der Frau auf einigen Feldern geschlechtsspezifische Unterschiede verstärken, statt eingeebnet zu werden.“ (Köcher, 1993, S. 303f.).
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Die Analyse zeigt, dass es sich stets empfiehlt, bei der Auswertung von Datenerhebungen auch kontextuelle Faktoren und Entwicklungslinien mit zu berücksichtigen.
In einer Rezension zu der Studie heißt es: „Namentlich die Männer haben seit den 60er Jahren Ansporn zu und Freude an intensiver Lektüre verloren. Die Frauen hingegen sind zu 42 Prozent bis heute häufige und intensive Leserinnen geblieben, und auch unter den Kindern finden sich ähnliche Quoten. Unter den Jugendlichen schwindet die Leseneigung beträchtlich, so daß sich als hartnäckige ‚Problemgruppe’ für das Lesen männliche Jugendliche mit geringen Bildungschancen herausstellen, in deren Cliquen das Lesen ohnehin hintansteht oder gar verpönt ist. Die Familie, zumal der Vater, führt ihnen zumeist kein selbstverständliches Lesevorbild vor. …
Nach wie vor sind Geschlecht und Bildung die entscheidenden Faktoren, die über die Lesepensen und freuden des Individuums nachweislich mitbefinden. Zwar haben sich soziale Diskrepanzen in den letzten Jahren nivelliert, so daß sich immer wieder unvorhersehbare Entwicklungen und geradezu gegenläufige Haltungen und Gewohnheiten entdecken lassen, die eine monokausale, eindeutige Determination mittels weniger Faktoren verbieten, aber im jeweils proportionalen Kontext mit anderen erweisen sich die genannten Indikationskomplexe für das Lesen als immer noch signifikant.“ (Kübler, 1993, S. 10).
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Die eingangs als dritte genannte Studie der Stiftung Lesen über das Leseverhalten in Deutschland 1992/93 erweist sich für den Gender-Aspekt als wenig ergiebig. Sie setzt andere Schwerpunkte, zum Beispiel das Leseverhalten in Öffentlichen Bibliotheken. Geschlechterspezifische Daten wurden erhoben, gelangten jedoch kaum in die Auswertung. Bei Auswertung zeigten sie eine eher unerklärliche Übereinstimmung zwischen Frauen und Männern. Einzige Erläuterung: „Sowohl für Männer als auch für Frauen gilt, daß die Lektüre spannend sein und einen packen und gefangen nehmen soll. Die Buch-bezogenen Erwartungen der Männer sind freilich etwas enger und eher kognitiv akzentuiert, während bei Frauen die affektiven und sozialen Erwartungen stärker ins Gewicht fallen.“ (Franzmann, 1993, S. 39).
Diese Studie hat ihre Verdienste zweifellos auf anderen Gebieten. Das bestätigt auch eine spätere Untersuchung: „Hingegen äußern sich in der neuen Studie der Stiftung Lesen von 1992/93 keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen, was den Umfang der Lektüre anbelangt. Dies trifft übrigens auch für die Studie ‚Massenkommunikation’ und die '97er Univox-Studie aus der Schweiz zu. Das Fehlen von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Häufigkeit der Buchlektüre, nicht jedoch bezüglich der präferierten und genutzten Lesestoffe, steht im Gegensatz zu bisherigen Untersuchungen (s. z. B. Gilges 1992), etwa den Allensbacher-Befunden, nach denen Frauen mehr lesen als Männer. Nach Renate Köcher (1993, S. 300ff.) hat sich dieser ‚geschlechtsspezifische Unterschied jedoch erst seit den 60er Jahren deutlich herausgebildet …
Zu fragen ist, ob sich hier eine Trendumkehr andeutet, oder ob andere, z. B. methodische Faktoren wie Frageformulierung etc. eine Rolle spielen könnten.“ (Bonfadelli, 1999, S. 117).
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Diese letzte Annahme bestätigt sich durchgängig: In Fragestellung, Schwerpunktsetzung und Auswertung unterscheiden sich auch die Studien selbst, je nach dem, ob sie von Männern oder Frauen vorgenommen wurden.
In dieses Bild passt auch das ‚Lesebarometer’, eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zum ‚Lesen und Umgang mit Büchern in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme zum Leseverhalten von Erwachsenen und Kindern’ aus dem Jahr 1999. Die Herausgeberin Friederike Harmgarth untersucht den Gender-Aspekt und kommentiert ihn auch: „Die jüngste der hier vorgestellten Studien hat einmal mehr ergeben: Frauen lesen häufiger und intensiver als Männer (72 Prozent gegenüber 67 Prozent). Während 63 Prozent der Frauen angeben, ‚gern’ oder sogar ‚sehr gern’ zu lesen, sind es bei den Männern nur 47 Prozent. Umgekehrt lesen 20 Prozent der Männer ‚überhaupt nicht gern’, während nur 13 Prozent der Frauen das von sich sagen …
Dieser ‚Geschlechter-Effekt’ zeigt sich in Deutschland - wie übrigens auch in fast allen anderen europäischen Ländern - seit vielen Jahren. Er zeichnet sich schon in den ersten kindlichen Lesejahren ab, nimmt während der Schulzeit zu und bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen. Zwei wesentliche Gründe werden für diesen Unterschied zwischen den Geschlechtern angeführt … : Zum einen beherrschen Mädchen die Technik des Lesens früher und besser als Jungen; zum anderen werden die unterschiedlichen Rollenbilder bei der Erziehung von Mädchen und Jungen verantwortlich gemacht …“ (Harmgarth, 1999, S. 17). Es folgt eine differenzierte Auswertung der Erhebungen zum Leseverhalten erwachsener Männer und Frauen, zum Leseverhalten von Jungen und Mädchen nach Altersstufen, sowie der Rolle der Mütter und Väter bei der Lesesozialisation.
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Die jüngsten Studien zum Mediennutzungsverhalten - und damit die aktuellen Erkenntnisse - werden ab Kapitel 5.2 untersucht.
Nach dieser Prüfung eher historischer Quellen, die sich im Rahmen ihrer empirischen Forschung zum Lese- und Mediennutzungsverhalten in ihren Auswertungskategorien unter anderem auch mit dem geschlechterspezifischen Nutzungsverhalten beschäftigen, soll hier eine kurze Wertung derjenigen Publikationen folgen, die sich monografisch mit dem Einzelaspekt Mediennutzung nach Geschlecht befassen.
Die Anzahl dieser Publikationen ist überschaubar, hat allerdings im Kontext des aktuellen Gender-Diskurses sowie infolge der Studien aus dem ‚Programme for International Student Assessment’ PISA zugenommen. Dazu Kapitel 5.2.
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Eine eigens der ‚geschlechtsspezifischen Nutzung von Büchern bei Kindern und Erwachsenen’ gewidmete Untersuchung aus dem Jahr 1992 mit dem Titel ‚Lesewelten’ wertet zwei Allensbach-Studien aus. Die Analyse folgt einem umfassenden Forschungsansatz und geht interdisziplinär vor. Sie betreibt ausführliche Ursachendiskussion und entwirft ein ‚Modell des Leseverhaltens’.
In ihrer abschließenden Betrachtung kommt die Autorin zu dem Fazit: „In Anlehnung an den Begriff der Lebenswelt wird unter ‚Lesewelt’ die Basis für die Erkenntnisse und das Wissen, die aus dem Lesen gezogen werden, verstanden. Sie sind der Boden für die Erfahrungen mit der Welt der Bücher. Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, daß nicht nur eine Lesewelt, sondern mehrere ‚Lesewelten’ existieren, insbesondere für die verschiedenen Geschlechter, Altersgruppen oder Lebensphasen. Entscheidend ist, daß diese Lesewelten in Zusammenhang mit den sozial-strukturellen Bedingungen und dem historisch-gesellschaftlichen Kontext stehen, die den Rahmen für das Leseverhalten abgeben. … Als Resümee läßt sich festhalten, daß die Lesewelten niemals losgelöst vom biographischen, individuellen und historisch-gesellschaftlichen Kontext betrachtet werden sollten. Sie werden somit auch durch die ‚Lebenswelten’ bestimmt.“ (Gilges, 1992, S. 180f.).
Diese Begründungszusammenhänge werden auch im Ausblick nochmals deutlich: „Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit zeigen somit zwar, daß sich die Nutzung von Büchern geschlechtsspezifisch unterschied und diese Differenzen nicht durch Einflüsse von intervenierenden Variablen aufgehoben wurden, daß jedoch Annäherungsprozesse durch eine qualifizierte Schulbildung stattfanden. Ein höheres Bildungsniveau führt demnach vor allem zu einer Verbreiterung der Leseinteressen. …
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Betrachtet man die Funktionen des Lesens für Männer und Frauen ‚insgesamt’ im Zeitverlauf, zeigten sich 1988 die größten Differenzen. Frauen lasen, wenn sie Bücher einseitig verwendeten, immer häufiger zur Unterhaltung, Männer hingegen seltener, wobei Männer zur Unterhaltung wohl immer mehr das Fernsehen nutzen.
Die aufgezeigten geschlechtsspezifischen Unterschiede müßten auch in der Erziehung berücksichtigt werden. Denn meine Untersuchung ergab, daß im Elternhaus entscheidende Ausgangsbedingungen für das spätere Leseverhalten geschaffen werden. Wurden die Kinder schon früh zum Lesen angeregt, resultierte daraus eine positive Beziehung zu Büchern und eine qualifizierte Buchnutzung. Da Jungen eine geringere Lesefreude, Leseausdauer und größere Leseschwierigkeiten besitzen, außerdem eher zu bildhaften Medien wie dem Fernsehen und Comics neigen, müßten sich die Eltern ihnen besonders intensiv widmen. Eigentlich müßten es nicht die Mädchen sein, die stärker zum Lesen ‚verführt’ werden, sondern es sollten vielmehr die Jungen sein, die zum Lesen durch schöne Bücher, gemeinsame Besuche von Buchhandlungen und Büchereien angeregt werden sollten.“ (Gilges, 1992, S. 184).
Im Jahr 2007 greift ein Medienforscher und Pädagogik-Professor die Thematik auf und äußert sich im ‚Börsenblatt - Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel’ zu einer „Kölner Lesestudie von Christine Garbe aus dem Jahr 1993“ (Kaminski, 2007, S. 24).
