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Nachdem im vorangegangenen Teil A dieser Dissertation der theoretische Forschungsstand zur frühen Traumatisierung aufgearbeitet wurde, sollen nunmehr im Teil B die Implikationen für die kinderanalytische Behandlungspraxis entfaltet und ein entwicklungsorie n tierter psychodynamischer Therapieansatz für früh traumatisierte Kinder entworfen werden.
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Die „Entwicklungsorientierung“ dieses Ansatzes bezieht sich dabei sowohl auf das soziale Feld (Kap. B.1.), d.h. die mittelbare Einflußnahme auf das familiäre und soziale Umfeld des Patienten als auch auf den analytischen Raum (Kap. B.2.), d.h. die unmittelbare Arbeit in der Analytiker-Patient-Dyade. Da die Arbeit im sozialen Feld die Voraussetzungen für die Therapie schafft, soll sie auch zuerst dargestellt werden.
Um die Entwicklungsorientierung meines Behandlungsansatzes theoretisch wie klinisch zu begründen, werden zunächst, ausgehend von der psychischen Verfaßtheit früh tra u matisierter Kinder (Kap. B.1.1.1.) die Grenzen eines ausschließlich klinisch-psychoanalytischen Ansatzes und die Notwendigkeit zusätzlicher (sozial)pädagogischer Interventionen in der Arbeit mit diesen Patienten aufgezeigt (Kap. B.1.1.2.). Weil pädagogische Interventionen jedoch zumindest implizit formulierte Entwicklungsziele verfolgen, also pädagogisch orientiert sind, tangiert dieser Ansatz das seit jeher spannungsreiche Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik. Ihm soll deshalb in Kap. B.1.1.3. nachgegangen werden. Als Ergebnis wird eine entwicklungsorientierte psychodynamische Therapie formuliert, die psychoanalytisch-deutende wie pädagogisch-entwicklungsfördernde Elemente umfaßt und als „developmental help“ (Hurry 2002, Fonagy & Target, 2000), „developmentally based psychotherapy“ (Greenspan, 1997), als „relational child therapy“ (Altman et al., 2002) oder auch als „bifokales Behandlungskonzept“ (Rauchfleisch, 1996, 2003) in neueren psychoanalytischen Ansätzen vertreten wird. Aufgrund der unterschiedlichen theoretischen Traditionen, aus denen sich diese Ansätze speisen sowie der Tatsache, daß sie primär auf den analytischen Raum und weniger auf das soziale Feld bezogen sind, lassen sie sich jedoch in keinen übergreifenden metapsychologisch-psychoanalytischen Theorierahmen integrieren.
Um den Begriff der Entwicklung und der Entwicklungsförderung systematisch erfassen zu können, wird daher auf das aus der Entwicklungspsychiatrie (Herpertz-Dahlmann et al., 2003) stammende Paradigma entwicklungorientierter Psychotherapie (Mattejat, 2003) zurückgegriffen, das sich in der Kinderpsychotherapie und –psychiatrie als übergreifendes Rahmenmodell für klinische Interventionen durchgesetzt hat. Dieses Modell beansprucht keineswegs, eine „Metatheorie“ i.S. einer Allgemeinen Psychotherapie o.ä. zu sein. Vielmehr stellt es eine schulenunabhängige, eben entwicklungsorientierte Sichtweise auf Diagnostik, Indikation und Therapieplanung dar und läßt sich daher für jedes Therapieverfahren, auch für die Psychoanalyse bzw. für die psychodynamische Therapie, fruchtbar machen.
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Auf der Basis dieses Paradigmas sollen dann in Kap. B.1.2. die Charakteristika entwic k lungsorientierter Psychotherapie umrissen werden. Nach Klärung des Entwicklungsbegriffs und Darstellung des biopsychosozialen Entwicklungsmodells sowie entwicklungsrelevanter Variablen werden Interventionsspektrum, Rahmenbedingungen und Indikationskriterien entwicklungsorientierter Psychotherapie beschrieben und auf die konkrete Behandlungspraxis früh traumatisierter Kinder „heruntergebrochen“.
Kap. B.1.3. schließlich behandelt ausgewählte Probleme, die sich aus der dargestellten entwicklungsorientierten Psychotherapie ergeben: zum einen die Problematik einer allg e meinen bzw. „integrativen“ Psychotherapie (Kap. B.1.3.1.), zum anderen Probleme mult i professioneller Zusammenarbeit (Kap. B.1.3.2.). Eine Zusammenfassung (Kap. B.1.4.) beschließt das Kapitel.
Im darauf folgenden Kap. B.2. wird die Entwicklungsorientierung im analytischen Raum thematisiert, also die unmittelbare traumabezogene Perspektive der Analytiker-Patient-Beziehung. Sie wird von einer entwicklungsorientierten Hintergrund- sowie einer traumabezogenen Vordergrundhaltung getragen (vgl. dazu ausführlich weiter unten). Diese setzen analog der frühen Mutter-Kind-Beziehung an den zentralen Entwicklungsdefiziten früh traumatisierter Kinder an, aus denen sich spezifische behandlungstechnische Foki (Bindung, Affektregulation, Mentalisierung etc.) ableiten lassen.
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In der Aufarbeitung des Forschungsstandes zur frühen Traumatisierung (Kapitel A) wurde deutlich, daß früh traumatisierte Kinder weniger an fest umschriebenen Symptombildern als an grundlegenden Entwicklungsdefiziten in den Bereichen Bindung, Selbst- und Affektregulation, Aufmerksamkeitslenkung sowie Mentalisierung leiden. Sie vereiteln den Erwerb weiterführender emotionaler, kognitiver und sozialer Kompetenzen.
Die Bindung dieser Kinder ist i.d.R. unsicher, meist desorganisiert. Sie weisen massive Störungen der Fähigkeit zur Mentalisierung auf, weshalb sie in ihren sozialen Beziehu n gen immer wieder scheitern. Sie interpretieren soziale Interaktionen falsch, fühlen sich bedroht, reagieren kopflos-aggressiv. Ihr kontrollierendes Verhalten treibt sie in soziale Isolation. Sie werden als „durchgeknallt“ gemieden, ziehen sich in dissoziative Tagtraumwelten zurück, verlieren den Anschluß an soziale Gruppen, in denen sie ihre Stärken erleben und korrigierende Sozialerfahrungen machen könnten. Ihre Affekte drücken sich als diffuse, überwiegend körpernahe Erregungszustände aus mit der Folge archaischer Kampf-Flucht-Mechanismen oder dissoziativer Erstarrungszustände, die der Umwelt und auch ihnen selbst unverständlich und bedrohlich erscheinen. Das eigene Selbst wird als nicht kohärent erlebt, so daß sie kein Gefühl von Autonomie und Selbstwirksamkeit gewinnen. Ihr Körperselbst ist deformiert. Sie leiden unter sensorischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörungen, ihr Körper ist ihnen nicht verfügbar und kann keine Quelle von Lebensfreude, Leistung und Stolz sein. Die Au f merksamkeit ist gestört, frei flottierend, überwiegend mit Gefahren-Scanning beschäftigt, kann nicht der Bewältigung schulischer Aufgaben und der Erforschung eigener Interessen und Fähigkeiten dienen. Aufgrund erhöhter Stressvulnerabilität wird Lernen nicht als lustvolle Herausforderung, sondern als Distress erlebt, der impulsive Übererregungszustände oder dissoziativen Rückzug auslöst. Störungen der Informationsverarbeitung beeinträchtigen das Gedächtnis und verhindern nicht nur die Verortung der eigenen Identität in Zeit und Raum, sondern auch kontinuierliches Lernen und Erinnern.
Alle Wege einer altersgerechten emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung scheinen versperrt.
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Eine klassische einsichtsorientierte, auf Deutung unbewußter Konflikte fokussierende psychoanalytische Behandlungtechnik kann diese Kinder, zumindest am Anfang der Therapie, nur schwer erreichen.
Viel eher bietet sich eine beziehungsorientierte psychoanalytische Haltung an, die an den traumabedingten frühen Entwicklungsdefiziten ansetzt. Sie kann im Sinne „neuer“ Beziehungserfahrungen die Voraussetzungen dafür schaffen, Bindungen als verläßlich, Affekte als wahrnehmbar und in Beziehungen regulierbar, das eigene Selbst als kohärent und effektant, das eigene Handeln und das der andern als von Wünschen und Intentionen geprägt zu erleben, über die man in kommunikativen Austausch treten kann. In diesem Sinne brauchen früh traumatisierte Kinder eine „Entwicklungspsychotherapie oder ‚Bindung und Beziehung first’.“ (Streeck-Fischer, 2006, S. 206).
Neben dieser entwicklungsorientierten Hintergrundhaltung ist jedoch auch eine trauma-orientierte Vordergrundhaltung angezeigt, die mit ressourcenorientierten Techniken den Patienten emotional stabilisieren und traumaassoziierte Affektüberflutungen im posttraumatischen Spiel zu vermeiden sucht (vgl. ausführlich Kap. B.2.1.3.1.). Erst wenn das früh traumatisierte Kind emotional ausreichend stabilisiert ist und seine grundlegenden Entwicklungsfunktionen der Bindungssicherheit, der Selbst- und Affektregulation sowie der Mentalisierung nachgereift sind, kann im weiteren Therapieverlauf damit begonnen werden, an unbewußten Phantasien und Konflikten zu arbeiten.
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Doch auch dieser beziehungsorientierte, rein klinisch-psychoanalytische Behandlungsansatz greift zu kurz, wenn er sich lediglich auf die analytische Dyade bezieht und das – oft nach wie vor verheerend pathogene – familiäre und soziale Umfeld des kindlichen Patienten außer Acht läßt.
„Keine monoprofessionelle Sichtweise wird dem komplexen Problem einer kindlichen häuslichen Gewalterfahrung gerecht… Die Betreuung psychisch traumatisierter junger Menschen bedarf (deshalb) einer vernetzten multiprofessionellen Versorgungsstruktur.“ (Krüger et al., 2006, S. 34).
Auch wenn bei Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie die akute Gefahr einer kindlichen Traumatisierung zunächst gebannt ist, sind die betroffenen Familien, wie in Kap. A.1.3.3.1. bereits angedeutet, aufgrund multipler psychosozialer Risikofaktoren und entsprechender Ressourcenarmut (vgl. dazu weiter unten Kap. B 1.2.2.) häufig nicht in der Lage, die psychische Last eines traumatisierten Kindes zu tragen. Oft sind wegen strafrechtlich relevanter Traumatisierungen die familiären Verhältnisse durch familien- und umgangsrechtliche Streitigkeiten so chaotisch, daß der sichere Rahmen (z.B. das Einhalten der Termine, pünktliches Bringen und Abholen des Kindes etc., vgl. Petersen, 1996), für die Aufrechterhaltung einer kontinuierlichen Psychotherapie nur unzureichend gewährleistet ist. „Deshalb gilt, daß in der Regel im Vorfeld einer Behandlung zunächst durch Jugendamt und Familiengericht Verhältnisse …hergestellt (werden müssen), die eine (psychotherapeutische) Arbeit im sicheren sozialen Umfeld ermöglichen.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 144).
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Handelt es sich um Kinder, die vom Jugendamt aus ihrem traumatogenen Primärmilieu herausgenommen wurden und inzwischen in Pflege- oder Adoptivfamilien leben, ist dieses sichere soziale Umfeld im Prinzip garantiert. Jedoch sind sich die betroffenen Ersatzeltern sehr oft nicht bewußt, mit welcher „Hypothek“ ihr Pflege-/Adoptivkind belastet ist, so daß nach anfänglichem „honeymoon“ nicht selten eine Phase hochgradig konfliktträchtigen Agierens aller Beteiligten eintritt, in der sich wieder die traumaassoziierte destruktive Dynamik des Ursprungsmilieus entfaltet. Dies führt die Ersatzeltern schnell an ihre persönlichen Grenzen und beschwört die Gefahr eines Beziehungsabbruchs herauf und damit das Risiko erneuter Traumatisierung für Kind und Eltern.
Im Falle institutioneller Unterbringung der Kinder gestaltet sich die Kooperation mit Heimleitung, betreuenden Erziehern und Sozialpädagogen aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben und professioneller Konkurrenz nicht selten als schwierig. Auch hier droht ein Therapieabbruch, der für das betroffene Kind eine Retraumatisierung bedeuten kann.
Ganz besonders prekär ist die Situation, wenn das Kind nach wie vor in seinem ehemals traumatisierenden Ursprungsmilieu lebt. Als Beispiel sei der Fall einer alleinerziehenden Mutter genannt, die sich von dem mißhandelnden, alkoholabhängigen Vater des Kindes getrennt hat. Hier kann ein mehrfaches Retraumatisierungrisiko für das Kind bestehen, sei es durch „getriggerte“ flash backs anläßlich oft gerichtlich erzwungener Besuchskontakte mit dem Vater, sei es durch erneute Mißhandlungen nach „Versöhnung“ der Eltern oder sei es schließlich durch die überforderte alleinerziehende Mutter selbst.
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Die Kinderanalyse, ursprünglich im bildungsbürgerlichen Milieu entwickelt, ging von einem i.d.R. intakten, allenfalls neurotisch belasteten familiären Umfeld mit ausreichend vorhandenen Elternfunktionen aus, so daß sie sich überwiegend auf die intrapsychische Konfliktlage des Kindes konzentrieren konnte. Bei Patienten aus Hoch-Risiko-Familien, die heutzutage vermehrt psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, müssen dagegen die entwicklungsarretierenden Wirkungen des destruktiven familialen und sozialen Umfelds viel intensiver in die psychodynamischen Überlegungen zur Indikation und Therapieplanung miteinbezogen werden. Deshalb sind neben der Einzeltherapie und den begleitenden Elterngesprächen zusätzlich umfassende ressourcenorientierte Interventionen im sozialen Umfeld des Patienten angezeigt, um protektive Faktoren zu stärken oder erst zu entwickeln, Risikofaktoren zu mindern, das familiäre System zu entlasten und dem Patienten außerfamiliäre Entwicklungsfelder zu eröffnen (Krüger & Reddemann, 2007, S. 35).
Neben Ressourcenförderung müssen im Einzelfall auch weitere multimodale Interventionen geplant werden. Dies betrifft sowohl notwendige medizinische Behandlung (ggfs. inclusive Medikation) als auch übende funktionelle (z.B. Ergotherapie) oder heilpädagogische Maßnahmen. Vor allem aber sind oft unmittelbar familienbezogene Interventionen der Jugend- und Sozialhilfe (z.B. sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehungsbeistandschaft) sowie weitere umfeldbezogene Interventionen (z.B. Absprachen mit Kindergarten und Schule, Freizeitgruppen, heilpädagogische Tagesstätten) nötig.
„Ist ein Kind beispielsweise durch eine dissoziative Symptomatik im Schulunterricht immer wieder ‚abwesend’, so bedürfen diese Zustände einer (wohlüberlegten) Erklärung gegenüber der Lehrerschaft und eventuell auch gegenüber den Mitschülern. Raptusartiges aggressives Verhalten als Ausdruck von Übererregungssymptomen bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung wird von den Patienten oftmals schamhaft erlebt und bedarf eines traumapsychologisch abgestimmten pädagogischen Umgangs nicht nur im häuslichen Umfeld, sondern auch im Kindergarten, bei Peers oder in der Schule.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 153 f.) |
Die Kinderanalytikerin wird hier, i.d.R. telefonisch, nur beratend-psychoedukativ tätig. Alle sonstigen Maßnahmen leitet sie durch Motivationsarbeit mit den Eltern und telefonische Kontaktaufnahme zu entsprechenden Professionellen in einer Art Case-Management-Funktion (Krüger & Reddemann, 2007, S. 154) in die Wege. Doch diese gezielten Interventionen sind offensichtlich mit der klassisch-psychoanalytischen Haltung von Neutralität und Abstinenz nur schwer vereinbar.
„Der Analytiker versucht, ‚gleichschwebend’ aufmerksam zu sein, bemüht sich um Neutralität gegenüber den Wertvorstellungen und Zielen des Analysanden …Diese Enthaltsamkeit und die Begrenzung des Handelns auf das aufmerksame Zuhören und Interpretieren dient dem ‚Aufklären, das heißt bewußt machen’ (Freud). Je weniger der Analytiker mit eigenen Wertorientierungen und Handlungszielen wirksam wird, desto deutlicher treten die unbewußten Phantasien des Patienten in Erscheinung. So liegt die Wirksamkeit des Analytikers gerade darin, daß er sich eines zielbezogenen und absichtsvollen Einflusses enthält.“ (Körner, 1996, S. 782 f.) |
Jede Art der entwicklungsorientierten Arbeit, die ja klar formulierte Entwicklungsziele verfolgt, deshalb letzlich pädagogisch ist, kollidiert also zwangsläufig zumindest mit dem „klassischen“ Verständnis von Psychoanalyse.
Um das Verhältnis von Pädagogik und Psychoanalyse hat es seit den Anfängen der Psychoanalyse eine lebendige, mitunter hitzig geführte Debatte gegeben, der im folgenden Kapitel nachgegangen werden soll, um den hier vertretenen Ansatz einer entwicklungsorientierten Psychotherapie zu legitimieren.