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Die Studie mit dem Titel ‚Frauen lesen’ enthält „Untersuchungen und Fallgeschichten zur ‚weiblichen Lektürepraxis’ und zur literarischen Sozialisation von Studentinnen“ (Garbe, 1993, S. 1) und stellt fest, dass die Leseforschung bis vor kurzem mit einer Nomenklatur gearbeitet hat, „die nach Alter, familialer Herkunft oder Schulbildung fragte, nur selten aber nach dem Geschlecht. Wo sie es dennoch tat, stellte sich schnell heraus: ‚Der Leser’ ist in Wirklichkeit eine Leserin.“ (Garbe, 1993, S. 4). Theoretisch und empirisch nähert sich die Untersuchung dem Phänomen der weiblichen Lektüre, und in dieser noch seltenen geschlechterdifferenzierenden Analytik liegt auch ihr Verdienst.
Der Pädagogik-Professor Kaminski zieht daraus seine ganz individuellen Schlüsse.
Die Autorin der Studie „hat zu bedenken gegeben, dass die Leseforschung sich ihres ‚treuen Objektes’ unsicher geworden sei. Was bisher selbstverständlich als der Leser benannt wurde, erweist sich immer mehr als Leserin: Das literarische Publikum ist überwiegend weiblich.“ (Kaminski, 2007, S. 26).
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Der Rezensent liefert Erklärungsmodelle aus biologischer, kulturhistorischer, sozialisationstheoretischer und psychoanalytischer Sicht und gelangt zu dem Schluss: „Bringen wir diese Konzepte mit dem Leseverhalten in Zusammenhang, ergibt sich daraus, dass die literarische Kommunikation von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern unterschiedlich ausfallen muss. …
Wir gelangen erneut zu der paradoxen Aussage: Der Leser ist weiblich. Aber Sinn macht dieser Satz erst, wenn wir mitbedenken, dass die eben genannten Strukturmerkmale weiblicher und männlicher Identitätsbildung nicht identisch sind mit realen Sozialisationsverläufen. Es lassen sich sehr wohl Merkmale ‚weiblicher’ Identität bei Männern finden und entsprechend ‚männliche’ Leseweisen bei Frauen. Lesen hat weibliche Qualitäten nicht im biologischen Sinne, sondern allein - dem englischen Wort ‚gender’ entsprechend - durch seine soziale Präformierung. Deshalb: Tough guys don’t read oder auf deutsch: Echte Kerle lesen nicht!“ (Kaminski, 2007, S. 26).
Eben dies haben zunehmend auch die Zeitungen und Zeitschriften für Politik und Wirtschaft festgestellt. So meldete ‚Der Spiegel’: „Ansonsten sind Frauen für ‚Frankfurter Allgemeine’, ‚Welt’ und ‚Financial Times Deutschland’ wie Afrika. Jeder weiß, dass der Kontinent existiert. Trotzdem spielt er kaum eine Rolle.
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Doch in den Chefetagen der Verlage hat sich längst herumgesprochen, dass es so nicht weitergehen kann. Das hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun, sondern mit schlechter Auflage.
Die Zeitungsleser sind auf der Flucht. Allein im vergangenen Jahr haben die deutschen Zeitungsverlage rund 400.000 Abonnenten und Käufer verloren. Der Negativtrend ist seit 1993 ungebrochen und bescherte den Zeitungen einen Auflagenverlust von mehr als sechs Millionen verkaufter Exemplare - mehr als ein Fünftel. Die Auflagen bröckeln nicht, sie sind im freien Fall.
Erst dachten die Verlagsmanager, das gehe von allein vorbei. Doch das erwies sich als falsch. Dann setzten sie auf die Jungen. Die interessierte das wenig. Und jetzt ziehen viele Verlage ihre letzte Karte - sie robben sich an die Frauen heran.“ (Bonstein/Brauck, 2006, S. 98).
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Die Verleger stellen sich darauf ein, dass „Frauen in der Berichterstattung mehr Fairness erwarten“, „Zynismus und Häme müssen nicht sein“, ebenso wenig „martialische Kampfbegriffe“ und „protzige Unternehmensinsignien“ (Bonstein/Brauck, 2006, S. 100).
Als die Wochenzeitung ‚Die Zeit’ Titelgeschichten brachte, „die sich mit dem Rollenbild von Frauen und Männern befassten“, wurden sie „zu den meistverkauften Titeln des Jahres“ (Bonstein/Brauck, 2006, S. 99).
Wenn sich diese Erkenntnis durchsetzt, wird wohl auch die Zahl der Publikationen, die sich gezielt mit der Gender-Thematik im Mediennutzungsverhalten befasst, künftig steigen.
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Nach der bisherigen, eher kursorischen Auswertung historischer und monografischer Publikationen und Studien zum Lese- und Mediennutzungsverhalten der Geschlechter, soll im Folgenden eine differenziertere Positionsbestimmung aus derzeit verbindlichen Quellen erfolgen, als Grundlagenermittlung für eine künftige genderbewusste Medienpolitik.
Da neben Familiensozialisation und Bildungsgrad die Altersstufen besonderen Einfluss auf das Mediennutzungsinteresse haben, werden sie in den Studien häufig als vorrangiges Strukturierungskriterium verwendet.
Initiierend für neuere Untersuchungen zu Mediennutzung und Lesekompetenz hat sich vor allem die PISA-Studie aus dem Jahr 2000 erwiesen. Ihre aufrüttelnden Ergebnisse zur Leseleistung deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich führten zu zahlreichen strukturreformerischen Überlegungen wie auch zu verifizierenden Einzelanalysen.
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Da die Datenerhebung auf die Gruppe der fünfzehnjährigen Jugendlichen eingeschränkt war, sollen ihre Aussagen im Kontext von Kapitel 5.2.2 untersucht werden.
Unter dem Eindruck von PISA und angesichts der wachsenden Durchdringung der Haushaltsausstattungen mit Geräten der Unterhaltungselektronik erfährt die Mediennutzung der Kinder zunehmende Beachtung. Eltern und Pädagogen werden sensibilisiert, der Medienerziehung erhöhte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.
Seit 1999 untersucht die Studienreihe KIM (Kinder und Medien) den Medienumgang sechs- bis dreizehnjähriger Kinder in Deutschland. Die repräsentative Langzeitstudie ist ein Forschungsprojekt des ‚Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest’. Besondere Aussagekraft erhält die Studie durch die Einbeziehung der Eltern in die Befragung, wie auch durch die kontinuierliche geschlechterspezifische Differenzierung bei nahezu allen Fragestellungen.
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Themen der KIM-Studie 2006:
Bei den achtzehn vorgegebenen Themeninteressen haben Freundschaft, Freunde, Freundeskreis oberste Priorität. Bücher und Lesen nehmen Rang 15 ein.
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„Mädchen und Jungen unterscheiden sich in einigen Punkten hinsichtlich ihrer Präferenzen. Jungen finden mehr Gefallen an Sport, Computer, Computerspielen, Internet, Autos und Technik. Tiere, Musik, Stars, Schule, Mode, Umwelt und Bücher sind dagegen eindeutige Mädchenthemen. Ein vergleichbares Interesse zeigen Jungen wie Mädchen an den Themen ‚Freundschaft’, ‚Handy’, ‚Kino/Filme’ und ‚fremde Länder’.“ (Kutteroff, 2007, S. 5).
Bücher und Lesen für sehr interessant halten 24 % der Mädchen und 7 % der Jungen (vgl. Kutteroff, 2007, S. 6).
Die technische Ausstattung der befragten Haushalte wird als sehr gut eingestuft. Die geschlechterdifferenzierte Auswertung zum Gerätebesitz der Kinder ergibt nahezu durchgängig eine höhere Ausstattungsrate bei den Jungen.
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Bei den Freizeitaktivitäten ist das Fernsehen die häufigste Tätigkeit, nahezu gleichauf mit Hausaufgaben und Lernen. Hohe Priorität auch hier: Freunde treffen, draußen und drinnen spielen. Von 31 vorgegebenen Aktivitäten findet sich das Bücherlesen auf Rang 16 und der hier eigens ausgewiesene Bibliotheksbesuch auf Rang 28, vor Kinobesuch, Foto- und Videoherstellung. „Bei den Freizeitaktivitäten unterscheiden sich Jungen und Mädchen in einigen Punkten: Jungen nutzen häufiger Computer und Videospiele, treiben mehr Sport und lesen mehr Comics. Mädchen dagegen widmen sich häufiger kreativen Tätigkeiten, musizieren, beschäftigen sich mehr mit Tieren und lesen häufiger Bücher.“ (Kutteroff, 2007, S. 11).
Bezieht sich die Fragestellung nicht auf Häufigkeit und Dauer, so werden die bereits hervorgetretenen Präferenzen von Jungen und Mädchen auch bei den Lieblingsbeschäftigungen bestätigt: „Jungen treffen sich lieber mit Freunden, spielen lieber draußen, treiben häufiger Sport und nennen die Computernutzung als liebste Freizeitaktivität. Entsprechend interessieren sich auch mehr Jungen für Computerspiele und den Gameboy. Einigkeit besteht beim Fernsehen, das für Jungen und Mädchen die gleiche Bedeutung hat. Mädchen beschäftigen sich lieber mit Tieren und wählen kreative Tätigkeiten.“ (Kutteroff, 2007, S. 12).
Bei der speziellen Frage nach der Bedeutung von Büchern und Lesen ergibt die Studie, dass sich das Lesen als Freizeitbeschäftigung trotz des immer leichteren Zuganges zu elektronischen Medien über die Jahre relativ gut behaupten konnte. „Aktuell lesen 49 Prozent der Kinder zumindest einmal pro Woche in einem Buch (2000: 40 %, 2003: 57 %). Jeden oder fast jeden Tag greifen 14 Prozent zu einem Buch (2000: 15 %, 2003: 13 %).
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Knapp die Hälfte der Kinder liest gerne oder sehr gerne Bücher, ein Drittel liest eher ungern. Dabei verbringen Mädchen deutlich lieber ihre Freizeit mit Büchern als Jungen: Während jedes vierte Mädchen sehr gerne liest, kann dies nur jeder vierzehnte Junge von sich behaupten. Der Anteil der Nicht-Leser hat sich von sieben Prozent in 2005 auf aktuell 14 Prozent verdoppelt.“ (Kutteroff, 2007, S. 27).
Ob sich das grundsätzliche Interesse am Lesen auch im alltäglichen Leseverhalten niederschlägt, soll die Frage nach dem aktuell gelesenen Buch klären. „Demnach lesen 44 Prozent der Kinder, die zumindest selten lesen, gerade ein Buch, Mädchen (54 %) deutlich häufiger als Jungen (35 %).“ (Kutteroff, 2007, S. 28).
Ihre eigentliche Aussagekraft erhalten diese Ermittlungen im Zusammenhang und im Vergleich mit der Computernutzung durch Kinder. Computer und Internet gehören mittlerweile ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag. „Aktuell zählen 81 Prozent aller Sechs- bis 13Jährigen zum Kreis derer, die bereits Erfahrung mit dem Computer gesammelt haben, wobei der Anteil der Jungen mit 85 Prozent neun Prozentpunkte über dem der Mädchen liegt. Bei den Sechs- bis Siebenjährigen zählen 57 Prozent zu den Computernutzern, dieser Anteil steigt mit zunehmendem Alter der Kinder schnell auf über 90 Prozent an. Im Vergleich zur Vorjahresuntersuchung zeigt sich insgesamt ein Anstieg um fünf Prozentpunkte, der zwar fast ausschließlich auf das Konto der Jungen geht, gleichzeitig aber über alle Altersgruppen hin zu beobachten ist.“ (Kutteroff, 2007, S. 29). Zu den intensiven Nutzern zählt ein Drittel der Jungen gegenüber einem Viertel der Mädchen.
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Den Umgang mit dem Computer lernen die Kinder zu 67 Prozent von ihren Vätern, zu 40 Prozent von ihren Müttern. Freunde, Geschwister und Lehrer spielen eine geringere Rolle. „Geschlechtspezifisch zeigt sich nur eine Auffälligkeit - Mädchen (45 %) lernen häufiger von ihren Müttern als Jungen (35 %).“ (Kutteroff, 2007, S. 31).
In Familien mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1500 Euro, also häufig bei Alleinerziehenden, spielen Mütter und Schulen für den Computerumgang der Kinder eine wesentlich wichtigere Rolle.
Auch unterliegt die Computernutzung der Kinder dem Reglement durch die Eltern, wobei die Restriktionen mit zunehmendem Alter der Kinder schrittweise abnehmen.
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„Häufiger als Jungen nutzen Mädchen den Computer als Lerninstrument oder für schulische Zwecke, sie schreiben mehr Texte und malen bzw. zeichnen häufiger. Computerspiele hingegen werden - ob alleine oder gemeinsam mit anderen - sehr viel intensiver von Jungen gespielt.“ (Kutteroff, 2007, S. 32).
Auch die Nutzung des Internet wird den Kindern zunehmend vertraut. Bei den Acht- bis Neunjährigen sind es 46 Prozent, bei den ab Zehnjährigen über 80 Prozent, die das Internet nutzen, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Bei Fragen und Problemen sind auch hier die Eltern erste Ansprechpartner, die Väter zu 64 Prozent, Mütter zu 39 Prozent.
„Interessantes Detail: Jungen wenden sich bei Problemen nach den Vätern (63 %) zunächst an Freunde (37 %) und erst dann an ihre Mütter (33 %), bei Mädchen liegen die Eltern (Väter: 66 %, Mütter: 46 %) deutlich vor den Freunden (29 %).“ (Kutteroff, 2007, S. 42).
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Die unterschiedlichen Interessen von Jungen und Mädchen zeigen sich auch bei der Nutzung von Online-Diensten. Mädchen suchen verstärkt nach Informationen für die Schule und sind im kommunikativen Bereich aktiver, also Chatten, E-Mail, Newsgroups. Jungen nutzen vorrangig Online-Spiele und laden häufiger Spiele-, Musik- und andere Dateien aus dem Internet.
Zusammenfassend kommt die Studie zu den folgenden genderspezifischen Kernaussagen: „Eine Analyse nach Geschlecht zeigt, dass Jungen und Mädchen nennenswerte Unterschiede nur beim Lesen (Jungen: 17 Min., Mädchen: 26 Min.) und bei der Computernutzung (Jungen: 48 Min., Mädchen: 33 Min.) aufweisen. Im Altersverlauf der Kinder steigen die Nutzungswerte für Fernseher, Computer und Internet deutlich an, für Radio und Bücherlesen bleiben sie weitgehend stabil.“ (Kutteroff, 2007, S. 58).
Nach Ansicht der Haupterzieher hat das Bücherlesen nach wie vor einen besonders hohen pädagogischen Stellenwert. „Vor allem mit Fernseher, Computerspielen und Computern allgemein, aber auch mit dem MP3-Player verbringen die Kinder in der Wahrnehmung der Haupterzieher zu viel Zeit. Zu wenig Zeit wird vor allem Büchern gewidmet, einige Befragte sind der Ansicht, dass ihre Kinder mehr Radio hören und häufiger das Internet nutzen könnten.“ (Kutteroff, 2007, S. 61).
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Durchgängig ermittelt die Studie die Bedeutung des familiären Umfeldes für die Mediennutzung der Kinder und unterstreicht damit die Vorbildfunktion der Eltern. Neben diesen sieht sie „auch die klassischen Bildungsträger gefragt, die Auseinandersetzung mit dem breitgefächerten Medienangebot zum festen Lehrprogramm zu machen. Kinder für die digitale Welt stark und kompetent zu machen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nur gemeinsam gelingen kann.“ (Kutteroff, 2007, S. 67). Neben den Schulen sind hierbei die Öffentlichen Bibliotheken angesprochen und gefordert.
Wesentlich breitere Aufmerksamkeit als das Kindesalter erfährt das Lese- und Mediennutzungsverhalten der Jugendlichen. Zwar gilt diese Altersgruppe traditionell als schwer erreichbar für die Ziele der Leseförderung, doch erst die PISA-Studien machten Bildungsdefizite auf plakative Weise deutlich, im internationalen, nationalen und regionalen wie auch geschlechterspezifischen Vergleich.
Das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD vorgelegte ‚Programme for International Student Assessment’ PISA ist ein Programm zur zyklischen Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation. Hiermit sollen den OECD-Mitgliedsstaaten vergleichende Daten über die Ressourcenausstattung, individuelle Nutzung sowie Funktions- und Leistungsfähigkeit ihrer Bildungssysteme zur Verfügung gestellt werden. Die Indikatoren beziehen sich - in priorisierender Reihenfolge - auf die Bereiche Lesekompetenz (im Jahr 2000), mathematische Grundbildung (im Jahr 2003), naturwissenschaftliche Grundbildung (im Jahr 2006), sowie fächerübergreifende Kompetenzen, wie zum Beispiel selbstreguliertes Lernen und Vertrautheit mit Computern. Zielpopulation sind fünfzehnjährige Schülerinnen und Schüler, die noch der Vollzeitschulpflicht unterliegen.
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Dass die Studien mit der Untersuchung der Lesekompetenz beginnen, begründet sich in der Überzeugung, dass die Lesefähigkeit die Basis- und Schlüsselqualifikation für alle weiteren kognitiven Fähigkeiten darstellt.
Vor dem Hintergrund dieser Kenntnis erzielt Deutschland Rang 21 von 32 teilnehmenden Staaten und ist schockiert.
Auswertende Studien, zum Beispiel des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung, kommen zu folgenden Ergebnissen:
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Neben diesen Mittelwertunterschieden fällt insbesondere die Streuung der Leseleistungen auf:
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Da Deutschland insgesamt nur auf Rang 21 liegt, ist der Anteil der Leistungsschwachen also besonders auffällig: Während im Durchschnitt aller OECD-Mitgliedsstaaten 6 Prozent der Schülerinnen und Schüler den Anforderungen der Kompetenzstufe I nicht gewachsen sind, liegt der Anteil in Deutschland bei fast 10 Prozent.
Diese Länderunterschiede sind nicht monokausal zu erklären, sondern hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab. Bemerkenswert ist allerdings folgende Feststellung:
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„Der wichtigste Befund dieser Analyse ist, dass Lernstrategiewissen, Decodierfähigkeit und Leseinteresse neben der kognitiven Grundfähigkeit einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung interindividueller Unterschiede in der Lesekompetenz leisten. Da mit gutem Grund angenommen werden kann, dass die drei genannten Faktoren pädagogisch beeinflussbar sind, geben die Ergebnisse Hinweise für Fördermaßnahmen.“ (Artelt, 2001, S. 18).
Insgesamt hat Deutschland bei den folgenden PISA-Studien mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften einen mittleren Rang belegt und bei der fächerübergreifenden Kompetenz Problemlösen sogar eine signifikant über dem OECD-Durchschnitt liegende Platzierung erreicht. Auch die Lesekompetenz hat sich ein wenig, jedoch nicht signifikant, verbessert. Sie bleibt vorrangiges Handlungserfordernis.
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Des Weiteren haben die Ergebnisse der internationalen Vergleichsuntersuchungen auch einen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und spezifischen Interessen und Kompetenzen aufgedeckt. „Die PISA-Studie hat bei der Lesekompetenz und der mathematischen Grundbildung signifikante Unterschiede über die Ländergrenzen hinweg festgestellt … Während Mädchen im Allgemeinen über eine höhere Lesekompetenz verfügen, erzielen Jungen auf mathematischer Ebene bessere Ergebnisse, auch wenn ihre Überlegenheit dort nicht so deutlich ausfällt wie die der Mädchen beim Lesen. Im naturwissenschaftlichen Bereich hat sich entgegen früherer Studien (TIMSS) kein Vorsprung gezeigt.“ (Schnöbel, um 2001, S. 1).
Die PISA-Studien haben also für Deutschland zwei nachhaltige Erkenntnisse hervorgebracht: Die Lesefähigkeit der Jugendlichen liegt unter dem internationalen Durchschnitt, und hier insbesondere die der männlichen Jugendlichen.
Unabhängig von der Platzierung der Länder zeigt sich die Geschlechterspezifik als international durchgängiges Merkmal: Mädchen lesen anders, sie lesen anderes, und sie lesen besser als Jungen - in allen 32 getesteten Staaten.
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Die Studien selbst haben bewusst keine Ursachenforschung betrieben, mit ihren unerwarteten und aufrüttelnden Ergebnissen jedoch eine Reihe von Untersuchungen, Analysen und Maßnahmenkatalogen nach sich gezogen, deren Fokus nun auch verstärkt auf die Geschlechterspezifik gerichtet wird.