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Dabei ist zu unterscheiden zwischen psychoanalytischer Pädagogik (d.h. der Anwendung der Psychoanalyse im pädagogischen Feld, Kap. B.1.1.3.1), zwischen pädagogischer Psychoanalyse (d.h. der Frage, ob in der kinderanalytischen Situation pädagogische Elemente zum Tragen kommen dürfen/sollen, Kap. B.1.1.3.2.) und schließlich dem Konzept der entwicklung s fördernden/entwicklungsorientierten Psychotherapie (Kap. B.1.1.3.3.), die sich wiederum entweder ausschließlich auf den analytischen Raum oder aber auch auf das soziale Feld beziehen kann.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen namhafte Pädagogen und Psychoanalytiker, sich für eine Integration psychoanalytischen Denkens in die theoretische und praktische (Sozial-) Pädagogik zu engagieren. In der Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik bis in die späten 30er Jahre hinein herrschte ein uneingeschränkter Optimismus, „das Kind mit Hilfe der Psychoanalyse befreien zu können und Neurosenprophylaxe durch eine an der Psychoanalyse orientierte Erziehung betreiben zu können.“ (Heinemann & Hopf, 2001, S. 34).
Zu den wichtigsten „Pionieren“ psychoanalytischer Pädagogik gehören August Aichhorn, Siegfried Bernfeld, Hans Zulliger, Fritz Redl und Bruno Bettelheim. Während Aichhorn (1925) und Bernfeld (1921) in Wien mit verwahrlosten Jugendlichen und proletarischen Kindern im Bereich der Heimerziehung arbeiteten, versuchte der Lehrer Zulliger (1936) in der Schweiz, den emanzipatorischen Impetus der Psychoanalyse im Schulunterricht umzusetzen.
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Mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg endete die Blütezeit der psychoanalytischen Pädagogik. Während sich in England unter den emigrierten Psychoanalytikern u.a. die Kinderanalyse etablierte, welche pädagogischen Elementen ambivalent (Anna Freud) bis strikt ablehnend (Melanie Klein) gegenüberstand (vgl. dazu weiter unten), vollzog sich in den USA eine Medizinalisierung der Psychoanalyse, so daß ab 1938 keine Pädagogen mehr zur Psychoanalyse-Ausbildung zugelassen wurden (Heinemann & Hopf, 2001, S. 39). Psychoanalytisch-pädagogische Experimente waren daher nur noch selten möglich und weitgehend von dem Engagement charismatischer „Einzelkämpfer“ abhängig. Zu ihnen gehörten Fritz Redl (Redl & Wineman, 1986) und Bruno Bettelheim (1971, 1978), die in Detroit bzw. Chicago mit dissozialen Kindern und Jugendlichen, ähnlich wie Aichhorn, milieutherapeutisch arbeiteten.
Betrachtet man die psychoanalytisch-pädagogischen Experimente der Vor- und Nachkriegszeit, so erweisen sich die Erfolge „im Rückblick eher als das Lebenswerk einzelner besonders mutiger, geduldiger und belastbarer Persönlichkeiten, weniger als Ergebnis tragfähiger und übertragbarer Konzepte.“ (Körner, 1996, S. 781). Angesichts des nicht ausreichend geklärten Verhältnisses von Psychoanalyse und Pädagogik auf der theoretisch-methodologi-schen Ebene sind die praktisch-behandlungstechnischen Empfehlungen der genannten „Pioniere“ letztlich fragmentarisch und unbefriedigend, worauf Ahrbeck (1997) hinweist. Während bei Aichhorn die Ausblendung negativer Übertragungsphänomene irritiere, betone Redl zwar die Notwendigkeit, dissozialen Kindern und Jugendlichen klare Grenzen zu setzen, sie als Hilfs-Ich bei der Impulssteuerung zu unterstützen und ihr archaisches Über-Ich zu integrieren. „Dennoch bleibt der Beziehungsaspekt zu sehr im Dunkeln. Die Frage, wie es dem Lehrer gelingen kann, die Kinder trotz ihres Hasses anzunehmen, bleibt bei Redl weitgehend ungeklärt.“ (Ahrbeck, 1997, S. 17)
Die letztlich offene Frage nach dem Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik geriet in der Studentenbewegung der 60er Jahre wieder in die Diskussion und etablierte eine psychoanalytisch inspirierte kritische Erziehungswissenschaft (Bittner, 1972; Mollenhauer, 1972). In den 80er Jahren – möglicherweise als Reaktion auf den Rückzug der Psychoanalyse in den ausschließlich klinisch-therapeutischen Bereich – regte sich erneutes Interesse, das sich als z.T. hitzig geführte Debatte im Jahrbuch für psychoanalytische Päd a gogik (Frankfurter Arbeitskreis für Psychoanalytische Pädagogik) niederschlug. Grob lassen sich vier unterschiedliche Positionen ausmachen:
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Die bezogen auf das Selbstbewußtsein der Pädagogik prononcierteste Position vertritt Reinhard Fatke (1985), der ein Primat der Pädagogik formuliert und die psychoanalytische Pädagogik davor warnt, sich in Abhängigkeit zur Psychoanalyse zu begeben. Diese könne allenfalls – wie auch andere Wissenschaften - die Pädagogik inspirieren und ihr dadurch zu einem neuen Selbstverständnis pädagogischer Praxis verhelfen.
Im Gegensatz zu Fatke positioniert Wilfried Datler (1992, 1995) Psychoanalyse und Pädagogik „auf gleicher Augenhöhe“. Er definiert pädagogisches und psychoanalytisches Handeln („Bilden und Heilen“, vgl. 1995) als verschiedene Praxisformen ein und derselben übergeordneten Bildungswissenschaft, die den Zielen der Aufklärung, der Selbstbestimmung, der Fähigkeit zum Dialog und der Befreiung des Menschen aus „selbstverschuldeter Unmündigkeit“ verpflichtet sei. Angesichts dieser gemeinsamen Zielsetzung von Psychoanalyse und Pädagogik bezweifelt Datler den Sinn theoretischer Versuche, „scharfe Grenzen zwischen psychoanalytisch-therapeutischem und pädagogischem Handeln zu ziehen und psychotherapeutisches Handeln dieser Art somit außerhalb des Gesamtrahmens von Pädagogik anzusiedeln.“ (ebd., S. 20).
Einen anderen Weg beschreitet Hans-Georg Trescher (1987, 1993), der als gemeinsame Rahmentheorie nicht eine „Bildungswissenschaft“, sondern die Psychoanalyse selbst setzt, jedoch deren exklusive Beschränkung auf die klinische Praxis kritisiert. Die therapeutische Anwendung sei nur eine „Sonderfall“ der Psychoanalyse. Deshalb müsse sich die Pädagogik konzentrieren auf die „Erforschung der Besonderheiten der jeweiligen pädagogischen Praxisstrukturen und die Entwicklung adäquater psychoanalytischer Vorgehensweisen im Sinne von angemessenen Handlungsmodellen.“ (1987, S. 202).
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In dieser Einschätzung ist sich Trescher einig mit Helmut Figdor (1989), der ebenfalls zu dem Ergebnis kommt, daß „Psychoanalyse als Therapie nur als ein besonderer Fall möglicher Anwendung psychoanalytischen Wissens zu betrachten ist“ (ebd., S. 138). Wie Trescher weist aber auch Figdor darauf hin, daß „solange eine fundierte Interaktionstheorie (der psychoanalytischen Pädagogik) nicht existiert, …dem psychoanalytischen Pädagogen bewußt sein (muß), sich auf theoretisch äußerst unsicherem Boden zu bewegen.“ (ebd.)
Den Gegenstandpunkt zu den bisher genannten Autoren bezieht Jürgen Körner (1983, 1990), der zumindest zu Beginn der 80er Jahre noch einer strikten Trennung von Psychoanalyse und Pädagogik das Wort redete:
„Der psychoanalytische Dialog ist …ein hermeneutischer, also sinnverstehender, bedeutungssetzender Prozeß. Seine Ziele liegen im Dunkeln, seine Ergebnisse kann man nicht voraussagen. Wenn immer eine Pädagogik bestimmte Ziele angibt und verfolgt, wenn sie Erziehungsmittel einsetzt, um diese Ziele zu erreichen, ist sie mit dem Vorgehen in der analytischen Psychotherapie nicht vereinbar, denn diese schaut in die Vergangenheit, bringt ihre Ziele im Prozeß der Analyse erst hervor und kann keine Angaben machen, welche Mittel zu welchen Ergebnissen führen würden.“ (Körner, 1983, S. 126) |
In späteren Veröffentlichungen (z.B. 1996) jedoch nimmt Körner diese polarisierende Haltung deutlich zurück. Aufgrund der Rezeption des neueren interaktionellen Übertragungsverständnisses im Hier und Jetzt ( Gill & Hoffman, 1982, Mertens, 1990, S. 195, vgl. auch Kap. B.2.2.1.2.) kommt Körner zu der Erkenntnis, „daß die Auffassung von der ‚regredienten’ und ‚absichtslosen’ psychoanalytischen Methodik revisionsbedürftig ist“, weshalb „sich ein Wandel der Konzepte abzeichnet, der den … Gegensatz von psychoanalytischem und pädagogischem Handeln abmildern könnte.“ (1996, S. 783 f.). Um das Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik besser bestimmen zu können, sollte die Community jedoch, so Körner, weniger den Weg theoretischer als den praktisch-methodischer Reflexion beschreiten. „Ähnlich wie die Psychoanalyse als Behandlungsmethode zunächst praktisch entwickelt wurde, könnte es eher gelingen, pädagogisches und therapeutisches Handeln praktisch und methodisch reflektiert aufeinander zu beziehen.“ (1996, S. 781).
Bei abschließender Einschätzung kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es in den aufgeführten Positionen neben dem „Ringen um Erkenntnis“ auch um ein grundlegendes Statusproblem der Pädagogik in der Hierarchie der Geisteswissenschaften und um ein Gefühl der Inferiorität gegenüber der Psychoanalyse geht (vgl. z.B. Fatkes (1985) Aufsatztitel „Krümel vom Tisch der Reichen?“).
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Als Kinderanalytikerin, deren Arbeitsweise sich grundsätzlich von der der Erwachsenenanalyse unterscheidet (vgl. dazu Kap. B.2.1.2.) tendiere ich eher zu Datlers pragmatischer Position, die Grenzen zwischen psychoanalytisch-therapeutischem und pädagogischem Handeln als fließend zu betrachten. Auch Körners zuletzt genannte Empfehlung, das Verhältnis zwischen Psychoanalyse und Pädagogik weniger über theoretische als über praktisch-methodische Reflexion zu klären, weist in diese Richtung. In den folgenden zwei Kapiteln soll dies für die klinische Situation versucht werden.
Wie wirkt sich das Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik auf die klinische Situation aus? Dürfen in der Kinderanalyse pädagogische Elemente zum Tragen kommen?
Diese Fragen spalteten schon in den „controversial discussions“ der 40er Jahre (King & Steiner, 1991) die kinderanalytische Community. Während Melanie Klein auf dem rein pädagogischen Feld einer „Erziehung mit psychoanalytischem Einschlag“ (1921) zur Neurosenprophylaxe ausgesprochen positiv gegenüberstand, wandte sie sich im klinischen Bereich dagegen strikt gegen pädagogische Absichten: „Wenn der Kinderanalytiker seine Arbeit zu einem erfolgreichen Abschluß bringen will, muß er …bereit sein, wirklich nur zu analysieren, und auf jeden Wunsch, prägend und lenkend in das psychische Leben seiner Patienten einzugreifen, verzichten …“ (1927 , S. 253 f.)
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Anna Freud hingegen erachtete in ihren frühen Schriften (1928) pädagogische Elemente als unverzichtbar. Zum einen begründete sie dies mit der mangelnden Ausreifung des kindlichen Über-Ich, zum anderen mit der Notwendigkeit, der triebfeindlichen Erziehungspraxis der Eltern entgegenzusteuern. Sie ging dabei so weit, nicht auszuschließen, „– wenn es sich als notwendig erweist – den Erziehern des Kindes für die Dauer der Analyse ihre Arbeit aus der Hand zu nehmen, um sie selbst zu verrichten.“ (ebd., S. 177). Der daraus resultierende Loyalitätskonflikt des Kindes sowie die Kränkungserfahrung der Eltern, die das Arbeitsbündnis und schließlich sogar den Bestand der Analyse gefährden können, dürften auch Anna Freud präsent gewesen sein. So verwundert es nicht, daß sie diesen pädagogischen Elementen gegenüber stets ambivalent blieb (Hurry, 2002) und sie in späteren Veröffentlichungen (vgl. die Einleitung zur 1980er Neuauflage der „Vier Vorträge über die Kinderanalyse“ von 1927 b) durch das Konzept der „Entwicklungsförderung“ ersetzte.
Dieses Konzept der Entwicklungsförderung („developmental help“) hat Anna Freud jedoch nie genauer definiert, was bis heute beklagt wird: „We all think we know what developmental help is, and why we do it, but we don’t actually have it properly conceptualized.“ (Edgcumbe, 1995, S. 21). Anna Freud selbst umschrieb ihr Konzept vage, indem sie darauf hinwies, daß der Analytiker nicht nur Übertragungs-, sondern auch Entwicklungsobjekt (in ihren Worten: neues Objekt) sei. Allerdings tat sie dies weniger, um eine konkrete Entwicklungstherapie zu entwerfen als um sich in der bis heute umstrittenen Frage einer kindlichen Übertragung von Melanie Klein abzugrenzen. Während diese postulierte, daß das Kind eine der Erwachsenenanalyse vergleichbare Übertragung ausbilde, bestritt Anna Freud dies, da das Kind noch an seine primären Bezugspersonen libidinös gebunden sei. „Das Kind ist nicht wie der Erwachsene bereit, eine Neuauflage seiner Liebesbeziehungen vorzunehmen, weil – so könnte man sagen – die alte noch nicht vergriffen ist.“ (1927 b, S. 57)
Die etwas unklare „Zwitterposititon“ des Kinderanalytikers zwischen Übertragungs- und Entwicklungsobjekt des Patienten verwischt sich bei Anna Freud gegen Ende ihres Lebens, so daß die Unterschiede zwischen „Übertragung“ und allgemeiner „Bindung“ mehr und mehr verschwimmen:
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„Der Analytiker ist ein neues und verständnisvolles Objekt, anders als die früheren Objekte… Der Patient stellt aufgrund dieses Unterschiedes eine positive Bindung an den Analytiker her, und diese Bindung kann nur in einem so weiten Sinne als Übertragung betrachtet werden, daß einfach jede Bindung als Übertragung gilt. Das Ich des Patienten sucht einen Verbündeten, um innere Schwierigkeiten zu überwinden.“ (Anna Freud, zit. nach Sandler et al., 1982, S. 65 f.) |
Man mag diese unklare Begrifflichkeit bedauern. Als klinische Praktikerin kann ich jedoch bestätigen, daß in der Arbeit mit Kindern psychoanalytisch-deutende und pädagogisch-entwicklungsfördernde Interventionen sich so intensiv verschränken, daß eine exakte Abgrenzung kaum mehr möglich ist. Dies gilt ganz besonders für die Arbeit mit früh traumat i sierten Kindern, deren massive Entwicklungsdefizite eine entsprechend entwicklungsorientierte Behandlungstechnik erfordern.
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In der Folge von Anna Freud haben einige Autoren versucht, dieses Konzept der Entwicklungsförderung näher zu spezifizieren. Anne Hurry (1999) verweist auf die entwicklungstherapeutische Tradition des Anna Freud Centre in London, legt sich in der Abgrenzung von Übertragung und Entwicklung jedoch ebenfalls nicht fest: „In der Praxis verschwimmt …der Unterschied zwischen der deutenden Funktion des Analytikers und seiner Funktion als Entwicklungsobjekt: Das deutende Objekt ist zugleich ein Entwicklungsobjekt.“ (ebd., S. 60). Fonagy & Target (2000) beschreiben auf der Basis ihres Mentalisierungs-Konzepts drei Aspekte von developmental help: 1. „enhancing reflective processes”, 2. “play helps children to strengthen impulse control and enhance self-regulation” und 3. “working in the transference”. Doch auch damit wird die Abgrenzung zwischen entwicklungsfördernder und deutender Tätigkeit des Analytikers nicht klarer.
Durch die „Rehabilitation“ pädagogisch-entwicklungsfördernder Interventionen wurden in jüngerer Zeit auch andere kinderanalytische Strömungen „salonfähig“, die etwas außerhalb des psychoanalytischen Mainstreams standen, aber schon länger auf eine Entwicklungsorientierung hinzielen. So versucht z.B. Stanley Greenspan, mit seiner Developmentally Based Psychotherapy (1997) ich-psychologische Überlegungen mit entwicklungspsychopathologischen Befunden zu integrieren. Er beschreibt vier grundlegende Prinzipien einer „Develo p mentally Based Psychotherapy“: „(1) harnessing core processes; (2) meeting patients at their developmental levels; (3) renegotiating bypassed levels; and (4) promoting the patient’s self-sufficiency...“ (ebd., S. 18)
Aus interpersonal-relationaler Perspektive entwerfen Altman et al. eine Relational Child Ps y chotherapy (2002). In Abgrenzung zum freudianisch-ichpsychologischen ebenso wie zum kleinianischen psychoanalytischen Modell betonen sie drei zentrale Foki in der Behandlungs-technik: “There is more emphasis on the transference-countertransference interaction, the analyst is seen as potentially a ‚new’ object for the child, and the parents are seen more centrally as participants in the relational field and in the treatment.” (ebd., S. 10).
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Für die vorliegende Arbeit geben beide Positionen wichtige Anregungen, auch wenn sie nicht die spezifische Problematik früh traumatisierter Kinder thematisieren. Greenspan be-eindruckt u.a. durch das Selbstbewußtsein, mit dem er die Eigenständigkeit seines entwicklungsorientierten Therapieansatzes gegen die „eigentliche“ Psychoanalyse behauptet: „Some will argue that such developmentally guided clinical strategies are part of preparations for intensive psychoanalytic therapy or psychoanalysis…To think of it as preliminary to something else may be a bit like considering the meal to be preliminary to the desert.“ (ebd., S. 62 f.)
Der Ansatz von Altman et al. (2002), obwohl ebenfalls nicht speziell auf früh traumatisierte Kinder ausgerichtet, besticht durch das auch für diese Patientengruppe relevante Plädoyer für einen systemischen Blick auf die weiteren Entwicklungsfelder des Kindes wie Familie, Kiga, Schule, Peers, Freizeitgruppen. Diese müssen notwendig mit in die Interventionsplanung einbezogen werden, um die bisherigen Überlegungen zu „pädagogischen“ oder „entwicklungsorientierten“ Elementen in der analytischen Kindertherapie zu ergänzen, die sich allesamt lediglich auf das Innenverhältnis der Analytiker-Patient-Dyade beziehen.
Früh traumatisierte Kinder benötigen jedoch – wie weiter oben in Kap. B.1.1.2. ausgeführt – neben der unmittelbaren Entwicklungsarbeit im analytischen Raum zumindest mittelbare Interventionen auch im Außenverhältnis, d.h. im sozialen Feld. Dadurch entstehen Risiken wie Chancen. “We address the negotiations the child therapist may have with other professionals in which there is a potential for splitting and disruptive conflict, as well as for integration of various points of view in the interests of the child and family.” (Altman et al., 2002, S. 311).
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Multimodale und multiprofessionelle Therapie birgt in der Tat beträchtliches interpersonelles Konfliktpotential, ist jedoch bei früh traumatisierten Patienten unverzichtbar. So ist bei allen mir bekannten Therapieprogrammen für schwer gestörte Patienten aus sozial schwachem Milieu eine sozialpädagogische Begleitung erforderlich, ohne die der Rahmen einer Psychotherapie meist gar nicht aufrechterhalten werden kann. Im (teil)stationären Bereich ist ein solches multiprofessionelles Vorgehen Standard (vgl. die Borderline-Programme bei Kernberg et al., 2004; Clarkin et al., 2001 oder Bateman & Fonagy, 2008). Im ambulanten Bereich hingegen fehlen überzeugende Kooperationsmodelle, so daß der Analytiker weitgehend alleingelassen auf seine eigene Intuition und Initiative angewiesen ist.
Einer der wenigen Analytiker im ambulanten Bereich, der analytische Praxis mit sozialpädagogischen Interventionen kombiniert, ist Udo Rauchfleisch (1996, 2003) mit seinem b i fok a len Behandlungskonzept, das er in der Arbeit mit persönlichkeitsgestörten dissozialen Jugendlichen und Erwachsenen entwickelte. Bei der Behandlung dieser Patienten ist, so Rauchfleisch, „von ihren vielfältigen sozialen Problemen auszugehen und mitunter auch aktiv in ihr soziales Leben einzugreifen und zugleich anhand dieses Materials in klassisch-psychoanalytischer Weise an Widerstand, Abwehr und Übertragung zu arbeiten.“ (2003, S. 239). Das „Eingreifen“ in das soziale Leben umfaßt bei Rauchfleisch nicht nur telefonische Kontakte zu Bewährungshelfern, Arbeitgebern, Mitarbeitern von Beratungsstellen etc., sondern auch die persönliche Teilnahme an Round-Table-Gesprächen und Hausbesuche in Krisensituationen.
Der Autor konzediert die Notwendigkeit einer besonders intensiven Reflexion der Übertragung und Gegenübertragung solcher Interventionen. Die Befassung mit konkreten sozialen Problemen des Patienten verhindere jedoch keineswegs eine psychoanalytische Arbeit im engeren Sinne. So bringt er das Beispiel eines jugendlichen Legasthenikers, dem der Autor beim Abfassen eines Bewerbungsschreibens hilft und mit dem er anschließend in überzeugender Weise dessen Gefühle des narzißtischen Triumpfs (der Analytiker als „Sekretär“) sowie des abgewehrten Neides und der Aggression bearbeitet. Die eher klassische Strategie der Psychoanalyse, Probleme der sozialen Realität ausschließlich auf repräsentationaler Ebene zu bearbeiten und die reale Bewältigung an außeranalytische Professionelle (Bewährungshelfer, Sozialarbeiter) zu delegieren, berge, so der Autor, viel eher die Gefahr einer Spaltung der Übertragung in einen idealisierten Analytiker und eine entwertete Außenwelt.
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Rauchfleisch arbeitet mit Jugendlichen und Erwachsenen, so daß seine behandlungstechnischen Empfehlungen auf die Arbeit mit Kindern nicht übertragbar sind. Auch betrachte ich das unmittelbare persönliche Intervenieren Rauchfleischs im sozialen Feld eher kritisch. In der Therapie früh traumatisierter Kinder gerät die Analytikerin dadurch erfahrungsgemäß in die Übertragungsposition der „besseren Mutter“, was Eifersuchts- und Kränkungsgefühle der Eltern verstärkt. So vermeide ich es, den „analytischen Raum“ meiner Praxis zu verlassen und versuche stattdessen, Sozialarbeiter und andere Professionelle zu mir in diesen „analytischen Raum“ einzuladen.
Abschließend ist zu den dargestellten psychoanalytisch-pädagogisch-entwicklungsfördernden Konzepten zu konstatieren, daß es angesichts der Heterogenität der epistemischen Traditionen und der verschiedenen Schwerpunktsetzungen in der Entwicklungsarbeit schwierig erscheint, eine übergreifende Meta-Theorie psychoanalytischer Entwicklungsförderung oder psychodynamisch-entwicklungsorientierter Psychotherapie zu entwerfen.
Um den Begriff der Entwicklung und der Entwicklungsförderung systematisch zu erfassen, greife ich deshalb, wie eingangs angekündigt, auf das aus der Entwicklungspsychiatrie (Herpertz-Dahlmann et al., 2003) stammende Paradigma entwicklungorientierter Psych o therapie (Mattejat, 2003) zurück, das sich in der Kinderpsychotherapie und –psychiatrie inzwischen als übergreifendes Rahmenmodell für klinische Interventionen durchgesetzt hat. Mit diesem Begriff der „entwicklungsorientierten Psychotherapie“ (EOP) werden „ …alle therapeutischen Konzepte und Verfahren zusammengefaßt, die sich explizit an der Entwicklungspsychopathologie bzw. an der klinischen Entwicklungspsychologie orientieren.“ (Mattejat, 2003, S. 265). Diese etwas formal wirkende Definition macht deutlich, daß es sich bei diesem neueren Konzept erst um eine Heuristik, einen programmatischen Entwurf handelt, dessen konkrete Umsetzung in praktische behandlungstechnische Orientierungen zur Zeit noch „in der Entwicklung“ ist (ebd., S. 265). Im Folgenden soll deshalb versucht werden, diesen Entwurf auf die konkrete Behandlungstechnik bei früh traumat i sierten Kindern zu beziehen. Das Konzept der EOP stellt dabei keine schulenübergreifende Therapiemethode dar, sondern „umschreibt eine Konzeptualisierung, die gleichsam quer zu der Einteilung in die klassischen Schulrichtungen liegt. Konzepte der EOP können unabhängig von der therapeutischen ‚Schulorientierung’ aufgegriffen und genutzt werden.“ (ebd.).
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Der Begriff der Entwicklung wird in der empirischen Entwicklungspsychologie aufgrund der unterschiedlichen Forschungstraditionen und Menschenbilder höchst unterschiedlich konzipiert (Überblick bei Montada, 2002, S. 5 f.). Je nach Mensch-Umwelt-Bezug wird unterschieden zwischen endogenistischen Theorien (Subjekt passiv/Umwelt passiv), exogenistischen Theorien (Subjekt passiv/Umwelt aktiv), Selbstgestaltungstheorien (Subjekt aktiv/Umwelt passiv) und interaktionistischen Theorien (Subjekt aktiv/Umwelt aktiv). Letztere sind die komplexesten Theoriegebäude, da sie die wechselseitige Interaktion von Subjekt und Umwelt postulieren. Ein zentraler Aspekt interaktionistischer Theorien ist die Transa k tion (Ford & Lerner, 1992). In Transaktionsmodellen (Sameroff, 1995; Sameroff & Fiese, 1990) werden nicht-lineare, zyklische Modelle von Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen in Entwicklungsverläufen konzipiert, bei denen das Kind die Umwelt beeinflußt und von dieser beeinflußt wird. „Solche Erklärungsmodelle sind von großer Anziehungskraft und werden immer mehr akzeptiert, haben jedoch den Nachteil, empirisch nur schwer überprüfbar zu sein.“ (Niebank & Petermann, 2002, S. 67). In der Psychoanalyse wird dieses systemische Denken zunehmend aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. z.B. Beebe & Lachmann, 2004; Fivaz-Depeursinge & Corboz-Warnery, 2001; Stern et al., 1998 b,c; Thelen & Smith, 1994) und von einigen Autoren sogar zu einem Paradigmenwechsel erhoben (i n tersubjektive Wende, vgl. Altmeyer & Thomae, 2006).
Konkretisiert man die wechselseitigen Beeinflussungen von Mensch und Umwelt, so gelangt man zu einem biopsychosozialen Modell, in welchem biologische, psychische und umweltbedingte Faktoren über dynamische Transaktionen miteinander verbunden sind.
Zu den biologischen Faktoren zählen zum einen die genetische Ausstattung des Kindes mit seinen individuellen Entwicklungs- und Verhaltensdispositionen (Temperament, affektive Reagibilität, selbstregulatorische und kognitive Fähigkeiten), zum anderen aber auch (sekundäre) biologische Einflüsse wie körperliche Traumen, Intoxikationen, Krankheiten etc.
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Unter sozialen Faktoren sind die Umweltbedingungen zu verstehen, für die Bronfenbrenner (1978, 1986) in Analogie zu biologischen Ökosystemen ein Modell von vier ineinander verschachtelten ökologischen Systemen entwickelt hat, in denen sich menschliche Entwicklung vollzieht (Mikro-, Meso-, Exo- und Makrosystem, vgl. Bronfenbrenner,1978, S. 35 f.). Für Prozesse früher Traumatisierung sind v.a. das Mikrosystem Familie, aber auch Kontexteinflüsse des Meso-, Exo- und Makrosystems relevant, wie z.B. ein gewaltgeprägtes soziales Umfeld (vgl. Lynch & Cicchetti, 1998).
Während die psychischen Faktoren aus der Sicht der Verhaltenstherapie anhand behavioraler und kognitiver Prozesse untersucht werden, ist Gegenstand der Psychoanalyse der intrapsychische Niederschlag von Beziehungserfahrungen.
Kindliche Subjektwerdung ist also im Rahmen eines biopsychosozialen Entwicklungsmodells zu konzipieren, in dem biologische, psychische und Umweltvariablen über dynamische Transaktionen miteinander interagieren. Inwieweit es dabei zu traumatischen Entwicklungsstörungen kommt, hängt von weiteren entwicklungsrelevanten Variablen ab.
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Risikofaktoren kann man in biologische und psychosoziale unterscheiden. Zu den biol o gischen Risikofaktoren gehören pränatale Faktoren (Schädigungen des Foetus durch genetische Anomalien, durch Medikamente, Drogen oder Infektionskrankheiten der Mutter), perinatale Faktoren (Geburtskomplikationen, die zu cerebralen Traumatisierungen führen) sowie postnatale Faktoren (z.B. Schädelhirntraumen, Hirnentzündungen, Tumore, Stoffwechselstörungen, Intoxikationen), d.h. Ereignisse, die die Hirnsubstanz und damit die neuronale Plastizität ungünstig beeinflussen.
Als gesicherte psychosoziale Risikofaktoren für Entwicklungspathologien gelten niedriger sozioökonomischer Status, schlechte Schulbildung der Eltern, Arbeitslosigkeit, beengter Wohnraum, chronische Disharmonie, Trennung und Scheidung sowie schwere körperliche Erkrankungen und psychische Störungen der Eltern, Substanzmißbrauch und Dissozialität, Verlust eines Elternteils, Vernachlässigung, sexueller Mißbrauch, Mißhandlung (vgl. den Überblick bei Egle & Hoffmann, 2000).
Frühe Beziehungstraumatisierung findet i.d.R. in Milieus statt, die mit mehreren dieser Risikofaktoren belastet sind. Oft liegen bereits Schädigungen des Fötus durch mütterlichen Alkohol- und Drogenabusus vor, die die Gehirnentwicklung des Kindes negativ beeinflussen. Dazu kommen multiple psychosoziale Risikofaktoren wie räumliche Enge, Armut, v.a. aber auch psychische Störungen der Eltern (Sucht, Depression, Dissozialität). Die genannten psychosozialen Risikofaktoren führen nicht zwingend zu einer Entwicklungsstörung, sondern erhöhen lediglich das Risiko für eine Erkrankung. Bei Kumulation dieser Stressoren ergibt sich eine exponentielle Wirkung (Rutter 1989 b).
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Schutzfaktoren sind Einflußfaktoren, die das Individuum unter Risikobedingungen vor einer pathologischen Entwicklung schützen oder den Einfluß der Risiken mindern oder modifizieren (Rutter 1987). Die in zahlreichen Studien (z.B. Schepank, 1987; Werner, 1993) identifizierten Schutzfaktoren lassen sich nach Garmezy (1985) drei Kategorien zuordnen: den pe r sonalen Ressourcen des Individuums (flexibles, offenes Temperament, Intelligenz, positives Selbstwertgefühl, weibliches Geschlecht, sichere Bindung), den innerfamiliären Ressourcen (emotionale Wärme, familiärer Zusammenhalt, mindestens eine stabile Bezugsperson) sowie den außerfamiliären Ressourcen (soziale Unterstützung, positive Schulerfahrungen).
In Kontexten früher Traumatisierung sind es vor allem supportive Bindungsfiguren, die die Wirkung traumatischer Erfahrungen „abpuffern“ können, was ebenfalls durch viele Studien belegt wurde. Im Falle sexuellen Mißbrauchs z.B. sind es ein emotional warmes Familienklima (Richter-Appelt & Tiefensee, 1996 a, b) sowie vor allem die mütterliche Unterstützung nach Aufdeckung des Mißbrauchs (Elliot & Carnes, 2001; Everson et al., 1989; Kendall-Tackett et al., 1997). Auch in der Forschung zur körperlichen Mißhandlung zeigte sich die Wichtigkeit eines hilfreichen posttraumatischen Umfeldes (Farber & Egeland, 1987).
Unter Vulnerabilität versteht man eine genetisch bedingte besondere Sensibilität für Umweltbedingungen. Sie führt nach Resch et al. (1999, S. 25) dazu, daß biologische und psychosoziale Risikofaktoren besonders intensiv wirken und die Umweltanpassung des Individuums labilisieren. Es genügen dann bereits geringe äußere Anlässe oder anstehende Entwicklungsaufgaben (dazu weiter unten), das vulnerable Individuum zur Dekompensation zu bringen, d.h. psychopathologische Symptome zu entwickeln.
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Als Gegenstück zu Vulnerabilität bezeichnet Resilienz die ebenfalls genetisch bedingte Widerstandskraft gegen Risikofaktoren. Darunter versteht man „nicht nur das Phänomen, sich unter schwierigen Lebensumständen gesund und kompetent zu entwickeln, sondern auch die relativ eigenständige Erholung von einem Störungszustand.“ (Bender & Lösel, 2000).
Ob potentiell traumatisierende Entwicklungsbedingungen auch zu psychopathologischen Symptomen führen, hängt also neben der Anzahl von Risiko- und Schutzfaktoren auch von der individuellen, genetisch bedingten Vulnerabilität bzw. Resilienz des betroffenen Kindes ab.
Weitere entwicklungsrelevante Variablen sind die erwähnten Entwicklungsaufgaben , d.h. der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Motorik, Sprache, Ausscheidungskontrolle etc. (vgl. Achenbach, 1990; Havighurst, 1972), aber v.a. auch psychischer Individuationsschritte wie Differenzierung von Ich und Nicht-Ich, Konstituierung des Selbst, Objektkonstanz, Triangulierung etc. (vgl. Spiel & Spiel, 1987; Rudolf, 1993).
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Neben diesen altersnormierten Entwicklungsaufgaben gibt es auch nicht-normative Einschnitte im Lebenslauf, sog. kritische Lebensereignisse , die sowohl Risiken für Fehlanpassungen bergen als auch als Herausforderungen eine Chance für positive Entwicklungen darstellen können (Filipp, 1990; Montada et al., 1992). Beispiele sind die Geburt eines Geschwisters, Scheidung der Eltern, Orts- und Schulwechsel, Arbeitslosigkeit eines Elternteils, schwerwiegende Erkrankungen, aber auch gravierendere Belastungen wie der Tod nahestehender Personen.
Kritische Lebensereignisse wirken dann besonders einschneidend, wenn sich das Kind in einer Phase erhöhter Vulnerabilität befindet, weil es durch altersnormierte Entwicklungsaufgaben herausgefordert wird (wenn es also z.B. durch den Eintritt in den Kindergarten einen wichtigen Trennungsschritt von der primären Bezugsperson psychisch bewältigen muß). Besonders destruktiv wirkt dieses Zusammentreffen, wenn die Qualität des kritischen Lebensereignisses dazu angetan ist, die Bewältigung der Entwicklungsaufgabe gänzlich zu verhindern. Dies ist in Fällen früher Traumatisierung die Regel. So liegt es auf der Hand, daß etwa durch elterliche Mißhandlungen in der Säuglings- und Kleinkindzeit, jenseits der Bindungsproblematik, die altersgerechte Integration sensomotorischer Schemata in ein köhärentes Körperbild massiv erschwert wird. Ebenso wirkt sexueller Mißbrauch dann besonders pathogen, wenn er in die ödipale Phase fällt, in der die Auseinandersetzung mit dem Körper, der sexuellen Identität und der Generationengrenze im Zentrum steht. In dieser Phase, in der es immer auch um die Verarbeitung erotisch-sexueller Phantasien geht, wirken reale sexuelle Übergriffe, v.a. innerfamiliäre, besonders traumatisierend. Durch diesen Einbruch der Realität in den phantasmatischen Bereich wird die Grenze zwischen Innen und Außen und damit die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit als Voraussetzung für die kognitive und psychosoziale Entwicklung schwer beeinträchtigt.