Die Lesedefizite der männlichen Jugendlichen im Blick, erfolgen Zuweisungen wie ‚Risikogruppe’, ‚Sorgenkinder’, ‚Schulversager’, ‚Amokläufer’, ,Monster mit Milchgesichtern’ oder auch ‚kleine Helden in Not’ und ‚arme Jungs’ (vgl. Daubert, 2003, S. 3f.).
Die durch die PISA-Studien ausgelöste Debatte hat das Problembewusstsein geschärft, sodass nachfolgende Studien nicht mehr umhin kommen, die Bedeutung der Leseförderung einerseits sowie die Geschlechterspezifik andererseits zum Untersuchungsgegenstand zu machen und diese einer zunehmend differenzierten Betrachtung zu unterziehen.
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So widmet die seit 1953 ‚15. Shell Jugendstudie Jugend 2006’ zwar ihr Hauptaugenmerk dem demografischen Wandel, berücksichtigt bei Erhebungen, Auswertungen und Interviews jedoch meist auch die geschlechterbezogene Sicht. Der Studie, die das Jugendalter zwischen 12 und 25 Jahren definiert, sind knappe, äußerst prägnante Kernaussagen vorangestellt, auch zur Geschlechterspezifik. „Junge Frauen sind heute eine durchsetzungswillige und leistungsstarke Generation, die Gleichberechtigung fordert und sich - ganz pragmatisch - nicht mehr in lange Grundsatzdebatten verstrickt. …
Im Gegensatz zu Mädchen reagieren Jungen bei Alltagsbelastungen deshalb häufig mit externalisierenden Verhaltensweisen. Sie tragen ihre Überforderung aus sich heraus und signalisieren durch Unruhe, Aktivismus, Aggressivität und erhöhten Drogenkonsum innere Spannungen. … Deshalb ist ihr Weg zur Neudefinition ihrer Geschlechtsrolle möglicherweise noch lang.“ (Hurrelmann, 2006, S. 37f.).
Über die bekannten Shell Jugendstudien hinaus konzentrieren sich spezialisierte Untersuchungen auf das Mediennutzungsverhalten, so zum Beispiel die jährlichen JIM-Studien. Unter dem Titel ‚Jugend, Information, (Multi-)Media’ erstellt der ‚Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest’ seit 1998 regelmäßig Basisstudien zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland.
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Da die JIM-Studien in ihrer Grundkonzeption den KIM-Studien für das Kindesalter entsprechen, die bereits in Kapitel 5.2.1 ausgewertet wurden, sollen im Folgenden lediglich diejenigen Aussagen einer näheren Betrachtung unterzogen werden, die profilierte Erkenntnisse über Leseverhalten und Geschlechterdifferenz vermitteln sowie zu diesen Schwerpunktaspekten Entwicklungsunterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen.
Für das Jahr 2006 stellt die Studie eingangs fest: „Das Freizeitverhalten der 12- bis 19-Jährigen ist - lässt man die Mediennutzung außen vor - seit Jahren sehr stabil.“ (Kutteroff, 2006, S. 6). In diesem Zusammenhang erhält auch die Bibliotheksnutzung jeweils eine eigene Auswertung. Der Bibliotheksbesuch gehört also, wenn auch nicht zu den Favoriten, so doch zu den selbstverständlichen und regelmäßigen Freizeitaktivitäten, gleichermaßen für Jungen wie Mädchen.
Erhebliche geschlechterspezifische Unterschiede gibt es allerdings im privaten Mediennutzungsverhalten. „Entsprechend der höheren Ausstattung nutzen Jungen und junge Männer Computer und auch das Internet häufiger, vor allem aber Computer- und Konsolenspiele, die eine Domäne der Jungen sind. Fünfmal soviel Jungen wie Mädchen spielen regelmäßig mit der Spielkonsole am Fernseher oder am Computer. Mädchen bevorzugen dagegen Musikmedien, mit Ausnahme des MP3-Players, den Jungen häufiger nutzen. Ansonsten zeigen sich nur geringe Unterschiede: Mädchen sehen etwas häufiger fern, Jungen lesen öfter Zeitungen und Zeitschriften.“ (Kutteroff, 2006, S. 12f.).
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Die Affinität männlicher Jugendlicher zu Computer, Internet und Computerspielen zieht sich mit konstanter Deutlichkeit durch die gesamte Studie.
Ein eigenes Kapitel ist dem Lesen gewidmet: „Das Lesen von Büchern in der Freizeit ist bei Jugendlichen entgegen anderslautender Befürchtungen noch immer weit verbreitet. 40 Prozent geben an, täglich oder mehrmals pro Woche zum Buch zu greifen - fast die Hälfte der Mädchen, aber nur ein Drittel der Jungen.“ (Kutteroff, 2006, S. 21). Mit zunehmendem Alter nimmt die Lesehäufigkeit ab.
Deutlich aufgezeigt wird auch die Abhängigkeit des Leseverhaltens von der Schulbildung: Gymnasiasten lesen mehr, häufiger und eher freiwillig als Hauptschüler. „Während die Hälfte der Gymnasiasten zu den regelmäßigen Lesern zählt, sind es bei den Hauptschülern nur 30 Prozent. Auch ist der Anteil der Nicht-Leser bei Hauptschülern am höchsten.“ (Kutteroff, 2006, S. 57).
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Dass sich die Studie insgesamt vorrangig mit Nicht-Print-Medien beschäftigt, versteht sich von selbst. Sie gibt ein differenziertes Bild vom Nutzungsverhalten Jugendlicher im Hinblick auf Fernsehen, Radio, Computer und Computerspiele, MP3-Player und Handy und belegt somit, „wie wichtig der Aspekt der Medienpädagogik und die Vermittlung von Medienkompetenz ist. Die vorliegende Studie bietet hierzu grundlegende Daten zur Versachlichung der Diskussion und für die Planung medienpädagogischer Maßnahmen und Projekte.“ (Kutteroff, 2006, S. 59).
Ausgehend vom Datenmaterial der Studien gibt es diverse weitergehende Analysen: in größerer Zahl zu Leseverhalten und Leseförderung und in noch recht geringer Zahl zum geschlechterdifferenzierten Leseverhalten.
Beachtung verdienen daher die komprimierten Ausführungen der Professorin für Deutsche Sprache und Literatur, Christine Garbe, aus dem Jahr 2003. Sie nimmt die geschlechterbezogenen Passagen der PISA-Studie zum Anlass für interdisziplinäre Erklärungsmodelle aus der Lesesozialisationsforschung, der Entwicklungspsychologie und der psychoanalytischen Forschung, der Linguistik und Kognitionspsychologie. Mit der Erkenntnis ‚Mädchen lesen ander(e)s’ und der Forderung ‚Alle Mann ans Buch’ plädiert sie für weitergehende geschlechterdifferenzierte Analysen als Grundlage und zur Versachlichung einer geschlechtergerechten Leseförderung.
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Deutlich herausgearbeitet werden die Verbindungen zur Genderforschung: „Tatsache ist, dass in unserem historisch-spezifischen sozio-kulturellen Kontext die Einführung in die Schriftlichkeit und damit in die Welt der Literatur weitgehend durch Frauen geschieht: in erster Linie durch die Mütter, die in der frühkindlichen Vorlesepraxis und der gesamten familialen Lesesozialisation die Hauptrolle spielen, im weiteren Verlauf dann durch die Grundschullehrerinnen, die die Kinder im Prozess des Schriftspracherwerbs begleiten. Lesen (und übrigens auch Schreiben) wird somit von den Kindern als eine weiblich konnotierte kulturelle Praxis erlebt.“ (Garbe, 2003b, S. 23).
Während Mädchen hierin ein Vorbild erkennen können und/oder sollen, besteht die Entwicklungsaufgabe der Jungen „zur ‚Männlichkeit’ hingegen in der Loslösung von der Mutter. Konstitutiv für die Ausbildung von ‚Männlichkeit’ in einer patriarchalischen Gesellschaft ist die Ablösung von der Mutter - mit gravierenden Folgen für die männliche Psyche, wie die Psychoanalyse uns lehren kann.“ (Garbe, 2003b, S. 23).
Noch deutlicher macht dies eine Textpassage aus psychoanalytischer Sicht von Wolfgang Martens: Wenn der Junge „darüber hinaus eines Tages mitbekommt, wie wenig geachtet der Status des Mütterlichen in dieser Gesellschaft (immer noch) ist, wie geringschätzig die Tätigkeit des Mütterlichen und Hausfraulichen behandelt wird, wenn er wahrnimmt, wie sein Vater und die anderen erwachsenen Männer mit Anzug und Aktenkoffer in die männliche Welt der Bankenhochhäuser und chromblitzenden Büros entschwinden, wenn er im Fernsehen und in den Computerspielen mit den muskelbepackten Supermännern Bekanntschaft schließt, die im Asphaltdschungel für Recht und Ordnung sorgen, dann wird ihm endgültig klar, dass er nur einen einzigen glühenden Wunsch hat: So zu werden wie diese unendlich bewunderten Männer und alle Spuren des Weiblichen, die er noch aufweist, in ihm und an ihm zu tilgen.“ (zit. nach Garbe, 2003b, S. 24).
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Während es in der Literatur - abgesehen von dem bereits vieldimensionalen Prozess des Lesens - um das Erkennen komplexer Zusammenhänge und Kausalitäten, das Konstrukt der Erzähltechnik, die Psychologie der handelnden Figuren und ihrer Beziehungen und womöglich noch um soziale Belange geht, betonen die audiovisuellen Medien stärker die äußere Handlung. „Das gilt erst recht bei Bildschirmspielen. Jürgen Fritz, der umfangreiche empirische Untersuchungen zur Faszination von Computerspielen durchgeführt hat, kommt zu dem Schluss, dass ‚Macht, Kontrolle und Herrschaft’ die entscheidenden Motive sind, derentwegen Bildschirmspiele gespielt werden.“ (Garbe, 2003b, S. 26).
Unter Gender-Gesichtspunkten wird deutlich, „dass es sich um Eigenschaften handelt, die in der abendländisch-patriarchalischen Kulturgeschichte mit dem männlichen Geschlechtscharakter verknüpft sind: Der Mann muss den ‚Kampf ums Dasein’ meistern, er zieht hinaus ‚ins feindliche Leben’, erobert die Welt usw. Man könnte daher etwas krasser sagen: Bildschirmspiele sind ein ideales Medium, um die im 20. Jahrhundert arg beschädigte und demontierte ‚Männlichkeit’ wieder zu reparieren - wenigstens in der fiktiven Welt auf dem Bildschirm. Hier sind die ‚Kleinen Helden in Not’ wieder intakt.“ (Garbe, 2003b, S. 27).