Angesichts der komplexen biopsychosozialen Ätiologie der Störung muß auch die psychodynamische Behandlungsplanung mehrdimensional angelegt werden. Dies betrifft zum einen die Dimension personzentriert/ kontextzentriert, zum anderen die Dimension medizinisch/ sozial/ psychologisch (Hurrelmann & Settertobulte, 2002). Es handelt sich dabei sowohl um die Option individueller Psychotherapie (in schweren Fällen zusätzlich auch ärztlich-funktio-neller Behandlung sowie sensorischer, motorischer, kognitiver und sozialer Kompetenztrainings) als auch um die Option notwendiger Interventionen im fam i liären (also z.B. Erziehungsberatung, Familienhilfen) und sozialen Umfeld (Absprachen mit Schule und Kiga, nötigenfalls auch teilstationäre oder stationäre Fremdunterbringung).
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Bei der Planung der individuellen Psychotherapie früh traumatisierter Kinder ist zunächst die Frage Therapiesettings zu klären. Die Psychotherapie kann stärker auf das Kind oder mehr auf die Familie sein, es kann Einzel- oder auch Gruppentherapie erwogen werden, daneben sind Kurz- oder Langzeittherapie sowie ambulantes oder (teil-)stationäres Setting denkbar.
Für früh traumatisierte Kinder ist eine kindzentrierte Spieltherapie mit begleitenden Elterngesprächen angezeigt. Wenn das Kind nicht in einer Pflege- oder Adoptivfamilie, sondern noch im ehemals traumatisierenden Familienmilieu lebt, muß eher familienzentriert, d.h. familientherapeutisch, gearbeitet werden. Im Falle institutioneller Unterbringung des Kindes sollte regelmäßiger persönlicher, zumindest jedoch telefonischer Kontakt mit den betreuenden Sozialpädagogen gehalten werden.
Zu Beginn der Therapie ist bei früh traumatisierten Kindern der geschützte Rahmen einer Einzeltherapie das Setting der Wahl. Im fortgeschrittenen Stadium kann sie, v.a. bei externalisierenden Störungsbildern, durch ein gruppentherapeutisches Angebot, z.B. ein psychosoziales Kompetenztraining, ergänzt werden, um einen schrittweisen Transfer der „korrigierenden emotionalen Erfahrung“ in den Alltag zu ermöglichen. Gruppentherapie bietet sich auch in Fällen an, in denen die traumatischen Erlebnisse besonders scham- und schuldbesetzt sind, wie z.B. nach sexuellem Mißbrauch. Durch den Kontakt mit „Leidensgenossinnen“ können Gefühle von sozialer Isolation eher aufgelöst und abgewehrte Affekte wie Wut und Trauer u.U. leichter bearbeitbar werden als im Einzelsetting.
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Erfahrungsgemäß werden früh traumatisierte Patienten eher in Langzeit-, nicht in Kur z zeitth e rapien erfolgreich behandelt.
Schwieriger ist die Entscheidung zwischen ambulanter und stationärer Therapie. Letztere ist bei schweren und chronischen Störungen angezeigt, besonders bei Selbst- und Fremdgefährdung. Sie sollte aber auch bei weniger intensiver Erkrankung angewandt werden, wenn die Familie mit so hohen Risiken belastet ist (Inzest, Alkohol- und Drogenabusus etc.), daß eine Gesundung des Patienten ohne zumindest vorübergehende Entfernung aus der Familie nicht möglich ist. Teilstationäre Therapie in einer Tagesklinik ist als Zwischenform geeignet, um ohne das Risiko einer erneuten Bindungstraumatisierung durch die Trennung von der Familie eine intensive Therapie zu ermöglichen.
Die Entscheidung darüber, ob das früh traumatisierte Kind mit seinen Bezugspersonen durch eine psychodynamische Therapie zu behandeln oder doch besser an einen Therapeuten eines anderen Verfahrens zu überweisen ist, ist nach den Kriterien der Störungs-, Patienten- und Familienbedingungen zu treffen (vgl. Schmidtchen, 2001, S. 133 ff.).
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Was die Störungsbedingungen betrifft, so sind Art, Ursache, Komplexität, Schwere und Dauer der Störung zu prüfen. Grundsätzlich gilt, daß bei primär externen Störungsursachen in Form psychosozialer Risikofaktoren eine eher therapeutengesteuerte, direktive Methode, wie etwa Verhaltenstherapie, angezeigt ist. Das gleiche gilt, wenn es hauptsächlich um die Beeinflussung extrem belastender Symptome, z.B. Zwänge oder Phobien, geht. Bei eher interner Störungsursache wie unbewußten Konflikten oder Traumatisierungen, sind, so der Grundsatz, eher patientengesteuerte, non-direktive Maßnahmen der psychodynamischen Methode zu empfehlen.
Bei früh traumatisierten Kindern liegen i.d.R.beide Arten von Störungsursachen vor, d.h. sowohl externe psychosoziale Risikofaktoren als auch interne traumatische Entwicklungsstörungen. Um das äußere wie innere Chaos des Patienten zu beruhigen, muß gerade am Anfang der Therapie trotz einer entwicklungsorientierten Grundhaltung in vielen Fällen zunächst direktiv gearbeitet werden - in der Elternarbeit mit Plänen zur Strukturierung des Alltags, in der Einzeltherapie mit traumabezogenen Übungen zur Impulskontrolle und zur emotionalen Stabilisierung (s. ausführlich Kap. B.2.1.3.1.). Bei der Integration verfahrensfremder Methoden in das psychodynamische Basisverfahren sind Probleme nicht völlig vermeidbar, können jedoch durch Reflexion der Wirkungen dieser Methoden auf Übertragung und Gegenübertragung (Vogel, 2005) bewältigt werden (vgl. Kap. B.1.3.1.).
Früh traumatisierte Kinder leiden ist i.d.R.unter schweren und komplexen Störungen, weshalb multimodale Behandlungen nötig sind, die nur in Kooperation mit anderen Fachkräften (Ergotherapeuten, Ärzten, Lerntherapeuten) realisiert werden können. In besonders schweren chronifizierten Fällen ist eine Behandlung oft nur noch stationär möglich.
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Bei den Patientenbedingungen ist auf die Indikationsaspekte des Alters und Entwicklungsstandes, der Gruppenfähigkeit, der Bereitschaft zur Mitarbeit (Compliance) sowie der Selbsthilferessourcen zu achten. Verfügen die Kinder über keine oder nur geringe Mita r beitsbereitschaft, dann haben sie erfahrungsgemäß auch nur geringe Selbsthilferessou r cen. Hier besteht für eine Einzelbehandlung wenig Aussicht auf Erfolg, nicht zuletzt, weil diese Kinder häufig die abgewehrte Ambivalenz ihrer lediglich nach außen therapiemotivierten Eltern agieren. In diesen Fällen ist zunächst eine psychodynamische Familientherapie oder zumindest eine intensive begleitende Elternarbeit angezeigt. Im Falle geringer Selbsthilferessourcen, aber guter Compliance, hat eine individualzentrierte Therapie eine bessere Prognose. Dies ist bei früh traumatisierten Kindern sehr oft zu beobachten, da sie die emotionale Zuwendung und Responsivität einer therapeutischen Mutter-Figur intensiv zu nutzen wissen. Hieraus kann allerdings ein Loyalitätskonflikt des Kindes bzw. Rivalität der Eltern resultieren, die mit den Eltern zu bearbeiten sind.
Das für die Patientenbedingungen Gesagte gilt ähnlich für die Familienbedingungen. Hier sind Familienstatus und ebenfalls Mitarbeitsbereitschaft von Belang. Bei einem Familie n status mit hohem Risiko, wenn das Kind noch im ehemals traumatisierenden Milieu lebt, empfiehlt sich als Einstieg eine psychodynamische Familientherapie mit strukturierenden Interventionen. Parallel dazu sollte für das Kind eine zeitintensive, nondirektive Einzeltherapie angeboten werden. In minder schweren Fällen kann bereits eine intensive Elternarbeit im Rahmen einer ambulanten Einzeltherapie genügen.
Weil das Arbeitsbündnis für eine Kindertherapie vorrangig mit den Eltern geschlossen wird, ist die familiäre Mitarbeitsbereitschaft (Compliance) von zentraler Bedeutung. Liegt sie nicht ausreichend vor, kann auch hier eine Familientherapie bzw. intensive Elternarbeit die Motivation zur Mitarbeit steigern.
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Die obigen Ausführungen zu den Indikationskriterien machen deutlich, daß im Rahmen einer entwicklungsorientierten Psychotherapie je nach Störungs-, Patienten- und Familienbedingungen u.U. auch multimodale psychotherapeutische Interventionen zur Anwendung kommen. Die Behandlung früh traumatisierter Kinder mit ihren chronischen, komplexen und multimorbiden Störungsbildern sowie ihrem oft labilen und ressourcenarmen familiären und sozialen Umfeld erfordert es häufig, Elemente anderer Therapieverfahren (z.B. traumattherapeutische Imaginationsübungen, verhaltensorientierte Impulskontroll- und Angstbewältigungtrainings etc.) in die psychodynamische Therapie zu integrieren. Damit ist die Frage differentieller Indikation bzw. die Problematik einer allgemeinen oder integrativen Psychotherapie angesprochen.
Im Zuge des allgemeinen „Trends zur Methodenintegration“ (Naumann-Lenzen, 2007) sind unterschiedliche Konzeptionen entwickelt worden, verschiedene Therapieschulen zu berücksichtigen. Der Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeut Vogel (2005) unterscheidet (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) fünf Formen:
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Die Allgemeine Psychotherapie von Grawe geht am weitesten, indem sie die Überwindung der Schulenspezifik anstrebt. Sie erhebt den Anspruch, allgemeine, empirisch abgesicherte Wirkfaktoren von Psychotherapie ausgemacht zu haben, die nun schulenübergreifend zu optimieren sind. In einer seiner letzten Publikationen (2005) nennt Grawe fünf solcher Wirkfaktoren: Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, Problembewältigung, motivationale Klärung und Therapiebeziehung. Diese Faktoren will Grawe in einem komplexen System empirisch fundierter Handlungsregeln als Wenn-Dann-Sätze „patientenspezifisch verwirklichen“: „Die Wenn-Komponente bezieht sich in der Regel auf patientenseitige Voraussetzungen oder auf Situationsmerkmale, die Dann-Komponente auf Aspekte des therapeutischen Vorgehens.“ (1999, S. 352)
Dieses standardisierte, manualisierte Regelwerk, welches das traditionelle technisch-instrumentelle Verhältnis der Verhaltenstherapie zum Patienten offenbart, wird mittlerweile sogar von deren eigenen Vertretern kritisiert: „Die Generierung immer neuer Kombinationen von Wirkprinzipien könnte … zu Überforderungen führen, wenn man nicht die sportiven Kapazitäten besitzt, diese vielen Regeln während einer Therapiestunde ständig mental einsatzfähig zu haben.“ (Maercker, 1999, S. 381f.)
Neben diesem eher pragmatischen Argument ist aus wissenschaftstheoretischer Sicht der einseitig nomothetisch-empiristische Denkansatz Grawes zu kritisieren, der einem historisch überholten Ideal einer „Einheitswissenschaft“ verpflichtet ist. Grawe verkennt, daß „jede heutige wissenschaftliche Disziplin … ihre eigenen Forschungsmethoden entwickelt (hat), die ihrem spezifischen Forschungsgegenstand angemessen sind und nicht nur die Qualitätskriterien, sondern auch die Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse des Forschers mitbestimmen.“ (Leuzinger-Bohleber et al., 2002, S. V). So mutet das Leitbild einer allgemeinen Psychotherapie eher an wie „eine Größenphantasie, in der die Stärken und Schwächen, Eigenheiten und Vorlieben von Psychotherapeuten und Patienten negiert werden.“ (Strauß, 1999, S. 384).
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Deutlich bescheidener gibt sich die Eklektische Psychotherapie, bei der „einzelne Verfahren aus einzelnen Therapieformen zusammengewürfelt (werden), ohne daß ein konzeptuelles Hintergrundgerüst erkennbar wird.“ (Hoffmann et al., 1998, S. 284). So negativ „Eklektizismus“ begrifflich konnotiert ist, in der klinischen Praxis ist er dennoch verbreitet. Die Auswahl der „Methodenimporte“ erfolgt dabei aber nicht wahllos, sondern ausgehend von klinischer Erfahrung nach adaptiven Gesichtspunkten kontext- und phasenspezifisch an den Bedürfnissen des Patienten orientiert. Leider geschieht dies in den meisten Fällen intuitiv und wenig reflektiert. Eklektische Therapie kann jedoch zumindest als Ausgangspunkt dienen, das eigene therapeutische Vorgehen kritisch zu überprüfen und ein „konzeptuelles Hintergrundgerüst“ zu konstruieren, ohne das eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapie nicht möglich ist.
Diesen Anspruch versucht die Kombinierte Psychotherapie einzulösen. Ihr Ziel ist eine Kombination von verschiedenen Methoden, deren Auswahl „…im einzelnen nach der klinischen Notwendigkeit, nach dem Stadium der Behandlung beziehungsweise der Entwicklung im therapeutischen Prozeß, nach dem Ausbildungsstand und schließlich nach der persönlichen Präferenz des Therapeuten (erfolgt).“ (Saß & Herpertz, 1999, S. 12). Behandlungskombinationen dieser Art sind im stationären Bereich mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme (Vogel, 2001, S. 25), wobei jedoch oft unreflektiert ein komplementäres Verhältnis der verschiedenen Verfahren unterstellt wird (Hoffmann et al., 1998). Inwieweit sich multimodale Therapiemodelle auf den ambulanten Sektor übertragen lassen, ist eine noch ungelöste Frage (vgl. weiter unten Kap. B.1.3.2.).
Eine andere Möglichkeit, die verschiedenen Therapieverfahren zu berücksichtigen, ist die indikativ-differentielle Psychotherapie. Sie besteht unter den gegebenen Verhältnissen getrennter Verfahren in der indikativen Zuweisung des Patienten an einen Kollegen einer bestimmten Therapieschule. „Der Weg zu einer optimalen psychotherapeutischen Versorgung“ führt demnach „über mehr Wissen darüber, welcher Patient in welchem Behandlungsmodell wahrscheinlich am besten aufgehoben ist.“ (Eckert, 1996, S. 333).
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Fiedler (2000) nimmt eine Zwischenstellung zwischen indikativ-differentieller und integr a tiver Therapie (s. unten) ein. Denn einerseits plädiert er für ein gestuftes Vorgehen i.S. selektiver, differentieller und adaptiver Indikation, andererseits erhebt er mit seiner „phänomenorientierten und störungsspezifischen Therapie“ den Anspruch, eine integrative, schulenübergreifende Psychotherapie zu begründen. Aufgrund dieser „Zwischenstellung“ zwischen differentieller und integrativer Therapie scheint Fiedler auch zu schwanken, ob die verschiedenen Therapieschulen erhalten bleiben sollen oder „ob es sich (überhaupt) noch lohnt, auf eine ‚Bewahrung der Therapieschulen’ hinzudenken“ (2004, S. 150).
Schließlich bleibt noch die Integrative Psychotherapie zu erwähnen – ein Begriff, unter dem die verschiedensten Therapieverfahren firmieren (Überblick bei Sponsel, 1995). Im deutschsprachigen Raum hat sich seit den 1970er Jahren im Rahmen der Humanistischen Psychologie die „Integrative Therapie“ von Petzold (2004) als „dritte Kraft“ zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse etabliert.
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Ohne die verschiedenen Konzepte „integrativer“ Psychotherapie hier im einzelnen zu würdigen, läßt sich festhalten, daß sich die verschiedenen Ansätze in der grundlegenden Frage unterscheiden, ob sie eine schulenübergreifende Therapieform anstreben oder ob sie ihre jeweilige Therapieschule beibehalten und lediglich schulenfremde Elemente unter bestimmten näher zu definierenden Bedingungen in das eigene therapeutische Basisverfahren integrieren möchten (vgl. Sponsel, 1995).
Ich Folgenden begründe ich meine eigene Position als Psychoanalytikerin und Kindertherapeutin und beantworte die Frage, ob die Therapieschulen beibehalten werden sollten, mit einem eindeutigen „Ja“.
Eine integrative Psychotherapie, die die spezifischen Therapieschulen überwinden will, läuft letztlich auf eine Allgemeine Psychotherapie sensu Grawe hinaus. Mit ihr ginge der kreative Reichtum der verschiedenen Verfahren mit ihren historischen Wurzeln und philosophischen Traditionen, den jeweils zugrundeliegenden Menschenbildern und entsprechenden Therapiezielen, schließlich das ganze breite Spektrum an professionellen Identitäten verloren. Die jeweilige Identität übt auf spezifische Patiententypen eine spezifische Attraktion aus, die als Passung zwischen Therapeut und Patient eine zentrale Voraussetzung für den Therapieerfolg darstellt (Orlinsky & Howard, 1988). Aufgabe des Therapeuten ist es deshalb, im Rahmen der Vorgespräche die individuellen Bedürfnislagen und die Therapieziele des Patienten zu eruieren, um ihm eine optimale Therapie zukommen zu lassen. Dies setzt aber voraus, daß der Therapeut die Indikations- und Wirkprofile alternativer Therapieverfahren auch kennt.