Hier geht es um strategisch und taktisch angemessene Verhaltensweisen und Spielzüge, nicht um soziale Kontakte oder gar Beziehungspflege. Und dass die Jungen im Erkennen und Umgang mit Bildern, Tabellen und Grafiken den Mädchen nicht nachstehen, hat bereits die PISA-Studie über das Lesen nachgewiesen. Audiovisuelle Medien und Computer könnten also die Mühen des Lesens langer und komplexer Texte ersparen.
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Noch wird allerdings der Lese- und Schriftkultur, einschließlich literarischer Kultur, über ihre rein instrumentelle Funktion hinaus, ein unverzichtbarer Stellenwert in der Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung des Einzelnen sowie der Gestaltung sozialer Beziehungen und humaner gesellschaftlicher Verhältnisse beigemessen. „Jungen müssen darum die Chance erhalten, emotionale Kompetenzen nicht nur zu entwickeln, sondern auch in ihr Selbstbild zu integrieren. Dafür ist eine essentielle Voraussetzung, dass sich die ‚Männerbilder’ in unserer Gesellschaft wandeln.“ (Garbe, 2003a, S. 45f.).
Einen Beitrag dazu kann gezielte Leseförderung für Jungen leisten, wenngleich derzeit noch konzediert werden muss: „Die Diskussion über eine geschlechterdifferenzierende Leseförderung hat gerade erst begonnen; entwickelte Konzepte dazu liegen noch kaum vor.“ (Garbe, 2003a, S. 45).
Die vorhandenen Ansätze werden in Kapitel 5.3.4 untersucht. Im Folgenden wird das Kapitel 5.2 Mediennutzung nach Geschlecht und Alter zunächst mit dem Erwachsenenalter fortgesetzt.
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Als umfassendste und daher immer wieder zitierte Studie gilt die Untersuchung zum ‚Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend’ von Stiftung Lesen und Spiegel-Verlag, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, aus dem Jahr 2001 (vgl. Franzmann, 2001b).
Die repräsentative Gruppe der Befragten umfasst die Altersstufen ab 14 Jahre bis 60 Jahre und älter, wobei der Anteil der Jugendlichen unter 8 Prozent liegt. Dies sei hier einschränkend erwähnt, wenn die folgende Auswertung von Männern und Frauen spricht.
Die Studie gliedert sich in Themenblöcke, wobei das Hauptaugenmerk jeweils auf einem Vergleich zur Vorgängerstudie aus dem Jahr 1992 liegt.
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Die Geschlechterspezifizierung bildet in den meisten Erhebungen ein Kriterium unter vielen.
Wie in den Jugend-Studien wird auch hier eingangs als auffälligste Veränderung die rasant wachsende Ausstattung der privaten Haushalte mit Geräten der Unterhaltungselektronik und Computern genannt.
So stellt die Studie fest, dass Bücher seltener gelesen werden: „Die 1992 wie 2000 gestellte Frage nach der Häufigkeit der Buchlektüre zeigt einen Rückgang an der Spitze und eine Zunahme am Ende der Skala. Weniger Bundesbürger sagen heute, dass sie täglich Bücher lesen, und mehr bezeichnen sich als Nichtleser.“ (Franzmann, 2001a, S. 10).
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Allerdings werden mehr Bücher gelesen: „Seit 1992 ist die Zahl der gelesenen Bücher gestiegen. Die Gruppe mit einem Lesequantum zwischen 6 und 20 Büchern im Jahr hat um 5 Prozent zugenommen. Diesen Zuwachs bewirken vor allem die mehr lesenden Frauen, überwiegend mit Abitur beziehungsweise Hochschulausbildung.
Am deutlichsten ist die Zahl der gelesenen Bücher bei den Viellesern angestiegen. Ein Indiz dafür, dass Vielleser ihren Bücherkonsum im Vergleich mit Durchschnitts-, Wenig- oder Kaumlesern auch besonders stark ausweiten.“ (Franzmann, 2001a, S. 12).
Nach den Feststellungen, dass seltener Bücher gelesen werden, jedoch mehr Bücher gelesen werden, wird folgerichtig die Frage ‚Auf dem Weg zum Lese-Zapping?’ gestellt. Bei den Antworten treten deutliche Geschlechterdifferenzen zutage: Während die Frauen häufiger ‚ein Buch von vorn bis hinten durchlesen’ mit gelegentlichen ‚Lesepausen’, lesen die Männer eher ‚nur das Interessanteste und überfliegen manchmal die Seiten’ und ‚lassen beim Bücherlesen auch mal etwas aus’ (vgl. Franzmann, 2001a, S. 19).
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Und die Lesertypologie erbringt: „Vielleser, die in der Gesamtbevölkerung 28 Prozent ausmachen, sind eher Frauen als Männer (31 versus 25 Prozent) und seltener über 50 Jahre alt (24 Prozent).“ (Tullius, 2001, S. 62).
Wird nach den bevorzugten Buchgattungen, Genres und Inhalten gefragt, so stellt sich heraus: „Literatur lesen hauptsächlich Befragte mit höherer Bildung und Leser, die mehr als 20 Bücher pro Jahr lesen. Vor allem Bücher zu Politik und Technik lesen hauptsächlich Männer, eher Befragte mit höherer Bildung, Leser die zwischen 11 und 20 Bücher pro Jahr lesen und Computer- beziehungsweise Internet-Nutzer sind. Die Abenteuerleser findet man vor allem bei den unter 30-Jährigen und bei Befragten mit mittlerer Bildung. Typische Ratgeberleser sind Frauen, Befragte der mittleren Altersgruppe mit niedriger Bildung und Leser, die eher sporadisch Bücher lesen.“ (Tullius, 2001, S. 71).
Auch bei der Auswertung zur Lesesozialisation durch Familie, Freunde, Institutionen ergeben sich Unterschiede: „Befragte mit positivem Familieneinfluss sind besonders häufig weiblich und zwischen 40 und 59 Jahre alt. Sie sind deutlich höher gebildet, lesen häufig Bücher und nutzen eher einen PC. …
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Der Einfluss von Kindergarten oder Schule hat sich mehr auf männliche Befragte und in der Altersgruppe bis 39 Jahre ausgewirkt. Die Anzahl der gelesenen Bücher und die Häufigkeit des Lesens sind in dieser Gruppe eher gering.“ (Tullius, 2001, S. 77f.).
Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit Kaufverhalten und Buchhandelsbesuchen. Der Buchhandel wird als nach wie vor mit Abstand wichtigster Vertriebsweg für Bücher von knapp zwei Dritteln aller Befragten mehr oder weniger häufig frequentiert. „2 Prozent der Deutschen suchen wöchentlich eine Buchhandlung auf, 11 Prozent gehen ein- bis zweimal im Monat dorthin, 19 Prozent ein- bis zweimal im Vierteljahr, 14 Prozent etwa halbjährlich, 7 Prozent einmal pro Jahr und 12 Prozent noch seltener. Dass 35 Prozent der Bevölkerung nie in Buchhandlungen gehen, ist bedenklich.“ (Rojan/Schroth, 2001, S. 104).
Der Internet-Buchhandel befindet sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch im Aufbau, wird peripher erwähnt, verzeichnet daher jedoch noch keine nennenswerten Marktanteile.
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Zur Geschlechterdifferenzierung heißt es: „Frauen sind als häufigere Buchleser und käufer auch öfter in Buchhandlungen anzutreffen. 34 Prozent der Frauen gehen mindestens einmal im Quartal in Buchhandlungen (Männer: 28 Prozent). Andererseits besuchen 31 Prozent von ihnen Buchhandlungen überhaupt nicht (Männer: 39 Prozent).“ (Rojan/Schroth, 2001, S. 104). Hier darf allerdings angenommen werden, dass die Buchhandelsbesuche auch die Auswahl von Literatur zum Verschenken einschließen.
Ein ausführliches Kapitel der Studie ist der Medienkonkurrenz gewidmet. Die Dominanz des Fernsehens spielt in allen Untersuchungen eine herausragende Rolle. Es hat jedoch eher die zunehmenden Freizeitanteile besetzt als das Lesen existenziell gefährdet. Mit dem Siegeszug von Computer- und Internetnutzung flammt diese Diskussion erneut auf. Sie soll hier allerdings nur insoweit Berücksichtigung finden, als sie Erkenntnisse über die Unterschiede im Mediennutzungsverhalten der Geschlechter mit sich bringt.
Im Jahr 2000 nutzten 72 Prozent der Männer und 64 Prozent der Frauen das Internet in Beruf und Freizeit (vgl. Boesken, 2001, S. 131), Tendenz steigend. Parallel hierzu besagt die Studie: „Computernutzer lesen fast fünfmal so viele Fachbücher wie Nichtnutzer, und auch bei der Belletristik sind deutliche Unterschiede auszumachen, obwohl bei jenen die Belletristik generell keinen ganz so hohen Stellenwert einnimmt. Immerhin 62 Prozent aller Vielleser sind auch Computernutzer gegenüber nur 18 Prozent der Wenigleser. Im Übrigen haben Computernutzer auch schon in ihrer Kindheit mehr gelesen als Nichtnutzer.
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Deutlich mehr Computernutzer als Nichtnutzer (70 gegenüber 37 Prozent) haben im vergangenen Jahr Bücher gekauft, sie besitzen im Durchschnitt auch mehr Bücher als die Nichtnutzer und haben generell einfach mehr Erwartungen an Bücher, weil sie sich intensiver mit ihnen auseinander zu setzen scheinen.“ (Boesken, 2001, S. 133f.).
Insgesamt wird im Jahr 2000 etwa 20 Minuten pro Woche weniger gelesen als acht Jahre zuvor. Und der Rückgang bezieht sich allein auf die Belletristik. „Hervorzuheben sind dabei vor allem zwei Gruppen: Männer sowie (weibliche und männliche) Jugendliche und junge Erwachsene unter 30 Jahren. Während Männer insgesamt fast eine Dreiviertelstunde weniger lesen, liegt die Differenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sogar bei 74 Minuten pro Woche.
Bei Männern wird dieser starke Rückgang jedoch ausschließlich durch einen drastischen Einschnitt bei der Nutzungsdauer von Belletristik verursacht. Für unterhaltende Literatur wenden Männer über eine Stunde weniger Zeit pro Woche auf, wogegen sie fast eine halbe Stunde mehr Zeit für Fachliteratur aufbringen.“ (Boesken, 2001, S. 137f.).
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Diese Interessenverlagerung innerhalb der Nutzung von Büchern lässt sich ähnlich in der Gesamtbevölkerung beobachten, und „die Verschiebung von Belletristik auf Fachliteratur ist auch bei Frauen auszumachen. Obwohl sie zwar generell mehr Belletristik lesen als Männer, wenden sie inzwischen etwas weniger Zeit dafür auf und lesen verstärkt Fachliteratur. Bei der Gruppe der Frauen ist jedoch kein Rückgang der Gesamtnutzungszeit für Bücher zu verzeichnen.“ (Boesken, 2001, S. 138).
Der Studie ‚Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend’ wurde hier breiter Raum gegeben. Sie ist die umfassendste ihrer Art und wird wegen ihrer Seriosität auch Jahre später noch zitiert. Sie zeigt die Grundzüge eines in Entwicklung befindlichen Prozesses zum Mediennutzungsverhalten in Deutschland differenziert auf, einschließlich richtungweisender Aussagen zum geschlechterspezifischen Medienumgang.
Einen kurzen, stets aktuellen Überblick über das Leseverhalten in Deutschland vermittelt die jährlich erscheinende Broschüre ‚Buch und Buchhandel in Zahlen’ vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Zeigen sich gravierende Veränderungen zum Vorjahr, so geht sie auch auf altersstufen- und bildungsgradabhängige Auffälligkeiten im Verhalten bei Buchnutzung und Buchkauf ein.
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Auch die Geschlechterspezifik findet eine kurze Würdigung: „46 Prozent der Frauen nutzen täglich oder mehrmals in der Woche Bücher (ein Prozent mehr als im Vorjahr), der Anteil der Männer liegt mit 29 Prozent deutlich darunter und ist im Vergleich zu 2005 konstant geblieben.“ (Cronau, 2007, S. 17f.).
Aus derselben Tabelle ist zu ersehen, dass 35 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer ‚ungefähr einmal im Monat/seltener’ Bücher nutzen.
Trotz seines geringen Umfanges ist das kleine Jahrbuch ein zuverlässiger Indikator für das Buchklima in Deutschland. Die inländische Titelproduktion liegt im Jahr 2006 bei nunmehr 94.716 Erst- und Neuauflagen (vgl. Cronau, 2007, S. 58), und so manche Sorge um nachlassende Lesefreude erweist sich als unbegründet, zumindest jedoch als verfrüht. „Die Deutschen lesen gern - und greifen offenbar immer öfter zum Buch. … Das Hobby ‚Bücher lesen’ hat sich im Ranking 2006 auf Platz sechs hochgearbeitet - nachdem es viele Jahre lang fest auf den achten Platz abonniert und im vergangenen Jahr auf Platz sieben vorgerückt war …
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Erfreulich: Der Anteil der Bundesbürger, die sogar ‚besonders gern’ zum Buch greifen, ist im Vergleich zum Vorjahr noch einmal leicht gestiegen, und zwar von 20,4 auf 20,8 Prozent. Deutlicher zugelegt hat allerdings die Gruppe, die überhaupt nicht liest: Ihr Anteil liegt inzwischen bei 16,5 Prozent (Vorjahr: 15,5 Prozent). Ein weiteres Zeichen dafür, dass sich die Gesellschaft in Bildungsfragen immer stärker auseinander entwickelt. Zwei Plätze hinter dem Buch folgt das ‚Zeitschriften lesen’, das im Jahr 2000 noch zwei Plätze davor rangierte und damit auf längere Sicht an Beliebtheit verloren hat.
An der Spitze des Rankings gibt es dagegen keine Bewegung: Die Pole Position belegt nach wie vor ‚Musik hören’. Der Zweite Platz gehört dem Fernsehen. … Auf dem dritten Rang schließt sich bereits das ‚Tageszeitung lesen’ an.“ (Cronau, 2007, S. 15). Die Internetznutzung befindet sich im oberen Mittelfeld, Computerspiele etwa im mittleren Segment der Tabelle von insgesamt 44 genannten Freizeitaktivitäten.
Und auch die „Sorge, dass Bücher bei Jugendlichen aus der Mode kommen, scheint sich nicht zu bewahrheiten: Der Anteil der 14 bis 19-jährigen, die täglich oder mehrmals in der Woche Bücher nutzen, ist jedenfalls in der Allensbacher Analyse 2006 gleich um zwei Punkte gestiegen und liegt jetzt bei 45 Prozent.“ (Cronau, 2007, S. 19).
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Auch hier erfolgt der obligatorische Hinweis auf Zusammenhänge mit der Lesesozialisation und dem Bildungshintergrund sowie auf die wachsende Zahl der Nichtleser.
Bei Zusammenfassung der Kapitel 5.1 und 5.2 lassen sich folgende Erkenntniskerne exzerpieren:
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Nach bisheriger Erkenntnis kann gesagt werden, dass die Nutzung von Computer, Internet und Fachbuch durch Frauen erheblich gestiegen ist mit anhaltender Tendenz. Beim Umgang mit diesen Informationsträgern verringert sich also die Differenz zwischen Männern und Frauen.
Größere Zurückhaltung ist zu erkennen bei den Fragen nach Inhalten, ob sich also die Interessen der Geschlechter im Hinblick auf Informationen über Technik und Soziales, öffentliches und privates Leben, Beruf und Freizeit etc. eher annähern oder auseinander entwickeln.
In den zahlreichen Studien zum Lese- und Mediennutzungsverhalten wird dieses für die Allgemeinheit der Bürgerinnen und Bürger erforscht. Die überwiegende Zahl der Erkenntnisse gilt daher gleichermaßen für Medienkäufer wie Bibliotheksbenutzer. Zunehmend weisen die Untersuchungen die Bibliotheksbenutzer als Spezialgruppe einzeln aus und treffen Aussagen zum Interesse am Bibliotheksbesuch im Kontext anderer berufs- oder freizeitbedingter Informationsbedürfnisse.
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Diese Auswertungen mit oder ohne Teilaspekt Bibliothek sind wertvolle Grundlagen für den Bestandsaufbau und alle Maßnahmen im Zusammenhang mit Kundenorientierung und Marketing der Bibliotheken.
Parallel hierzu haben die Bibliotheken ihrerseits eine Fülle von Publikationen zum Mediennutzungsverhalten ihrer Klientel erstellt. Als seriöse Partner für die bibliothekarischen Verbände erweisen sich hier immer wieder die Stiftung Lesen, Bertelsmann Stiftung, Buchhändler-Vereinigung, Goethe-Institute, Universitäten sowie bibliotheksnahe Beratungsinstitute.
Aus eigener Kraft erstellen die Bibliotheken jährliche Erhebungen von der einstigen ‚Schnellstatistik’ bis zu den immer differenzierter werdenden Auswertungen der Deutschen Bibliotheksstatistik, die seit 1999 ausschließlich in elektronischer Version erscheint.
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Erfasst werden neben Medienbeständen, Erneuerungsquoten, Flächenmaßen, Öffnungsstunden, Personalstellen und Veranstaltungen auch die Kosten der Bibliotheken.
Die Mediennutzung je Bibliothek wird ermittelt durch die Anzahl der Entleihungen, unterteilt nach Medienarten, Bestandsumsatz, Bestandszu und abgänge etc.
Erhoben wird die Anzahl der Besucher bzw. Besuche einschließlich ihrer Teilnahme an Veranstaltungen.
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Ebenfalls erfasst ist die Zahl der angemeldeten Leser einschließlich der jährlichen Zu- und Abgänge.
Neben den Haupttabellen erfolgt eine Reihe von Einzelauswertungen, etwa bezogen auf die Einwohnerzahl oder in Relation zu Finanzpositionen. So ist die Deutsche Bibliotheksstatistik in ihrer Ermittlungstiefe und kontinuierlichen Erscheinungsweise ein Grundlageninstrument für jeden Bibliotheksleiter.
Eine wichtige Rolle für das Bibliotheksmanagement spielt auch der seit 1999 erstellte Bibliotheks-Index der Bertelsmann Stiftung und viele weitere Auswertungen zu Einzelaspekten der Mediennutzung in Bibliotheken.
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Die Leistung der Bibliotheken und ihre Nutzung lässt an Transparenz über Jahrzehnte keine Frage offen - bis auf eine.
Die geschlechterspezifische Mediennutzung in Bibliotheken ist bisher kaum zu ermitteln.
In der Regel erheben die Bibliotheken bei der Anmeldung eines Nutzers einen insoweit vollständigen Nutzerdatensatz, als dieser zum Nachweis des Verbleibs der entliehenen Medien, zur Festlegung von Leihfristen und Gebühren und zu möglichen Haftungsansprüchen erforderlich ist.
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Gleichzeitig dient der Datensatz für statistische Zwecke aller Art, zum Beispiel für eine Differenzierung der Kunden nach Alter oder Wohngebiet und Einzugsbereich.
In den 1970er Jahren untersagte der Datenschutz die durchgängige Abfrage nach Beruf und Bildungsabschluss. Stets zulässig war jedoch die Datenerhebung nach Geschlecht: männlich, weiblich, juristische Person. Hierzu liegen also traditionell Daten vor, finden jedoch keinen Eingang in überregionale und bundesweite Auswertungen.
Auf dieser Grundlage kann jede Bibliothek im Eigeninteresse eine Gender-Analyse vornehmen.
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Da die Deutsche Bibliotheksstatistik die Zahl der angemeldeten Leser verzeichnet, bedürfte es hier lediglich einer geschlechterspezifischen Differenzierung durch Nachmeldung der oben genannten Daten, um erste Gender-Erkenntnisse zu gewinnen.
Hierdurch nicht zu erfassen sind diejenigen Leser, die ohne zu entleihen die vielfältigen Angebote der Bibliothek nutzen sowie die Interessenschwerpunkte dieser Besucher. Dazu bedarf es gezielter Datenerhebungen.