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Häufig ist diese differentielle Indikationsentscheidung kein eindeutiges Entweder-Oder. So ist im Bereich der Kindertherapie aufgrund der Abhängigkeit des Patienten von seinen Bezugspersonen regelmäßig auch eine familiendynamische konflikthafte Beziehungsdimension gegeben, die eine psychodynamische Therapie indiziert erscheinen läßt. Andererseits haben Kinder aber auch spezifische Symptome (z.B. Phobien, Zwänge), für deren Behandlung sich verhaltenstherapeutische Zugänge als tendenziell wirksamer erwiesen haben (Fonagy & Roth, 2004).
Unter den gegebenen Bedingungen der Richtlinienpsychotherapie steht die niedergelassene psychoanalytische Kindertherapeutin deshalb im Einzelfall vor einer schwierigen Entscheidung: Entweder sie überweist den Patienten an eine Kollegin eines anderen Verfahrens, etwa zu einer Verhaltenstherapeutin, was praktisch mit neuen monatelangen Wartezeiten verbunden ist, oder sie übernimmt den Patienten in Therapie und wendet im Therapieverlauf adaptiv einzelne störungsspezifische Techniken als „Methodenimport“ an. Diese Indikationsfrage wird noch schwieriger bei früh traumatisieren Patienten mit ihren multimorbiden Störungsbildern. Hier kommen zu einer multiplen Symptomatik altersbedingt aktuelle Entwicklungsaufgaben sowie häufig akute kritische Lebensereignisse wie z.B. Trennung der Eltern hinzu. In diesen Fällen stößt eine rein störungsspezifisch orientierte differentielle Indikations- und Überweisungspraxis sehr schnell an ihre Grenzen (Frohburg, 2006).
Wünschenswert wäre hier ein interdisziplinäres Diskursfeld, in dem Indikations- und Behandlungsfragen multiprofessionell diskutiert werden könnten. Jenseits berufspolitischer Machtkämpfe könnte sich eine am Patientenwohl orientierte schöpferische „Streitkultur“ entwickeln, in die verschiedene Professionen ihr jeweiliges Potential einbringen und voneinander lernen. Ein solches Voneinander-Lernen „schafft zwar kein gemeinsames Menschenbild und keine einheitliche Theorie, führt aber zu einer Verbesserung der gemeinsamen Kommunikation und Versorgung.“ (Hoffmann & Schüßler, 1999, S. 373).
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In diesem Sinne betrachte ich es als durchaus sinnvoll, im Verlauf einer psychodynamischen Behandlung adaptiv, also kontext-, phasen- und situationsspezifisch bestimmte Elemente anderer Therapieverfahren (z.B. störungsspezifische Techniken der Verhaltenstherapie, der Traumatherapie etc.) in die Behandlung einzubeziehen. „Dabei ist es unumgänglich, vor der Integration eines Therapieelements einer therapeutischen Richtung dieses in die theoretische Sprache der Basistheorie zu übersetzen und ihre Wirksamkeit mit den Möglichkeiten der Basistheorie zu erklären.“ (Vogel, 2001, S. 35)
Die psychodynamische Schulrichtung eignet sich „wegen ihres mit Abstand elaboriertesten theoretischen Systems“ besonders für eine Integration schulenfremder Elemente (Vogel, 2005, S. 23). Verhaltenstherapeutische Techniken eignen sich umgekehrt für einen „Methodenimport“, da sie hochgradig symptom- und zielorientiert sind und nur einen losen Bezug zur ohnehin nicht sonderlich ausdifferenzierten Krankheitstheorie der Verhaltenstherapie besitzen (ebd., S. 65). So lassen sich VT-Techniken psychodynamisch als Arbeit an den Ich-Funktionen übersetzen („Hausaufgaben“ als „Arbeit an der Objektkonstanz“, Selbstberuhigungsinstruktionen als „Arbeit am malignen Introjekt“ etc., vgl. ebd., S. 98). Grundvoraussetzung einer solchen Adaption ist und bleibt aber die aufmerksame Beobachtung der Über-tragungs-Gegenübertragungs-Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Insbesondere die Gegenübertragungsanalyse „muß zeigen, ob und in welchem Ausmaß die intendierte Integrationsarbeit vom inszenierten Übertragungsszenario oder gar von projektiv-identifikatorischen Prozessen bestimmt ist.“ (ebd., S. 100).
Wird diese Grundvoraussetzung beachtet, lassen sich verfahrensfremde Techniken durchaus mit Gewinn im Rahmen einer psychodynamischen Therapie anwenden. Dies entspricht zunehmend auch im ambulanten Bereich der klinischen Praxis. So plädieren z.B. die Tiefenpsychologen Wöller & Kruse „für die Nutzung und Adaptation geeigneter Interventionstechniken nicht-psychodynamischer Provenienz, sofern ein psychodynamisches Grundverständnis … gewahrt bleibt.“ (2005, S. 32). Auch Michael Ermann, ein eigentlich eher „wertkonservativer“ Psychoanalytiker, entwirft eine modifizierte tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie als angewandte Ich-Psychologie mit „Techniken, die zum großen Teil in anderen Behandlungsmethoden entwickelt wurden und für die tiefenpsychologisch fundierte Behandlung adaptiert werden …. Methodenkombinationen, wie die Einführung von imaginativen Techniken, Angstbewältigungstrainings, Entspannungsübungen …“ (2004, S. 310).
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Die Ausführungen zu den Rahmenbedingungen und Indikationskriterien einer entwicklungsorientierten Psychotherapie sowie zu den Problemen der differentiellen Verfahrensindikation haben deutlich gemacht, daß jeder einzelne „Fall“ eines früh traumatisierten Kindes eine individuell zugeschnittene Behandlungsstrategie erfordert. Sie umfaßt person- oder kontextzentriert ein breites Spektrum an medizinischen, psychologischen, sozialen bzw. sozialökologischen Maßnahmen, wobei je nach Störungs-, Patienten- und Familienbedingungen unterschiedliche Verfahren in unterschiedlichen Settings zur Anwendung kommen.
Eine derart auf den individuellen Fall abgestimmte Therapie kann nur von einem interdisziplinären Behandlungsteam wirklich bewältigt werden. Im stationären Sektor, in dem vorrangig schwere, komplexe und chronifizierte Störungsbilder behandelt werden, ist ein solches multiprofessionelles Vorgehen seit Jahren Standard (Martin, 1997). Multiprofessionelle Zusammenarbeit erfordert ein vertikales Management für organisatorische Aufgaben (Beantragung und Verwaltung der finanziellen Mittel, Kontakte mit den sozialen Diensten etc.) sowie ein horizontales Management zur patientenspezifischen Abstimmung der therapeutischen Maßnahmen (Schmidtchen, 2001, S. 153).
Dieser gewaltige Aufwand übersteigt bei weitem die Möglichkeiten von ambulant arbeitenden Psychotherapeutinnen, die im kassenfinanzierten Bereich meist in Einzelpraxen arbeiten. Anders als den KollegInnen in ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Praxen, die in einem seit vielen Jahren rechtlich geregelten Kooperationsmodell, der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung (Moik, 2000), multiprofessionell arbeiten können, steht ein ähnliches Kooperationsmodell kinderpsychotherapeutischen Kolleginnen nicht zur Verfügung. Diese müssen sich eher als „Einzelkämpferinnen“ im Gewirr der unterschiedlichsten Hilfsangebote ihre Kooperationspartner suchen, mit ihnen Netze knüpfen und diese Netze kommunikativ am Leben erhalten – eine anstrengende, zeitaufwendige und unbezahlte „Nebentätigkeit“.
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Kann im psychotherapeutischen Bereich ein notwendiger Methodenimport aus anderen Therapieverfahren nicht aus eigener Kraft geleistet werden, so ist an eine Kooperation mit niedergelassenen KollegInnen nicht-psychoanalytischer Verfahren zu denken. Im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie gestaltet sich diese Kooperation wegen der rechtlichen Restriktionen jedoch noch immer schwierig. Hier ist man auf die Kulanz der jeweiligen Krankenkasse angewiesen.
Deutlich einfacher ist die Verbindung psychodynamischer Therapie mit Therapieformen aus dem nicht-kassenfinanzierten Bereich, die von kommunalen, kirchlichen oder freien Trägern der Jugendhilfe angeboten werden. So hat sich für früh traumatisierte Kinder mit Problemen im Sozialverhalten, wie bereits erwähnt, im fortgeschrittenen Stadium der psychodynamischen Einzeltherapie eine Parallelführung mit sozialen Gruppenangeboten bewährt, um die neu erworbenen sozialen Kompetenzen unter Gleichaltrigen auszuprobieren.
Psychodynamische Einzeltherapie läßt sich meiner Erfahrung nach auch mit themenzen -trierten, überwiegend psychoedukativen Gruppen (z.B. Ernährungsberatung für Eßgestörte) bzw. mit übenden Verfahren (progressive Muskelentspannung, Legasthenie-, Konzentrationstraining etc.) kombinieren. Die Zusammenführung der therapeutischen Prozesse i.S. gemeinsamer Reflektion in Fallkonferenzen (analog den Teamsitzungen im stationären Bereich) ist im ambulanten psychotherapeutischen Bereich jedoch leider nicht durchführbar, da hierfür die zeitlichen und finanziellen Ressourcen fehlen. Komplexe Übertragungsprozesse, insbesondere die in der Literatur immer wieder berichteten Fälle von Spaltung (in die „gute“ Psychotherapeutin, die „böse“ Lerntherapeutin etc.) sind nicht immer vermeidbar und meist nur durch telefonische Kontakte zu klären.
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Im Zentrum der Zusammenarbeit zwischen psychodynamischer Einzelpraxis und Jugendhilfe stehen deren komplementäre pädagogische Angebote (Hilfen zur Erziehung gem. § 27 ff. KJHG). Durch sie werden die familiären Systeme entlastet, die elterlichen Kompetenzen gestärkt und dem Kind alternative Gruppen- und Beziehungserfahrungen geboten. Ohne diese sozialpädagogische Unterstützung kann eine ambulante Einzelpsychotherapie früh traumatisierter Kinder kaum erfolgreich sein. Kooperations- und Konkurrenzprobleme, wie sie immer wieder im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtet werden (Fegert & Schrapper, 2004) treten zwischen Psychotherapiepraxis und Jugendhilfe seltener auf, da keine strukturellen Abhängigkeiten bestehen. Dennoch tauchen auch hier, wie überall an den Schnittstellen psychosozialer Versorgungssysteme, gelegentlich Schwierigkeiten auf. Diese „hängen zum einen mit den verschiedenen Aufgaben, den unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Konkurrenzverhältnissen, der jeweiligen Ausbildung, den subkulturellen Ausdrucksformen bzw. Fachsprachen, dem Sozialprestige und – last not least – mit der unterschiedlichen Bezahlung zusammen“ (Armbruster & Bartels, 2005, S. 409).
Über die Bedingungen erfolgreicher Kooperation ist viel geschrieben worden: Kooperation gelingt nur zwischen Gleichen, Kooperation muß sich für beide Seiten lohnen, es ist ein Mindestmaß an gemeinsamen Zielen und Überzeugungen erforderlich, und gute Kooperation ist von Personen abhängig, braucht aber auch Strukturen und Verfahren, um diese Personen zu schützen (Darius & Hellwig, 2004). Kooperation heißt aber auch, „sich gegenseitig besser kennen zu lernen. So banal diese Forderung klingt, so schwer ist sie im Alltag zu realisieren, gelingt das Kennenlernen doch vor allem dann, wenn die jeweils andere Perspektive für eine gewisse Zeit übernommen werden kann.“ (Fegert & Schrapper, 2004, S. 23). Dies erfordert, sich mit den fremden Organisationskulturen und Diskursparadigmen (von Kardorff, 1998) des Partners auseinanderzusetzen, die damit verbundenen aversiven Affekte auszuhalten und mit dem Partner darüber in einen streitbaren, aber respektvollen Dialog zu treten.
Im vorangegangenen Kapitel B1. wurde basierend auf dem theoretischen Forschungsstand zur frühen Traumatisierung (Teil A) damit begonnen, den vertretenen entwicklungsorientierten psychodynamischen Therapieansatz zu entfalten. Während im nächsten Teil B2 die unmittelbar klinischen Implikationen im analytischen Raum behandelt werden sollen, wurde in diesem Kapitel B1 die entwicklungsorientierte Arbeit im sozialen Feld betrachtet.
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Ausgehend von der psychischen Verfaßtheit früh traumatisierter Kinder (Kap. B.1.1.1.), die durch multiple und komplexe Störungen in nahezu sämtlichen Entwicklungsbereichen gekennzeichnet ist, wurden zunächst die Grenzen eines klassisch psychoanalytischen, deutenden Therapieansatzes aufgezeigt (Kap. B.1.1.2.). Wegen des durch mehrfache psychosoziale Risiken und entsprechende Ressourcenarmut geprägten sozialen Milieus, aus dem früh und chronisch beziehungstraumatisierte Kinder meist stammen, wurde die Notwendigkeit festgestellt, neben individueller Einzelpsychotherapie und begleitender Elternarbeit zusätzliche (sozial)pädagogische Interventionen im familialen und sozialen U m feld in die Wege zu leiten. Dies zum einen, um einen sicheren Rahmen für die Herstellung und Aufrechterhaltung des therapeutischen Prozesses zu schaffen, zum anderen, um Ressourcen zu fördern, das familiale System zu entlasten und dem Kind außerfamiliäre psychosoziale Entwicklungsfelder zu eröffnen. Da diese Maßnahmen zwar von sozialpädagogischen Fachkräften durchgeführt, jedoch von der Analytikerin durch Motivation der Eltern sowie telefonische Kontakte koordiniert werden, kann man kritisch fragen, ob eine solche Arbeitsweise mit dem klinisch-psychoanalytischen Selbstverständnis von Neutralität und Abstinenz noch vereinbar ist. Diese sozialpädagogischen Interventionen werden von zumindest implizit formulierten Entwicklungszielen für den Patienten getragen, die die Analytikerin mit den externen Fachkräften teilt. Die entwicklungsorientierte Arbeit der Analytikerin hat deshalb letztlich auch eine teilweise pädagogische Zielrichtung. Damit ist das seit jeher spannungsreiche Verhältnis von Psychoanalyse und Pädag o gik berührt, dem in Kap. B.1.1.3. ausführlich nachgegangen wurde.
Hier wurden zunächst die Pioniere psychoanalytischer Pädagogik der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts gewürdigt (Aichhorn, Bernfeld, Zulliger, Redl, Bettelheim), anschließend die Neuaufnahme der Debatte im Jahrbuch für Psychoanalyt i sche Pädagogik der 80er Jahren dargestellt (Fatke, Datler, Trescher, Figdor, Körner). Als Ergebnis ließ sich festhalten, daß die behandlungstechnischen Empfehlungen der „Pioniere“ unklar bleiben und die theoretischen Positionierungen der jüngeren Autoren keine einheitliche Linie erkennen lassen.
Ähnlich uneinheitlich sind die Positionen in der Frage, ob in der klinischen Situation päd a gogische Elemente zum Tragen kommen sollen (Kap. B.1.1.3.2.). Konnte diese Frage schon in den „controversial discussions“ (Melanie Klein contra Anna Freud) nicht geklärt werden, so sind auch in neueren Positionen (Hurry, Fonagy & Target) präzise Abgrenzungskriterien zwischen psychoanalytisch-deutenden und pädagogisch-entwicklungsfördernden Interventionen nicht auszumachen. Dies mag aus dem spezifischen Setting der Kinderanalyse resultieren, in dem der Unterschied zwischen der deutenden Funktion der Analytikerin und ihrer Funktion als Entwicklungsobjekt verschwimmt (Hurry), weshalb scharfe Grenzen zwischen therapeutischem und pädagogischem Handeln verzichtbar erscheinen (Datler).
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Auch die Ansätze einer developmentally based (Greenspan), relationalen (Altman) oder bifokalen (Rauchfleisch) Entwicklungs-Psychotherapie ließen sich wegen ihrer unterschiedlichen epistemologischen Traditionen nicht in einen übergeordneten Theorierahmen integrieren. Deshalb wurde schließlich auf das aus der Entwicklungspsychiatrie stammende Paradigma entwicklungorientierter Psychotherapie zurückgegriffen, das sich heute in der Kinderpsychotherapie und –psychiatrie als übergreifendes Rahmenmodell für klinische Interventionen durchgesetzt hat. Dieses Modell, das sich als Konzeptualisierung „quer zu den Therapieschulen“ versteht, wurde in Kap. B.1.2. dargestellt und auf die Ebene einer konkreten Behandlungspraxis für früh traumatisierte Kinder übertragen.
Nach einer Klärung des Entwicklungsbegriffs und Darstellung des biopsychosozialen Entwic k lungsmodells (Kap. B.1.2.1.) wurden entwicklungsrelevante Variablen (Kap. B.1.2.2.) beschrieben (Risiko- und Schutzfaktoren, Vulnerabilität und Resilienz, Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse), die für das Verständnis der Ätiologie von Traumafolgen ebenso relevant sind wie für die konkrete Indikationsstellung und Therapieplanung. Aus ihnen wude die Notwendigkeit eines mehrdimensionalen biopsychosozialen Interventionsspektrums abgeleitet (Kap. B.1.2.3.) sowie die Forderung nach einzelfallor i entierter Therapieplanung (Kap. B.1.2.4.).
In Kap. 1.3. wurden Probleme behandelt, die sich aus dem Paradigma einer entwicklungsosrientierten Psychotherapie ergeben.