Wie bereits aufgezeigt, hat es den Bibliotheken zu keiner Zeit an Interesse und Fähigkeit gemangelt, die eigenen Leistungen transparent zu machen - zur Außendarstellung wie auch als Planungsgrundlage für das Bibliotheksmanagement. Zu diesem Zweck bedienten sie sich des jeweils zeitgemäßen Instrumentariums. „Befragungen im Bibliotheksbereich scheinen Hochkonjunktur zu haben. Fast täglich wird in regionalen Tageszeitungen darüber berichtet. Meist sind es positive Meldungen über zufriedene Benutzer, die ohne ihre Bibliothek nicht leben könnten.“ (Stachnik, 1995, S. 5). Mit dieser Feststellung beginnt die Broschüre ‚Besucherbefragungen in Bibliotheken’, die bereits 1995 ‚Grundlagen, Methodik und Beispiele’ zum Thema zusammengetragen hat.
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Allerdings hat diese Selbstdarstellung von Bibliotheken neben ihrer Absicht als Marketinginstrument immer auch einen ernsten Anlass. „Es ist gut, wenn der Sinn und Zweck von Bibliotheken dadurch stärker in den Blick der Öffentlichkeit geraten, aber der Sinn und Zweck von Befragungen wären verfehlt, wenn nur nach außen demonstriert werden soll, daß der Status quo als ausreichend empfunden werden kann.
Jeder weiß, daß gerade kleinere und mittlere Bibliotheken aufgrund der angespannten Finanzlage ums Überleben kämpfen, und alle Bibliotheken gezwungen sind, ihre finanziellen Mittel optimal einzusetzen. Insofern sind Benutzerbefragungen kein Modetrend, sondern ein durchaus geeignetes Mittel, die Situation zu bewältigen.“ (Stachnik, 1995, S. 5).
Bereits drei Jahre zuvor und ebenfalls durch das Deutsche Bibliotheksinstitut herausgegeben, war eine umfangreiche zweibändige Publikation ‚Die effektive Bibliothek’ erschienen. Von 1989 bis 1992 fand das Projekt ‚Anwendung und Erprobung einer Marketingkonzeption für Öffentliche Bibliotheken’ statt. Es sollte die theoretisch erarbeiteten Erkenntnisse des ersten Marketing-Projektes von 1986/87 auf ihre praktische Verwendbarkeit hin überprüfen. Beteiligt waren drei Bibliotheken: Bielefeld, Bremen, vor allem die Statteilbibliothek in Bremen-Huchting, und Düsseldorf (vgl. Borchardt, 1992, S. 1). Die Publikation wurde seinerzeit mit großem Interesse in Fachkreisen aufgenommen. Neben den richtungweisenden Ausführungen zur Methodik, einschließlich Musterfragebögen, entstanden empirisch gestützte Rezeptionsprofile der so untersuchten Bibliotheken.
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Eine der Basisfragen gilt stets dem Geschlecht der Befragten. Auswertungen hierzu allerdings finden nur marginal statt. Einzig die Stadtbüchereien Düsseldorf stellen fest: „Signifikante Unterschiede zeigen sich bei der geschlechtsspezifischen Betrachtung zwischen Zentralbibliothek und Zweigbüchereien. Während sich in der Zentralbibliothek männliche (52,7 %) und weibliche (47,3 Prozent) Personen etwa die Waage halten und auch über die Altersverteilung hinweg keine größeren Schwankungen zeigen … , ist in den Zweigstellen der Anteil an weiblichen Besuchern mit 60 % deutlich überrepräsentiert. Verlaufen bei den Kindern und Jugendlichen die Kurven zunächst noch parallel, so klafft nach der Altersgruppe der 15 - 19jährigen die geschlechtsspezifische Verteilung deutlich auseinander. Offensichtlich bleiben nach der Schulzeit die weiblichen Besucher mit ihren Zweigstellen wesentlich länger verbunden als die männlichen … Bei den Erwachsenen sind es vor allem Hausfrauen, die an ihr Wohnumfeld gebunden sind und das Bibliotheksangebot vor Ort nutzen.“ (Salm, 1992, S. 3).
Nutzerbefragungen gehören seitdem zum Standard-Instrumentarium aller größeren Bibliotheken, wobei der Aspekt der Geschlechterspezifik seine marginale Bedeutung behielt. Die nunmehr entstandene Gender-Debatte hat in einigen Fällen bereits dazu geführt, wenn auch bisher nur zögerlich, diesem Thema erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen.
Das bereits in Kapitel 4.4.2.1 gewürdigte Gender-Audit der Stadt Köln aus dem Jahr 2004 kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie das soeben zitierte Beispiel Düsseldorf viele Jahre zuvor. „Während bei Kindern und Jugendlichen bis zur Altersgruppe der 6- bis 12-Jährigen das Geschlechterverhältnis noch ausgeglichen ist, beginnt der Anteil Mädchen den der Jungen kontinuierlich zu übersteigen, bis ab dem Alter von 16 Jahren ein stabiles Verhältnis von 1/3 männlichen und 2/3 weiblichen Nutzern erreicht ist.“ (Grote, 2004, S. 8).
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Im Hinblick auf die Bibliotheksstandorte wird festgestellt: „Mädchen und Jungen bis 18 Jahre nutzten in 2003 überwiegend die Statteilbibliotheken und die Busse.“ (Grote, 2004, S. 10). Und die Erwachsenen: „Nach wie vor gilt, dass Männer überproportional die Zentralbibliothek aufsuchen, während Frauen die Stadtteilbibliotheken bevorzugen. Diese Favorisierung lässt sich nicht zuletzt damit erklären, dass das ortsnahe Buchangebot keine langen Anfahrtswege erfordert und somit zeit- und kostengünstiger wahrzunehmen ist.
Bei Männern kommt hinzu, dass die Zentrale oft leichter von ihrem Arbeitsplatz aus erreichbar ist und sie dort einen ihrem Lesebedürfnis entsprechenden Sachbuchbestand vorfinden, wie er an anderer Stelle nicht so umfassend verfügbar ist.“ (Grote, 2004, S. 11).
Ist auch die Kölner Analyse noch fragmentarisch und vorläufig, mangels differenzierterer Daten, so lässt sie doch bereits die Erkenntnisse zu, dass auch Bibliotheksnutzung geschlechterspezifisch erfolgt und dass Sparmaßnahmen in erster Linie Frauen und Kinder treffen.
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Im Gegensatz zu dieser speziellen Datenauswertung und ihren fortgeschrittenen Einsichten nehmen sich die Ergebnisse aus den standardisierten Nutzerbefragungen nach wie vor bescheiden aus.
Die Kundenbefragung der Stadtbibliothek Duisburg im Jahr 2005 ergibt: „Die Kundschaft der Stadtbibliothek ist insgesamt überwiegend weiblich: 58,9 Prozent Frauen stehen 41,1 Prozent Männer gegenüber.“ (Barbian/Fühles-Ubach/Seidler-de Alwis, 2006, S 278). Danach wendet sich die ‚Vorstellung der wichtigsten Ergebnisse’ in ‚Buch und Bibliothek’ zahlreichen anderen Auswertungsschwerpunkten zu.
Ebenfalls in ‚Buch und Bibliothek’ werden die ‚Ergebnisse einer Nutzerbefragung an der Stadtbibliothek Gütersloh’ vorgestellt. In dieser Präsentation der wichtigsten Ergebnisse findet der Gender-Aspekt keine Erwähnung (vgl. Fühles-Ubach, 2007, S. 656ff.).
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Die nähere Betrachtung einer standardisierten Repräsentativ-Befragung soll hier am Beispiel der Stadtbibliothek Wolfsburg erfolgen. Sie entstand im Rahmen eines studentischen Praxissemesters 2006/2007 und basierte auf der Vorgehensweise in Gütersloh sowie einer Befragung der Stadtbibliothek Wolfsburg aus dem Jahr 1994.
Standardisiert ausgewertet wird die Geschlechterdifferenzierung lediglich im Hinblick auf die Einwohnerschaft und die Gesamtzahl der Bibliotheksbenutzer. Im vorliegenden Fall war die Standarduntersuchung angestrebt, da sie eher dem Benchmarking mit vergleichbaren Bibliotheken dienen sollte, als die Grundlage für eine Gender-Untersuchung zu bilden.
Bemerkenswert ist allerdings, dass der Aufbau des Fragebogens eine durchgängig genderspezifische Auswertung zulässt, da das Geschlecht der Befragten als eines der Basiskriterien in jedem der ansonsten anonymisierten Fragebogen angegeben wird. Mit entsprechender Auswertungs-Software, vor allem jedoch mit genderpolitischer Zielrichtung, eignen sich Befragungen dieser Art durchaus, geschlechterspezifische Erkenntnisse zu gewinnen.
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Nach bisherigem Kenntnisstand entspricht die Stadtbibliothek Wolfsburg den Erfahrungen aller Öffentlichen Bibliotheken. Die repräsentative Erhebung erfasste für die Zentralbibliothek 43,22 Prozent männliche und 56,78 Prozent weibliche Befragte. „Der Anteil der weiblichen Befragten ist sowohl in der konventionellen als auch in der Online-Befragung größer als der Anteil der männlichen Befragten. Dieses Ergebnis spiegelt die allgemeine Leserstruktur öffentlicher Bibliotheken wider.
Laut Bibliotheksstatistik der Stadtbibliothek Wolfsburg vom 11.01.2007 sind 61,37 % der Nutzer weiblich und 38,63 % männlich.“ (Schrader, 2007, S. 13).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die bei Anmeldung in der Bibliothek und per standardisierter Benutzerbefragung erhobenen Daten vorläufige und rudimentäre Aussagen zu den genderspezifischen Verhaltensweisen beim Bibliotheksbesuch ermöglichen und zulassen.
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Einschränkend gilt, dass sie derzeit kaum genderbezogen ausgewertet werden, und dass sie zur Weiterverwendung kompatibel aufbereitet werden müssen zur Integration in den produktbezogenen Gender Budget-Prozess.
Der Mediennutzung gilt auftragsgemäß das Hauptaugenmerk der Bibliotheken. Hierzu liegen die besten und differenziertesten Daten vor, einschließlich einer Fülle von Publikationen und innovativen Konzepten.
Es überrascht daher nicht, dass der Gender Gap den Bibliothekaren am ehesten bei der Mediennutzung bewusst geworden ist und nun auch Eingang in die Fachliteratur gefunden hat. In Ermangelung eigener Gender-Statistiken des Bibliothekswesens beginnen dessen Überlegungen zum Bestandsmanagement bei den Erkenntnissen der PISA-Studien und den bereits gewürdigten Folge-Untersuchungen zum Mediennutzungsverhalten einzelner Zielgruppen, Schwerpunkt Jugendliche.