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Ein multimodaler Therapieansatz für früh traumatisierte Kinder mit ihren chronischen, komplexen und multimorbiden Störungsbildern erfordert, auch Elemente anderer Therapieverfahren (z.B. traumattherapeutische Imaginationsübungen, verhaltensorientierte Impulskontroll- und Angstbewältigungtrainings etc.) in die psychodynamische Therapie zu integrieren. Daraus ergibt sich die Problematik einer „allgemeinen“ oder „integrativen“ Psychotherapie, die in Kap. 1.3.1. diskutiert wurde. In Abgrenzung zu einer eklektizistischen Allgemeinen Psychotherapie wurde einerseits für eine Beibehaltung der Therapieschulen, andererseits für eine differentielle Indikation i.S. des kontext- und phasenspezifischen Imports verfahrensfremder Methoden in das psychodynamische Basisverfahren plädiert. Diese verfahrensfremden Elemente sind jedoch vor dem Hintergrund einer psychoanalytischen Erkenntnishaltung in das psychodynamische Verfahren zu übersetzen und insbesondere in ihrer Wirkung auf den Prozeß von Übertragung und Gegenübertragung aufmerksam zu reflektieren.
Schließlich wurde die Problematik multiprofessioneller Kooperation diskutiert, die sich aus einem multimodalen Interventionsansatz ergibt (Kap. B.1.3.2.). Hier muß der interdisziplinäre Dialog zwischen ärztlichen, schulischen und sozialpädagogischen Fachkräften hergestellt werden, was angesichts der unterschiedlichen professionsspezifischen Diskursparadigmen und Organisationskulturen nicht immer leicht zu bewerkstelligen ist.
Nach der Diskussion der Entwicklungsorientierung im sozialen Feld soll im nun folgenden Kap. B.2. die Entwicklungsorientierung im analytischen Raum thematisiert werden, womit die unmittelbare traumabezogene Perspektive der Analytiker-Patient-Beziehung gemeint ist. Sie verbindet entwicklungsorientierte behandlungstechnische Foki (Bindung, Affektregulation, Mentalisierung etc.) mit traumaorientierten, störungsspezifischen Techniken.
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Nachdem im vorangegangen Kapitel B1. die Entwicklungsorientierung im sozialen Feld behandelt wurde, soll nun im folgenden Kapitel B2. die Entwicklungsorientierung im anal y tischen Raum betrachtet werden, also die unmittelbare traumatherapeutische Perspektive der Analytiker-Patient-Beziehung. Sie setzt bei früh traumatisierten Kindern an den zentralen Entwicklungsdefiziten aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung an und verbindet eine entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung mit einer traumazentrierten Vordergrundhaltung.
Entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung bedeutet, daß zentrale entwicklungsorientierte Behandlungziele verfolgt werden. Dies sind Bindungssicherheit, Symbolisierung nonverbaler Inszenierungen, verbesserte Selbst- und Affektregulation sowie Mentalisierung, welche aus den in Teil A dieser Arbeit dargestellten Befunden der Nachbarwissenschaften ableitbar sind und als spezifische Foki der Behandlungstechnik formuliert werden können. Mit traumazentrierter Vordergrundhaltung ist eine störungsspezifische Orientierung gemeint, die insgesamt trauma-informiert ist, d.h. die spezifischen neurobiologischen Verarbeitungsprozesse traumatischer Erfahrungen kennt und darauf adäquat therapeutisch zu reagieren weiß.
Wo ist diese traumatherapeutische Perspektive im Spektrum der verschiedenen psych o analytischen Verfahrensadaptionen zu verorten, die für spezifische Struktur- und Entwicklungsniveaus im Bereich erwachsener wie kindlicher Patienten entwickelt wurden? Zur Beantwortung dieser Frage sollen im Kapitel B.2.1.1. die entsprechenden Verfahren der Erwachsenenanalyse, in Kap. B.2.1.2. die der Kinderanalyse kurz umrissen und anschließend in Kap. B.2.1.3. mein eigener Behandlungsansatz dargestellt werden.
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In Kap. B.2.2. sollen hierauf die behandlungstechnischen Orientierungen dieses meines Therapieansatzes vorgestellt. Zunächst wird eine grundlegende psychoanalytische Ha l tung eingenommen, welche durch traditionelle „Essentials“ psychoanalytischer Behandlungstechnik (gleichschwebende Aufmerksamkeit, Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung etc.) charakterisiert ist (Kap. B.2.2.1.) Darauf aufbauend folgt die Darstellung der bereits erwähnten entwicklungsorientierten Behandlungsfoki (Bindung, Affekte etc.), illustriert anhand von Fallvignetten. Im Zusammenhang mit dem Fokus Mentalisierung wird auch auf die Problematik der Deutung in der analytischen Kindertherapie im allgemeinen und in der Therapie früh traumatisierter Kinder im besonderen eingegangen.
Den Abschluß macht das schwierigste „Kapitel“ der Traumatherapie, der Umgang mit der traumatischen Übertragung. Sie umfaßt die verschiedenen Varianten von Täter-, Opfer- und Retter-Übertragung des Patienten auf die Analytikerin. Dazu soll auf die bereits angesprochene Kontroverse zwischen „klassisch“ psychoanalytischer und „moderner“ psychodynamisch-traumazentrierter Psychotherapie sowie vermittelnde Positionen eingegangen und anschließend eine eigene Stellung bezogen werden. In Kap. B.2.3.3. werden dann anhand von Fallvignetten spezifische Beziehungsdynamiken thematisiert, die sich aus den traumatischen Übertragungsmustern ergeben und sowohl Chancen der Bearbeitung bieten als auch Risiken der Retraumatisierung bergen. In einer letzten Fallvignette aus einer fortgeschrittenen Therapie soll die Verschränkung von Trauma- und Konfliktdynamik demonstriert werden.
In den vergangenen hundert Jahren hat die Psychoanalyse neben der „klassischen Analyse“ zunehmend Modifizierungen ihres Standardverfahrens entwickelt, um Dauer und Aufwand der Behandlung zu begrenzen und gleichzeitig das Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten insbesondere für schwerer gestörte und traumatisierte Patienten zu erweitern. Diese Modifizierungen lassen sich auf einem gleitenden Spektrum zwischen den Polen der Übertragung s analyse und der strukturbezogenen Therapie beschreiben.
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Das psychoanalytische Standardverfahren, wie Freud es entworfen hat, wird bei reif-neurotischen Patienten mit entwickeltem, kohärentem Ich und einer neurotischen Konfliktpathologie angewandt, die sich in der Regel um den „Ödipuskomplex als Kern der Neurose“ rankt. Durch das klassische Setting (Liegen auf der Couch ohne Blickkontakt zum Analytiker, lange Dauer von vier bis fünf Jahren bei hoher Frequenz von drei bis fünf Wochenstunden) soll sich via freie Assoziation des Patienten bei gleichzeitig abwartend-abstinenter Haltung des Analytikers eine Regression des Patienten mit intensiver Übertragungsneurose entwickeln, die mittels der Deutungen des Analytikers durchgearbeitet wird (Mertens, 1992 a, S. 205 f.). Dieses aufwendige klassische Verfahren ist nur privat finanziert für entsprechend solvente Patienten möglich.
Zeitlich und finanziell deutlich „schlanker“ (und deshalb in Deutschland auch von der Krankenkasse finanziert) sind die beiden psychoanalytisch begründeten Verfahren der analytischen Psychotherapie und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Die analytische Psychotherapie, die im Liegen und i.d.R. nur zweimal pro Woche stattfindet, ist bei eher reif-neurotischen Patienten angezeigt. Es wird jedoch keine umfassende Übertragungsneurose angestrebt, die sich an den infantilen Konflikten des Vergangenheits-Unbewußten festmacht, sondern es werden lediglich Konfliktabkömmlinge dieser Strukturen bearbeitet, die sich im bewußtseinsnäheren Gegenwarts-Unbewußten (Sandler & Sandler, 1988) manifestieren.
Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TFP), die i.d.R. einmal pro Woche im Gegenübersitzen mit Blickkontakt stattfindet, kommt bei zwei höchst unterschiedlich strukturierten Patientengruppen zur Anwendung: zum einen bei ebenfalls eher reif neurotischen Patienten mit allerdings geringer Symptomschwere, die im Rahmen einer Kurz- oder Fokaltherapie lediglich Klärung eines umgrenzten Konflikts wünschen (z.B. eines Eheproblems), zum anderen bei Menschen mit schweren, chronifizierten Störungen auf mittlerem bis niederem Strukturniveau (sog. Frühstörungen). Diese leiden nicht oder nicht in erster Linie an unbewußten Konflikten, sondern an sog. ich-strukturellen Störungen, d.h. zentralen Defiziten der Ich-Funktionen. Hier erfährt das ursprünglich konfliktzentrierte Vorgehen der TFP eine wesentliche Modifikation in Richtung auf Stabilisierung und Stärkung dieser Ich-Funktionen. Ermann (2004) bezeichnet das Verfahren deshalb auch als modifizierte TFP, Rudolf (2005) spricht von strukturbezogener Psychotherapie. Auf Deutungen unbewußter Inhalte wird hier weitgehend verzichtet, im Mittelpunkt stehen stattdessen strukturfördernde Techniken des Spiegelns, der emotionalen „Antwort“, des Strukturierens und Konfrontierens (Rudolf, 2005, S. 156).
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Im Falle traumatisierter Patienten kommen je nach Strukturniveau unterschiedliche psychoanalytische Verfahren zur Anwendung. Handelt es sich um eher reif neurotische Patienten mit entwickelter Symbolisierungsfähigkeit, die in ihrer Kindheit genügend protektive Faktoren (v.a. sichere Bindungsfiguren) zur Verfügung hatten, um „späte“ Traumatisierungen (z.B. einen Mißbrauch in der späten Latenz) hinreichend zu kompensieren, kann mit analytischer oder psychodynamischer Psychotherapie gearbeitet werden. Diese Patienten besitzen i.d.R. genügend Ich-Stärke, die Reinszenierung der Täter-Opfer-Beziehung in der Übertragung zu ertragen und erfolgreich durchzuarbeiten, ohne dadurch retraumatisiert zu werden (vgl. Ehlert-Balzer, 1996; Holderegger, 1993). Bei schwerer gestörten Traumapatienten auf Borderline-Niveau wird darüber gestritten, ob strukturbez o gene Psychotherapie (Rudolf 2005), übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP, tran s ference focused psychotherapy, Clarkin et al., 2001; Kernberg, 1993) oder mentalisierungsgestützte Therapie (MBT, mentalisation based therapy, Bateman & Fonagy, 2004, 2008) angezeigt sind. Diese Therapieformen verstehen sich zwar nicht als Trauma-, sondern als Borderline-Therapie, doch zumindest Fonagy weist frühen Traumatisierungen eine erhebliche Relevanz für die Ätiologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu (vgl. Kap. A.4.).
Eine explizit psychodynamische Traumatherapie hat sich erst in den 90er Jahren, unter z.T. heftigen Kontroversen, in der psychoanalytischen Community entwickelt. Es handelt sich um die Psychodynamisch-Imaginative Trauma-Therapie (PITT) von Reddemann (2004) sowie die aus der Kooperation mit Reddemann hervorgegangene Traumazentrie r te Psychotherapie von Sachsse (2004), die beide mit imaginativen Stabilisierungsübungen und schonender, kontrollierter Traumakonfrontation (incl. neuerer Techniken wie EMDR, vgl. Shapiro, 1998) arbeiten. Eine Zwischenstellung zwischen klassisch-psychoanalytischer Traumatherapie und den beiden letztgenannten Verfahren nehmen die Gruppe um Fischer mit der Mehrdimensi o nalen Psychodynamischen Traumatherapie (MPTT, Fischer 2000; Fischer et al., 2003) sowie die psychodynamisch-integrative Tra u matherapie von Wöller (2006) ein. In Kap. B.2.3.2. werden die genannten Positionen vorgestellt.
Die unterschiedlichen psychoanalytischen Verfahren wurden bisher am Beispiel erwachsener Patienten erläutert. Schon seit den „controversial discussions“ der 40er Jahre zwischen den Anhängern Melanie Kleins und denen Anna Freuds (vgl. King & Steiner, 1991) gehen die Meinungen darüber auseinander, ob sich die Kinderanalyse an den Vorgaben der Erwachsenenanalyse orientieren soll oder ob sie eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Konsens über die Notwendigkeit altersspezifischer Modifikationen besteht lediglich in der Gleichsetzung des freien Spiels des Kindes mit der freien Assoziation des Erwachsenen und damit im kinderspezifischen Setting (freie Bewegung im Raum vs. Liegen auf der Couch). Dieses flexible Setting sowie der unmittelbare Spielkontakt stellt die Kinderanalytikerin vor besondere Herausforderungen (Bürgin, 2005).
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Behandlungstechnischen Differenzen bestehen v.a. über die Notwendigkeit der Deutung des kindlichen Spiels. Während die „Klassiker“ überzeugt sind, entsprechend zur Erwachsenenanalyse einen unmittelbaren Bezug des Spiels zu den unbewußten Wünschen und Ängsten des Kindes herstellen zu müssen (direkte Deutung, vgl. z.B. Berna, 1976; Sandler et al., 1982), postulieren andere Autoren (z.B. Mayes & Cohen, 1993; Scott, 1998; Slade, 1994), daß dem Spiel selbst bereits „heilende Kräfte“ (Zulliger, 1952) innewohnen, so daß auf Deutungen gänzlich verzichtet werden kann. Eine mittlere, wohl die Mehrheit vertretende Position nehmen Autoren ein, die für eine Deutung im Idiom des Spielens (Naumann-Lenzen, 1996), d.h. für eine analoge Deutung plädieren (so z.B. Fahrig, 1999; Frankel, 1998; Gilmore, 2005; Joyce & Stoker, 2000; Sugarman, 2003, 2006). Neuere, von der Kleinkindforschung inspirierte Analytiker heben die Funktion des Spiels als Medium nonverbaler Beziehungsregulation (Frankel, 1998) bzw. als Übungsfeld für Mentalisi e rung hervor (Fonagy & Target, 2000; Shugarman, 2003). Die Frage der Deutung in der Therapie früh traumatisierter Kinder wird in Kap.B.2.2.5. ausführlich behandelt.
Was nun die einzelnen psychoanalytischen Verfahren anbelangt, so spielt die klassische Kinderanalyse mit vier bis fünf Wochenstunden ebenso wie die hochfrequente Erwachsenenanalyse im Bereich der Gesundheitsversorgung in Deutschland eine untergeordnete Rolle.
Die Krankenkassen finanzieren bei Kindern und Jugendlichen, wie im Erwachsenenbereich, lediglich die analytische Psychotherapie (mit zwei Stunden pro Woche) sowie die tiefenps y chologisch fundierte Psychotherapie (mit einer Wochenstunde). Parallel dazu finden im Verhältnis 1:4 die begleitenden Elterngespräche statt. Wegen der niedrigen Frequenz kann bei diesen Verfahren das Behandlungsziel nicht die Durcharbeitung einer Übertragungsneurose sein. Stattdessen ist die Therapie bei Kindern und Jugendlichen entwicklungsorientiert mit dem Ziel, „den Fortschritt der eingeschränkten psychischen Entwicklung und Reifung des Patienten zu ermöglichen.“ (Bürgin, 1996, S. 119).
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Anders als in der Erwachsenentherapie werden bei Kindern und Jugendlichen nach dem Wortlaut der „Psychotherapierichtlinien“ keine getrennten Anwendungsbereiche für die beiden zugelassenen psychoanalytisch begründeten Verfahren ausgewiesen, „da eine exakte Unterscheidung dieser Behandlungsarten … nicht begründet werden konnte.“ (Faber et al., 1999, S. 37). In jüngster Zeit, angestoßen durch das Psychotherapeutengesetz von 1999, mehren sich allerdings die Stimmen, die auf eine stärkere Differenzierung der Indikation für beide Verfahren drängen.
Die Tatsache, daß für früh traumatisierte Kinder noch keine überzeugende modifizierte Form psychodynamischer Therapie existiert, war Anlaß für die vorliegende Arbeit.
In der klassischen Kinderanalyse wird, ähnlich wie weiter oben für erwachsene Patienten beschrieben, bislang vertreten, daß mit klassischer Übertragungsanalyse das Trauma zu heilen sei (vgl. die Ausführungen im Einleitungskapitel dieser Arbeit). Die für die Behandlung von Kindern adaptierten Versionen der Psychodynamisch-Imaginativen Traumath e rapie (PITT) von Reddemann (PITT-KID, Krüger & Reddemann, 2007) sowie der Mehrd i mensionalen Psychodynamischen Traumatherapie (MPTT) von Fischer (MPTT-KJ, Dreiner & Fischer, 2003) liegen erst seit kurzem vor. Sie greifen zwar die Befunde der modernen, interdisziplinären Traumaforschung überzeugend auf, versuchen aber weitgehend eine 1:1- „Übersetzung“ der Erwachsenen-Traumatherapie in den Bereich der Kinder-und Jugendlichenbehandlung (Krüger & Reddemann, 2007, S. 269), ohne den Entwicklungsaspekt beim frühen Trauma genügend einzubeziehen (zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit diesen Konzepten vgl. weiter unten). Es besteht deshalb nach wie vor Bedarf an einem eigenständigen entwicklungsorientierten psychodynamischen Therapieansatz für früh traumatisierte Ki n der.
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Als Beitrag zur Behebung dieses Mangels umreiße ich nun meinen eigenen psychodynamisch-traumatherapeutischen Ansatz zur Behandlung früher Traumatisierung.
Grundsätzlich fühle ich mich einer „modernen“ objektbeziehungstheoretischen Position verpflichtet (z.B. Hirsch, 1994, 1998a, 2004), die die Objektbeziehungen des Patienten in den Mittelpunkt stellt, aber auch „Brücken zur Selbstpsychologie“ (vgl. Bacal & Newman, 1994) schlägt. Die Selbstpsychologie hat wie keine andere psychoanalytische Theorie die Befunde der Säuglings- und Kleinkindforschung für die psychoanalytische Behandlungstechnik fruchtbar gemacht und ist deshalb für das Verständnis und die adäquate Behandlung früh traumatisierter Kinder von unschätzbarem Wert (vgl. Beebe & Lachmann, 2004; Köhler, 1999, Lichtenberg, 1983; Stern 2005).
Ich verbinde diese objektbezogen-selbstpsychologische Grundposition mit einer entwicklungsorientierten Perspektive, die, ursprünglich aus der Entwicklungspsychopathologie stammend, in jüngerer Zeit von durchaus differenten psychoanalytischen Positionen aufgegriffen und in den theoretischen wie behandlungstechnischen Korpus integriert wurde (Altman et al., 2002; Fonagy & Target, 1996 a; Greenspan, 1997; Hurry, 2002, vgl. auch Kap. B.1.1.3.3.). Diese entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung hat zentrale entwicklungsorientierte Behandlungziele im Auge, nämlich Bindungssicherheit, Selbst- und Affektregulation, Aufmerksamkeitskontrolle, Stresstoleranz, Symbolisierung nonverbaler Inszenierungen sowie Förderung der Mentalisierung, welche aus den in Teil A dieser Dissertation dargestellten Befunden der Nachbarwissenschaften abgeleitet sind und als spezifische „Foki“ der Behandlungstechnik formuliert werden können (s. dazu weiter unten)
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Zu dieser entwicklungsorientierten Hintergrundhaltung muß jedoch eine traumaorientierte Vordergrundhaltung hinzutreten. Sie ist „trauma-informiert“, d.h. geprägt vom Wissen um die spezifischen neurobiologischen Verarbeitungsprozesse traumatischer Erfahrungen, so daß auf die daraus resultierenden Folgen (primäre Reaktionen, traumatypische Abwehrmechanismen etc.) adäquat therapeutisch reagiert werden kann. Die Therapie bedient sich dazu auch bestimmter Techniken wie Imaginationsübungen („Sicherer Ort“, „Tresor-Übung“), Achtsamkeitsübungen, Übungen zur Impulskontrolle, ressourcenorientierte Übungen (vgl. ausführlicher Kap.B.2.2.4.4.). Sie dienen der emotionalen Stabilisierung des Patienten, um „Flash backs“ und Dissoziationen unter Kontrolle zu bringen und traumaassoziierte Affektüberflutungen im posttraumatischen Spiel zu vermeiden.
Diese traumaorientierte Vordergrundhaltung ist durchaus direktiv orientiert, relativiert damit das Prinzip der Nondirektivität der psychoanalytischen Therapie, läßt sich aber unter das Konzept einer „modifizierten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie“ (Ermann, 2004) oder einer „Traumatherapie auf psychodynamischer Grundlage“ (Wöller, 2006) subsumieren. Sie umfaßt auch eine adaptive, d.h. kontext-, phasen- und situationsspezifische Integration schulenfremder Elemente wie der o.g. Übungen, deren Wirkung jedoch ständig auf der Basis von Übertragung und Gegenübertragung reflektiert wird (Vogel, 2005, vgl. auch Kap. B.1.3.1.).
Eine solche traumaorientierte Haltung findet sich auch in den oben erwähnten psychodynamischen Kindertraumatherapien, der PITT-KID sowie der MPTT-KJ (s. Kap. B.2.1.1.3.). Allerdings bestehen zu diesen beiden Verfahren auch einige wesentliche Differenzen, die kurz angesprochen werden sollen:
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Bereits erwähnt wurde die weitgehende 1:1-Übersetzung der Erwachsenen-Therapie auf die Kinder-Therapie, was in der PITT-KID dazu führt, daß auch für kleinere Kinder die „Innere-Kind-Arbeit“ empfohlen wird, also z.B. ein 5jähriger aufgefordert wird, sich um sein „verletztes inneres jüngeres Kind“ zu kümmern (vgl. das Fallbeispiel bei Krüger & Reddemann, 2007, S. 183 f.). Dies überfordert m.E. die kognitiven Fähigkeiten kleinerer Kinder. Als Traumakonfrontationstechnik wird in der PITT-KID die „Bildschirmtechnik“, die eine bewußte Bereitschaft voraussetzt, sich mit der traumatischen Szene mental noch einmal auseinanderzusetzen, zwar entwicklungsadäquat am Beispiel einer 16jährigen Jugendl i chen demonstriert. Wie jedoch die Traumakonfrontation bei Kindern aussehen soll, bleibt eher vage („szenisch-bildnerische Gestaltung, Imagination“) bzw. wird als „ungeplante Begegnung mit traumaassoziiertem Erlebnismaterial“ eher am Rande behandelt. Doch gerade diese Art der „ungeplanten Begegnung“ im posttraumatischen Spiel ist meiner klinischen Erfahrung nach die typische Form der unbewußten Konfrontation des Kindes mit dem Trauma. Deshalb ist der gezielte therapeutische Umgang mit posttraumatischem Spiel die geeignetste Form einer gelenkten Traumakonfrontation in der Kindertherapie. Eine direkte Konfrontation mit dem Trauma, nach welchem Verfahren auch immer, wird hingegen von Kindern i.d.R. brüsk abgelehnt (s. auch Naumann-Lenzen, 2008; Weinberg, 2005, S. 182).
Ähnliche Einwände habe ich gegen die MPTT-KJ. Sie basiert auf der MPTT, einer theoretisch beeindruckend konsistenten und empirisch validierten traumaadaptierten psychodynamisch-behavioralen Therapiemethode. Allerdings ist auch die MPTT-KJ wie schon die PITT-KID weitgehend am Erwachsenenvorbild orientiert, was sich an der ausschließlich verbalen Form der Interventionen wesentlich niederschlägt (vgl. dort die sog. Standardinterventionslinien). Nachdem die „Kinderversion“ der MPTT bisher lediglich in einer Zeitschriften-Veröffentlichung und noch nicht, wie die PITT-KID, in einem umfassenden Manual vorliegt, ist noch nicht abschließend zu beurteilen, inwieweit die MPTT-KJ geeignet ist, sich intensiver als die PITT-KID mit der deutlich kindgemäßeren Form des Umgangs mit traumatischem Material, dem posttraumatischen Spiel, behandlungstechnisch auseinanderzusetzen. Für die MPTT, zumindest in der Erwachsenenversion, spricht die Tatsache, daß sie – anders als die PITT - dem Prozeß von Übertragung und Gegenübertragung und damit dem genuin psychoanalytischen Prozeß größeres Gewicht beimißt. Damit bettet sie die Behandlung traumatischen Materials stärker in den Gesamtprozeß psychodynamischer Arbeit ein.
Allerdings nimmt auch die MPTT-KJ, wenn es um diesen Gesamtprozeß psychodynamischer Arbeit (in meiner Diktion: die Hintergrundhaltung) geht, ebenso wenig wie die PITT-KID Bezug auf die Besonderheiten früher Traumatisierung. Zwar werden vereinzelt durchaus Fälle von kleinen Kindern mit z.T. komplexen Traumatisierungsgeschichten und multiplen Entwicklungsdefiziten vorgestellt. Nicht thematisiert wird jedoch die Notwendigkeit einer grundlegenden Modifikation psychodynamischer Behandlungstechnik, die aus diesen Entwicklungsdefiziten der Bindungsunsicherheit, der mangelnden Selbst- und Affektregulation sowie der defizitären Mentalisierungs- und Symbolisierungsfähigkeit resultiert.
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Der Behandlungsansatz beider Traumatherapie-Konzepte, v.a. der von PITT-KID, ist deshalb aus meiner Sicht zu sehr rein (Typ-I-)traumaspezifisch ausgerichtet, d.h. auf die Wiedergewinnung der Kontrolle des kindlichen Patienten über die klassische Trauma-Symptomatik von Intrusion und Dissoziation. Dies ist zwar wichtig, doch darf im Gesamtkonzept einer Traumatherapie für früh (Typ-II- ) traumatisierte Kinder der Aspekt der grundlegenden Entwicklungsdefizite nicht vernachlässigt werden.
Sowohl die MPTT als auch die PITT-KID sind im Rahmen von Institutionen entwickelt worden, die sich primär als Frühinterventionszentren für Akut-Traumatisierte verstehen (MPTT: Kölner Opferhilfe, PITT-KID: Trauma-Ambulanz für Kinder, Jugendliche und deren Familien am Hamburger Uni-Klinikum). Ausgangspunkt waren und sind daher in erster Linie Typ-I-Traumen (Mono-Traumen), für die an der Hamburger Trauma-Ambulanz z.B. neben Diagnostik, Beratung und Krisenintervention nur Kurzzeit-Therapieangebote für Einzel- oder Familientherapie mit maximal 25 Stunden zur Verfügung stehen (Krüger et al., 2004) Es liegt auf der Hand, daß ein solcher, überwiegend an Typ-I-Traumen orientierter Versorgungsansatz in erster Linie als Kriseninterventionsdienst fungiert, der weitergehende Therapiewünsche nur im Wege der Überweisung (z.B. an niedergelassene Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutinnen) erfüllen kann.
Unbestritten ist solch ein Frühinterventionansatz für die Versorgung akut traumatisierter Kinder und Jugendlicher und ihrer Familien unerläßlich. Aber es wird auch deutlich, daß dieser Versorgungsansatz für früh, chronisch und kumulativ traumatisierte Kinder (Typ-II-Trauma) nicht ausreicht. In derartigen Fällen geht es nicht nur um Krisenintervention, sondern um die Aufarbeitung der gesamten traumatischen Lebensgeschichte des kleinen Patienten und seiner Familie, was am besten in einer geschützten, intensiven Langzeittherapie im Rahmen niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zu gewährleisten ist.
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Deshalb bin ich bei allem Respekt vor der Leistung der genannten KollegInnen dennoch der Überzeugung, daß diese Ansätze für die Therapie früh, d.h. beziehungstraumatiserter Patienten mit ihren multiplen Entwicklungsdefiziten nur unzureichend greifen. Stattdessen ist, wie oben erwähnt, neben der traumaorientierten Vordergrundhaltung auch und gerade die entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung von zentraler Bedeutung.
Diese entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung bedeutet, daß zu Beginn der Behandlung nicht die technische Bewältigung des Traumas im Zentrum steht, sondern zunächt einmal die therapeutische Beziehung sich entfalten muß. „Bei komplexen Störungen geht es in der Behandlung nicht um ‚Trauma first’ (Reddemann & Sachsse, 1999), sondern um ‚Entwicklung von Bindung und Beziehung first’, also um Entwicklungspsychotherapie.“ (Streeck-Fischer, 2006, S. 206). Auf den „Vorrang der Beziehung vor der Technik“ (Fischer, 2000, S. 19) weist – wenn auch nicht in der konkreten Umsetzung (s. die obige Kritik), so doch zumindest im Grundsatz - auch die MPTT-KJ hin: „Weil Kinder in besonderer Weise auf fürsorgliche Bezugspersonen angewiesen sind, stehen Fragen der therapeutischen Beziehung im Mittelpunkt.“ (Dreiner & Fischer, 2003, S. 62). Deshalb müssen sie nicht nur die Möglichkeit haben, „die traumatisch unterbrochene Handlung … zu vollenden, sondern auch ihren traumatisch unterbrochenen Entwicklungsprozeß wieder aufzunehmen. Wesentliches entwicklungsförderndes Element ist eine tragfähige therapeutische Beziehung.“ (ebd., S. 62.).
Vor allem in der Anfangsphase einer Therapie früh traumatisierter Kinder ist deshalb die Förderung einer positiv getönten Übertragungsbeziehung angezeigt. Diese Haltung steht konträr zur klassisch-psychoanalytischen Behandlungstechnik, die eine gezielte Einflußnahme auf die Entwicklung der Übertragung des Patienten ablehnt, darüber hinaus die Durcharbeitung der negativen Übertragung geradezu für den „Lackmustest“ erfolgreicher Psychoanalyse hält. Im Gegensatz dazu besteht in der psychodynamischen Traumatherapie-Community inzwischen weitgehender Konsens, daß auf eine durchgängige, zumindest überwiegend positive Übertragung zu achten und die Bearbeitung negativer Übertragung, wenn überhaupt, erst in der Endphase der Therapie anzugehen ist (vgl. die Ausführungen zum Umgang mit der „traumatischen Übertragung“, Kap. B.2.3.).
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Dieser Vorrang der Beziehung vor der Technik bedeutet für die Kindertherapie auch eine weniger strenge Orientierung an exakt definierten Behandlungsphasen.
In den eher traumatechnisch ausgerichteten Therapieansätzen wird von einer Phaseneinteilung ausgegangen, die sich auch die psychodynamisch orientierten Traumatherapien für Erwachsene (Fischer, 2000; Reddemann, 2001; Sachsse, 2004; Wöller, 2006) weitgehend zueigen gemacht haben:
In der Stabilisierungsphase geht es um äußere Sicherheit (z.B. Sicherstellung, daß kein Täterkontakt mehr besteht) sowie um innere Sicherheit i.S. des Aufbaus einer tragenden therapeutischen Beziehung (s.o.). Emotionale Stabilisierung der Patientin wird erreicht durch Psychoedukation/Information über Trauma und Traumafolgen, durch Erlernen von Techniken der Symptomkontrolle („skills“), durch Ressourcenaktivierung (Achtsamkeitsübungen, Imaginationsübungen) sowie durch imaginative Auseinandersetzung mit traumaassoziiertem Material („Innere-Kind-Arbeit“, „Ego-State“-Therapie, Arbeit mit „Täterintrojekten“, vgl. Sachsse, 2004).
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In der anschließenden Konfrontationsphase geht es darum, „dem Schrecken zu begegnen“. Mithilfe erlernter Distanzierungstechniken (z.B. „Beobachtertechnik“, „Bildschirmtechnik“, vgl. Reddemann, 2001, s. auch Kap. B.2.3.2.4.6.) oder anderer Verfahren (z.B. EMDR, Shapiro, 1998) konfrontiert sich die Patientin in kontrollierter, schonender Weise mit traumatischen Szenen, erlebt sie noch einmal dosiert nach, arbeitet sie durch und „prozessiert“ sie, um sie dadurch in ein Narrativ einbinden und im explizit-deklarativen Gedächtnis ablegen zu können.
In der Integrationsphase geht es schließlich darum, das Erlebte zu betrauern, als Teil der eigenen Geschichte anzunehmen, es in die eigene Biografie zu integrieren und dadurch frei für eine Neuorientierung zu werden.
Diese Phaseneinteilung findet sich auch bei PITT-KID und in modifizierter Form (mit Einschiebung einer vierten „Übergangsphase“ zwischen Stabilisierung und Konfrontation) auch bei der MPTT-KJ. Allerdings räumen die Autoren selbst ein, daß in der Arbeit mit Kindern im Grundschulalter diese Phaseneinteilung nicht durchzuhalten ist, weil die Kinder ihre traumatischen Themen von sich aus spontan auf der Spielebene einbringen.
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„Bei Kindern bis zehn Jahren … ist die Arbeit nach dem Phasenmodell nicht ohne Weiteres realisierbar. Das Kind wird bei ausreichend vertrauensvoller Beziehung zum Therapeuten spontan die Dinge in die Behandlungsstunde mit einbringen, die ihm gerade in den Sinn kommen – und das ist für ein Kind dieses Alters der richtige Weg und die Akzeptanz dessen für eine kindgerechte therapeutische Haltung unabdingbar.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 123). |
Auch ich orientiere mich lediglich summarisch an diesen Phasen und vertraue im wesentlichen auf den analytischen Prozeß. Meine klinische Erfahrung hat gezeigt, daß nicht nur höherstrukturierte, sondern durchaus auch niederstrukturierte, früh traumatisierte Patienten gerade am Anfang einer Therapie, wenn ihr Bindungssystem durch die therapeutische Beziehungsaufnahme heftig aktiviert wird, ihr inneres Erleben als Enactment, als Handlungsdialog in Szene setzen (vgl. dazu die Fallvignetten weiter unten). Diesen Inszenierungen gebe ich Raum, weil sie, wenn sie von der Analytikerin „verstanden“ werden, die therapeutische Beziehung und die Übertragung bahnen und ein emotionales Milieu schaffen, in welchem sich die präverbal-implizit gespeicherten Erlebenswelten des Patienten erschließen.
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Trotz meines Eintretens für einen ausreichend geöffneten Übertragungsraum plädiere ich jedoch keineswegs dafür, früh traumatisierte Kinder wie höherstrukturierte Patienten einfach nondirektiv „laufen zu lassen“. Dadurch geraten sie nämlich in Gefahr, im posttraumatischen Spiel mit traumatischem Material konfrontiert zu werden, das sie überflutet und retraumatisiert. Aus diesem Grunde muß der Patient zu Beginn der Therapie in die Lage versetzt werden, wenigstens in Ansätzen affektive Erregungszustände zu kontrollieren und auf hilfreiche, beruhigende und stärkende Ressourcen zurückgreifen zu können. Hierzu werden je nach den Notwendigkeiten des Einzelfalls in der anfänglichen Stabilisi e rungsphase der Therapie die o.g. Übungen erlernt. Zu meinem Standardprogramm gehören der „Sichere Ort“, die „Tresor-Übung“ und der „Innere Helfer“. „Baumübung“, „Gepäck ablegen“ und die „Lichtstrahlübung“ können bei Bedarf nachgeschoben werden (alle Übungen aus: Reddemann, 2001). Zuvor habe ich das Kind und auch seine Bezugspersonen über Trauma und Traumfolgen aufgeklärt. Diese Information i.S. von Psychoedukation hilft dem Kind, seine primären Reaktionen (Fight/Flight/Freeze), Intrusionen und dissoziativen Zustände nicht mehr als Ausdruck seiner „Verrücktheit“ zu interpretieren. Dies bedeutet eine erste Erleichterung, welche den Weg für die dann folgenden Übungen zur weiteren Entlastung bahnt.