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Robert Elstner, Diplom-Pädagoge und Wissenschaftlicher Bibliothekar, seit 1986 in der Stadtbibliothek Leipzig, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Leseförderung für Jungen in Öffentlichen Bibliotheken. „Dass Jungs sich lieber mit dem Tagebuch von Curt Cobain im öffentlichen Nahverkehr sehen lassen als mit einem peinlichen Titel wie ‚Für Mädchen verboten’ und dass sie ein Aufklärungsbuch zwar gerne lesen wollen, aber niemals über eine Ausleihtheke schieben würden“ (Elstner/Hellmich, 2007, S. 286), erläutert er in einem lesenswerten Interview in ‚Buch und Bibliothek’. Er analysiert die Lese-Hemmnisse, plädiert für gezielte ‚Männerförderung’ und unterbreitet dazu erfahrungsgestützte Vorschläge für Bibliotheken.
Wie die Büchereizentrale Niedersachsen in ihren Mitteilungen ‚Büchereizentrale aktuell’, Heft 1/2007, vermerkt, wurde das Seminar von Robert Elstner ‚Echte Kerle lesen nicht?!’ im Jahr 2006 so gut nachgefragt, ‚dass Stühle und Tische gerückt werden mussten, damit alle hinein passten’.
Unter dem Titel ‚Geschichten für angeknackste Helden’ widmet ‚Buch und Bibliothek’ der Thematik einen Grundsatz-Artikel. Der als männlich erkannten ‚Bildungskatastrophe’ werden die gezielten Maßnahmen einzelner Bibliotheken zur Jungen-Leseförderung gegenübergestellt. Vor übertriebenen Erfolgserwartungen wird allerdings gewarnt. „Fortschritte seien bei der Leseförderung für Jungs nur in kleinen Schritten zu erwarten. Wenn aber Väter und Söhne am Samstag in die Bibliothek gehen, um … zu lesen, dann wird das die ganz große Jungskatastrophe wahrscheinlich schon verhindern helfen.“ (Hellmich/Ludwig, 2007, S. 289).
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Anlässlich der Eröffnung der Präsentation ‚Leseland Niedersachsen’ in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek/Niedersächsischen Landesbibliothek am 8. Februar 2005 hat die Hamburger Professorin Birgit Dankert einen viel beachteten Vortrag gehalten zum Thema ‚Lesen ist weiblich. Die Genderfalle’ (vgl. Dankert, 2005, S. 313). Aus Hochschulsicht legt sie Quellen- und Ursachenforschung dar, bietet Erklärungsversuche und nennt Best-Practice-Beispiele und weist auf gezielt weiterführende Projekte und Veranstaltungen hin. Georg Ruppelt, Leiter der Landesbibliothek, würdigt ihren Vortrag in der ‚Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie’: „Sie führte u. a. aus: Eine Generation emanzipierter, so genannter ‚starker Frauen’ - in den Vor- und in den Grundschulen lehren fast ausschließlich Frauen - wie auch eher ‚weibliche’ Lesesituationen (‚kuschelig’) haben bewirkt, dass Jungen orientierungslos im Hinblick auf männliche Bezugspersonen geworden sind. Dies gilt für die Abwesenheit von Vätern in der Erziehung und von männlichen Pädagogen in Vor- und Grundschule gleichermaßen.
In nahezu allen Bereichen kann man feststellen, dass nur ein Drittel der Jungen, aber zwei Drittel der Mädchen gern, viel und gut lesen. Tatsache ist außerdem, dass Mädchen offenbar zu erzählender Literatur einen direkteren Zugang haben als Jungen. Jungen werden ihrerseits stärker von Sachbüchern und einschlägigen Zeitschriften angesprochen, in denen sie Lesestoff zu ihren spezifischen Interessen finden. Da der Deutschunterricht aber auf erzählende Literatur ausgerichtet ist, erhalten die Jungen in der Schule zu wenig Anregungen zur Lektüre.“ (Ruppelt, 2005, S. 313f.). Die Schule solle ihr Lektüreangebot überprüfen und gegebenenfalls verändern.
Diese Überzeugung teilen auch andere Wissenschaftler und Pädagogen: „Die im gegenwärtigen Literaturunterricht stattfindende Leseerziehung erreicht die Jungen nur zu einem geringen Teil. Das liegt vor allem an der Auswahl der Schullektüren, die - literarisch ambitioniert - moderne Erzähltechniken verwenden und durch einen hohen Anteil an Innensichten emphatisches und affektbezogenes Lesen unterstützen und scheinbar ‚moderne Rollenbilder’ anbieten. Um die Jungen mehr anzusprechen müsste schulische Leseerziehung Texte einbringen, die echte Identifikationsfiguren anbieten, aktionsgeladen, spannend und episodenreich sind und eine höhere Verzahnung mit der Popularkultur aufweisen … Gerade in den letzten Jahren sind wieder vermehrt Bücher aus dem Abenteuer- und Fantasy-Genre, sowie Krimis auf den Markt gekommen, die auch literarische Qualitäten aufweisen. Es gilt, diese auch für den Unterricht zu entdecken, da diese Genres sowohl Mädchen als auch Jungen ansprechen, wie zahlreiche Lesestudien belegen …“ (Schilcher, 2007, S. 235.).
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Zurück zu den Bibliotheken: Durch Birgit Dankert und Georg Ruppelt, zwei der bedeutendsten Vertreter des Bibliothekswesens, ist die Interdependenz von Mediennutzung und Gender nunmehr im Bewusstsein der Bibliothekare angekommen.
Als Handlungsoption für die Bibliotheken ergibt sich daraus: „Für die Ursachen der unterschiedlichen Leseweisen von Jungen und Mädchen gibt es, einmal abgesehen von der zitierten ‚Genderfalle’, keine schlüssige Erklärung. …
Entscheidend ist, dass Lesefreude sich nur in einem von Zensuren freien Raum entwickeln kann. In einem Raum, der ein vielfältiges Buch- und Medienangebot hat, in einem Raum, der leicht zugänglich ist, in einem Raum, der eine angenehme, freundliche Atmosphäre ausstrahlt, in einem Raum, in dem man sich frei bewegen und freien Zugang zu den verschiedensten Büchern und Medien hat, in einem Raum, in dem man auch immer jemanden findet, den man, wenn man das will, fragen kann kurz gesagt in einem Raum, den man Bibliothek nennt.“ (Ruppelt, 2005, S. 314).
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So die Vision des Fachmannes und damit eines ganzen Berufsstandes.
Die zahlreichen in Kapitel 5 ausgewerteten und erörterten empirischen Studien zum Mediennutzungsverhalten im Allgemeinen wie in Bibliotheken haben gezeigt, dass eine Fülle genderspezifischer Kenntnisse bereits vorliegt.
Diesen wird die Aufgabe der Bibliotheken zur Seite gestellt, die als dritte Säule des Bildungswesens - neben Familie und Schule - einen wichtigen Beitrag zu den Schlüsselqualifikationen Lesefähigkeit, Textverständnis und Medienkompetenz zu leisten haben. Dies tun sie im öffentlichen Interesse und aus öffentlichen Mitteln finanziert.
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Der PISA-Schock hat die Bildungspolitik durchaus erreicht und zu vielfältigen Maßnahmen veranlasst. Auf allen Ebenen - Europa, Deutschland, Bundesländer - beziehen sich diese Reformen gezielt auf Schulen und vergleichbare pädagogische Institutionen. Die Bibliotheken als professionelle Anbieter selbstgesteuerten Lernens finden in keinem der Programme Erwähnung, auch nicht zu den genannten Schlüsselqualifikationen und auch nicht die Bibliotheken in Landesträgerschaft Stichwort ‚Bildungshoheit der Länder’.
Dies ist insofern unverständlich, als die Schulen zunehmend mit der Gesamtverantwortung für Erziehung und Bildung betraut werden, während die Bibliotheken als Partner von den Schulen selbst zwar geschätzt und in Anspruch genommen werden, in öffentlichen Förderprogrammen jedoch kaum Anerkennung und Unterstützung erfahren. Die Förderung von Einzelprojekten ersetzt nicht den kontinuierlichen Bedarf des Bibliotheksbetriebes.
Zu der Erkenntnis, dass Deutschland bildungspolitisch nicht zu der Spitzengruppe in Europa gehört, treten zunehmend Indikatoren für den Nachweis, dass Handlungsbedarf zur Frage der Geschlechtergerechtigkeit besteht und dies auch im Bildungsbereich.
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Die Situation der Öffentlichen Bibliotheken bietet dauerhaft Anlass zur Sorge, die durch Kreativität, Organisations- und vor allem Improvisationsgeschick des Personals allein nicht behoben werden kann.
Aus den untersuchten Studien geht der medienpädagogische und genderpolitische Auftrag für die Bibliotheken klar hervor. Ihm stellen sich die Bibliotheken derzeit durch interne Umverteilung ihrer ohnehin immer knapper gewordenen Finanzmittel. Auf diese Weise können sie ihren so offensichtlich erforderlichen Beitrag als Bildungs- und Kulturinstitute nur eingeschränkt leisten.
Das Konzept des Gender Budget mit seiner grundsätzlichen und tiefgreifenden Analytik im Hinblick auf die Verwendung öffentlicher Gelder wird die Erkenntnisse der Studien bestätigen und differenzieren und die notwendigen Konsequenzen verdeutlichen.
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Wie in Kapitel 4 anhand von Beispielen aufgezeigt, widmen sich die bisherigen Initiativen bei Einbeziehung der Bibliotheken derzeit ausschließlich dem Mediennutzungsverhalten. Wie in Kapitel 3 untersucht, umfasst das Konzept jedoch alle Bereiche des öffentlichen Haushalts und damit künftig auch Personal und Stellenpläne.
Da der bisherige Implementierungsprozess bis hierhin noch nicht vordringen konnte, da jedoch, wie bereits zur Mediennutzung so auch zum Bibliothekspersonal, eine Reihe empirischer Daten vorliegt, werden diese im folgenden Kapitel anhand der Analyse-Kategorie Gender untersucht und ihre Bedeutung für einen künftigen Gender Budget-Prozess erörtert.
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DiML DTD Version 4.0 | Zertifizierter Dokumentenserver der Humboldt-Universität zu Berlin | HTML-Version erstellt am: 28.11.2013 |