Parallel dazu fertige ich gemeinsam mit dem Kind ein ausführliches individuelles Re s sourcenprotokoll an. Dazu erfrage ich seine Stärken und Fähigkeiten (z.B. Fußball spielen, Spaghetti kochen) und „verankere“ diese nach dem EMDR-Ressourcenprotokoll (Hensel, 2007; Shapiro, 1998) in konkreten Szenen durch intensive imaginative Visualisierung mit ebenso intensiver sensorischer Aktivierung. Wenn Kinder am Anfang der Therapie im freien Spielausdruck noch gehemmt sind und sich lieber mit Bekanntem wie Malen und Basteln beschäftigen, dürfen sie diese Ressourcen z.B. auch als großes Poster gestalten, auf dem die Fähigkeiten durch Zeichnungen, Fotos etc. visualisiert werden. Zur Ressourcenarbeit gehört auch eine Sensibilisierung für Dinge, die mir Spaß machen - eine Liste von angenehmen Dingen aus dem Alltag, mit der das Kind Möglichkeiten der Selbstfürsorge erlernen kann (vgl. ausführlichere Darstellung dieser Übungen in Kap. B.2.2.4.4.).
Neben eher technischen und psychodynamischen Überlegungen überlasse ich die jeweilige Mischung des Übungs-Teils mit dem freien therapeutischen Spiel weitgehend dem analytischen Prozeß von Übertragung und Gegenübertragung.
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Der Übergang von der ersten Stabilisierungsphase in die zweite Konfrontationsphase ist für mich nicht eindeutig zu bestimmen. Fragt man Kinder, ob sie bereit sind, sich die „schlimmen Szenen“ noch einmal „in der Phantasie anzugucken“, d.h. sie nach welchem Verfahren auch immer durchzuprozessieren, erhält man, wie bereits erwähnt, meist ein entschiedenes „Nein!“ zur Antwort. Sie sind jedoch sehr darauf erpicht, „einfach nur zu spielen“. Dies zum einen, weil sie – angesichts traumatogener Rollenumkehr und Parentifizierung – häufig einen Nachholbedarf an Kind-Sein und „einfach nur spielen“ haben. Zum anderen aber, weil sie auf diese Weise unbewußt ihre traumatischen Erfahrungen auf der Ebene posttraumatischen Spiels in Szene setzen können. Darin besteht die eigentliche „Konfrontation“ des Kindes mit dem traumatischen Material, das dann in diversen Volten „durchgearbeitet“ wird. Dabei ist allerdings darauf zu achten, daß es nicht zu traumatischen Re-Enactments kommt, die zu keiner hilfreichen Lösung führen, weil sie die traumatische Szene lediglich sadomasochistisch-zwanghaft wiederholen. Hier muß die Analytikerin mit bestimmten Techniken der Distanzierung bzw. durch ressourcen- und lösungsorientierte Interventionen den Verarbeitungsprozeß „überwachen“ (näheres in Kap. B.2.3.2.4.).
Wie die Konfrontationsphase ist auch die Integrationsphase der Traumatherapie bei Kindern meist in den Rahmen der Spieltherapie eingebettet. Eine Einordnung des Traumas in das eigene bisherige Leben verläuft bei Kindern nur selten auf dem Wege verbaler Selbstreflexion, sondern erneut wieder auf der Verschiebungsebene des Spiels. Wenn das Trauma in vielen Wiederholungen durchgearbeitet ist, wenn der „Drachen“ nicht mehr wiederaufersteht, wenn er endgültig mausetot ist und sein Schatz erbeutet, dann ist der Kampf vorbei. Vielleicht murmelt das Kind einmal in einer der letzten Therapiestunden, während es sich den feinen Sand aus dem Sandkasten, in dem die Schlachten tobten, durch die Finger rinnen lässt: „So ganz fein, der Sand … das war mal ne Wüste … jetzt isses wie Urlaub“). Aber das war es denn auch an „Integration“. Das Kind hat sich „sattgespielt“ und hat dann auch am „richtigen Leben“ wieder Freude gewonnen. In den Worten entwicklungsorientierter Kinderanalyse: Das Kind hat den Anschluß an seine altersgemäße Entwicklungsaufgabe gefunden (Bürgin, 1996).
Im vorangegangenen Kapitel B.2.1. wurde psychodynamische Traumatherapie für früh traumatisierte Kinder im Spektrum der verschiedenen psychoanalytischen Verfahrensadaptionen verortet. Dazu wurden zunächst die für spezifische Struktur- und Entwicklungsniveaus modifizierten Verfahren der Erwachsenenanalyse (Kap. B.2.1.1.) referiert und denen der Kinderanalyse (Kap. B.2.1.2.) gegenübergestellt.
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Anschließend wurde die eigene psychodynamisch-traumatherapeutische Position in theoretischer wie behandlungstechnischer Hinsicht bestimmt (Kap. B.2.1.3.). Sie ließ sich als moderne objektbeziehungstheoretische Position mit „Brücken zur Selbstpsychologie“ beschreiben, die eine entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung mit einer traumaorientie r ten Vordergrundhaltung verbindet. Davon ausgehend wurden neuere psychodynamisch begründete kindertraumatherapeutische Ansätze (PITT-KID, Krüger & Reddemann, 2007; MPTT-KJ, Dreiner & Fischer, 2003) kritisch gewürdigt und die eigene Position klar abgegrenzt. Besonders deutlich wurde darauf hingewiesen, daß die für diese Dissertation relevante chronische und frühe Beziehungs-Traumatisierung im Gegensatz zur akuten Mono-Traumatisierung behandlungstechnisch ein Primat der Beziehung (vor der Technik) und ein Primat der Prozeß - o rientierung (vor der Phasenorientierung) erfordert.
Im folgenden Kapitel B.2.2. werden die behandlungstechnischen Implikationen einer entwicklungsorientierten Psychotherapie entwickelt. Dazu gehören zunächst die grundlegenden Elemente psychoanalytischer Behandlungstechnik, die auch die Basis einer entwicklungsorientierten psychodynamischen Traumatherapie bilden. Hier sollen diese Elemente auf die spezifische Situation früh traumatisierter Kinder angewandt werden, bevor anschließend die einzelnen für eine Traumatherapie spezifischen behandlungstechnischen Foki in den Blick genommen werden.
Zunächst soll ein Überblick über die Grundprinzipien psychoanalytischer Behandlungstechnik gegeben werden, wobei besondere Beachtung einige für die Behandlung früh traumatisierter Kinder grundlegende „Essentials“ psychoanalytischer Erkenntnishaltung finden werden.
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Als zentrale Grundhaltung des Analytikers beschrieb schon Freud (1912) die gleic h schwebende Aufmerksamkeit, die er als Gegenstück zur freien Assoziation des Analysanden bezeichnete. Geprägt vom physikalistischen Denken seiner Zeit verstand Freud das Unbewußte des Analytikers als ausschließlich empfangendes (von jeder Gegenübertragung „gereinigtes“) Organ, das dem Analysanden „wie eine Spiegelplatte nichts anderes zeigen (solle), als was ihm gezeigt wird.“ (ebd., S. 384).
Heute gilt dieses Verständnis i.S. der Spiegel-Metapher als überholt, da auch aus tiefenhermeneutischer Sicht Konsens darüber besteht, daß es keine Wahrnehmung geben kann, die nicht theoriegeleitet ist (vgl. Spence, 1984; Goldberg, 1994). Der Analytiker ist aber aufgefordert, seine Beobachtungen nicht sekundärprozeßhaft, logisch-rational einzuordnen, sondern möglichst lange „in der Schwebe zu halten“ und durch komplexes, rasches Oszillieren zwischen verschiedenen Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkmodi zu erweitern und anzureichern. „Das Bild des ‚dösenden Analytikers’ darf .. nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dieser Haltung hochkomplexe Wahrnehmungsmodi emotionaler und kognitiver, primär- und sekundärprozeßhafter Art verbunden sind.“ (Mertens, 1990, S. 57).
Die Kritik an der Spiegel-Metapher Freuds umfaßt jedoch noch ein weiteres erkenntnistheoretisches Problem. In Abgrenzung zu einer positivistischen Forschungslogik hat sich nämlich im Hauptstrom der psychoanalytischen Community mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, daß in der analytischen Situation Forschungssubjekt und –objekt nicht wie im physikalischen Laborexperiment voneinander zu trennen sind. Der Patient bzw. sein Unbewußtes ist somit kein losgelöstes „Objekt der Erkennntnis“, sondern der erkennende Analytiker beeinflußt den Patienten in vielfältiger Weise, wie umgekehrt auch der Patient auf das Erleben des Analytikers einwirkt. Der Fokus richtet sich deshalb zunehmend auf die analytische Beziehung als Prozeß und als Begegnung von zwei Subjektivitäten (vgl. Bohleber, 1999).
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In der Kinderanalyse, in der nicht nur gesprochen, sondern vor allem intensiv gespielt wird, ist die Analytikerin als aktive Mitspielerin ständig gefordert, auf das Unbewußte des Patienten unmittelbar zu reagieren. Im intersubjektiven Prozeß zwischen Patient und Analytikerin potenzieren sich die wechselseitigen Beeinflussungen dramatisch. Zum „Dösen“ kommt die Kinderanalytikerin nicht. „Der Analytiker, der auch mit Kindern arbeitet, wird … zu einer Flexiblität genötigt, die er sich, wenn er nur mit Erwachsenen arbeitet, kaum träumen läßt ...“ (Bürgin, 1996, S. 119).
Wegen der Notwendigkeit, im Spiel mit dem Patienten auf dessen Einfälle direkt zu reagieren, um den spielerischen Assoziationsfluß und damit die Entfaltung der Übertragung nicht zu behindern, bleibt der Analytikerin meist keine Zeit, das klinische Material des Patienten „leidenschaftslos“ wahrzunehmen, auf sich wirken zu lassen und in sich zu bewegen. Sie muß sofort reagieren und gerät beim therapeutischen Spiel oft in einen trance- ähnlichen Zustand, in welchem sie, sich ihrer Hypothesen zur Psychodynamik des Patienten bewußt, durch intensive Einfühlung dessen Übertragungserwartungen i.S. der „role responsiveness“ (Sandler, 1976) erspürt und beantwortet. Auf diese Weise „konstruiert“ sie die Übertragungsszene mit. „Bei diesem Vorgehen kommt es zu besonders lebhaften, weil ganz spontanen Spielhandlungen und starken Affekten.“ (Fahrig, 1999, S. 704). Es gilt also, daß auch die gleichschwebende Aufmerksamkeit der Kinderanalytikerin immer von deren bewußten und unbewußten Präkonzepten geprägt, also immer selektiv ist.
Die Frage ist nun, ob es nicht angezeigt wäre, daß sich die Analytikerin in ihrer gleichschwebenden Aufmerksamkeit bei der Arbeit mit früh traumatisierten Kindern von ganz spezifischen Präkonzepten leiten läßt. Da die Entwicklungsdefizite dieser jungen Patienten überwiegend aus der präverbalen Zeit stammen, kann die Antwort nur lauten, daß sie ihre gleichschwebende Aufmerksamkeit nicht nur auf ihre eigene Gegenübertragung sowie die Übertragungssymbolik der Spielszenen und sprachlichen Äußerungen richten soll, sondern besonders auch auf nicht-sprachliche, noch nicht symbolisierte Botschaften des Patienten. Dies sind zum einen körpersprachliche Signale der Körperhaltung, der Mimik, der Gestik und Proxemik, dann aber auch parasprachliche Signale der Prosodik und der affektiven Gestimmtheit, insbesondere auch des affektiven Erregungsniveaus. Schließlich geht es um Protokonversationsangebote des Patienten (wie mimisches Imitieren, selbstvergessenes Lautieren, Juchzen etc.), die analog der frühen Mutter-Säuglings-Beziehung von der Mutter/ Therapeutin zu entschlüsseln, zu „beantworten“ und sukzessive zu versprachlichen sind. Daneben muß sich die Analytikerin in ihrer gleichschwebenden Aufmerksamkeit für die traumaspezifischen Ausdrucksformen des Patienten sensibilisieren, muß szenische „Einsprengsel“ wahrnehmen können, die sich als bizarre, oft hochgradig sadomasochistische Inhalte sowie damit einhergehende plötzliche Übererregungszustände des Patienten zeigen. Das gleiche gilt für unvermittelte Absencen, die auf dissoziative Zustände hinweisen (zum Umgang mit diesen Phänomenen vgl. Kap. B.2.3.).
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In der Kinderanalyse steht wie in der Erwachsenenanalyse die Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung im Zentrum der gleichschwebenden Aufmerksamkeit.
Übertragung
Die Übertragung des Patienten wird nach den Inhalten (z.B. Triebimpulse, Über-Ich-Haltungen), nach ihrer entwicklungspsychologischen Entstehung (z.B. präverbal, verbal-symbolisch, präödipal, ödipal), nach dem Grad der Selbst- und Objekt-Differenzierung (Selbstobjekt-Übertragung, objektale Übertragung) sowie nach dem Modus der Übermit t lung (z.B. projektive Identifizierung, Projektion, Verschiebung) unterscheiden (Mertens, 1990, S. 196 f.)
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Bei früh traumatisierten Kindern handelt es sich inhaltlich nicht um kohärente Selbst- und Objektrepräsentanzen, sondern um archaische Introjekte, vornehmlich Täterintrojekte, mit denen der Patient unbewußt identifiziert ist (vgl. Kap. A.2.1.4.2.). Deshalb geht es unter entwicklungspsychologischem Aspekt weniger um reif-neurotische, objektale Übertragungen als um frühe, präverbale, sensumotorische Selbst-Selbstobjekt-Übertragungen, die in entsprechend archaischen Formen der projektiven Identifikation, des Handlungsdialogs und des Enactments übermittelt werden (vgl. Kap. B.2.2.3.). Es kommt, ausgelöst durch „flash backs“ und Intrusionen, häufig auch zu traumatischen Übertragungen, in denen sich die Täter-Opfer-Beziehung reinszeniert (vgl. Kap. B.2.3.).
In den vergangenen hundert Jahren haben sich am Übertragungs-Begriff viele Debatten entzündet, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann (Übersicht bei Mertens, 1990, S. 165 ff.; Thomae & Kächele, 1996, S. 64 ff.). Aus dieser Debattenvielfalt soll allerdings ein Thema aufgegriffen werden, das auch für die Behandlung früh traumatisierter Kinder von Belang ist.
Es geht um die alte Kontroverse, ob die Übertragung eine Neuauflage einer alten Objek t beziehung (Greenson, 1973, S. 163) oder eine Neuschöpfung sei (Übersicht bei Mertens, 1990, S. 179 ff.). Im Zusammenhang mit der Abkehr von der Ein-Personen-Psychologie mit ihrem ausschließlich intrapsychisch konzipierten Übertragungbegriff, der auf einem naiv-positivistischen Glauben an die Möglichkeit einer Subjekt-Objekt-Spaltung in der analytischen Situation fußt, wurde das Übertragungskonzept mehr und mehr um interpersonelle und interaktionelle Komponenten erweitert. Angefangen beim Konzept der projekt i ven Identifik a tion (Klein, 1946), das in der Folge weiter ausformuliert wurde (vgl. Mertens, 1991 b, S. 30 ff.), über den Begriff der Rollenübernahme-Bereitschaft (role responsiveness, Sandler, 1976), des Handlungsdialogs (Klüwer,1983, 2001) bzw. des Enactments (Chused, 1991; Jacobs, 1986) bis hin zu radikal intersubjektivistischen Positionen, die den analytischen Prozeß als „gemeinsame Schöpfung“ auffassen (Orange et al., 2006), wird die Übertragung zunehmend als interpersoneller Austauschprozeß zwischen Analytiker und Patient betrachtet. Damit verbunden sind die theoretische wie behandlungstechnische Frage, ob dann überhaupt noch von übertragungsfreien Beziehungsanteilen zu sprechen sei („Arbeitsbündnis“, „reale“ Beziehung), ob und wie die Begriffe der „Abstinenz“ und „Neutralität“ neu zu konzipieren seien, ob und wieweit der Analytiker sich „selbst enthüllen“ solle und worin dann noch die „Autorität“ des Analytikers, seine „Deutungsmacht“ bestehe (s. dazu die Beiträge von Gill et al., Kernberg, Renik, Thomä in Psyche, 1999).
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Die gegenwärtige überwiegende Auffassung von der Natur der Übertragung faßt Mertens wie folgt zusammen:
„Man kommt nicht darum herum, den interpersonellen Vorgang zwischen Analytiker und Patient als reziproken, also wechselseitigen interaktionellen oder transaktionellen Prozeß zu begreifen, wobei man dem Therapeuten mehr Freiheitsgrade der analytischen Reflexion, mehr Rollendistanz, eine gründlichere Selbsterkenntnis und Durcharbeitung eigener konflikthafter Interaktionsbereiche zugestehen kann, was wohl den Unterschied zu einer kollusiven Alltagsbeziehung ausmacht.“ (Mertens, 1990,S. 195). |
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Dieses intersubjektive Verständnis der Übertragung, das auch ich vertrete, bietet sich ganz besonders für die Kinderanalyse an. Hier ist die Analytikerin so intensiv mit dem Kind in den gemeinsamen Spielprozeß involviert, daß ihre individuelle Persönlichkeit viel stärker als in der Erwachsenenanalyse den therapeutischen Prozeß und damit auch die Übertragung des Patienten beeinflußt.
Deshalb ist die Übertragung in der Kinderanalyse in jedem Falle eine Neuschöpfung. Bei früh traumatisierten Kindern ist sie zwar auch eine Neuauflage einer alten Objektbeziehung, da die traumatisierende Beziehungserfahrung im posttraumatischen Spiel mit der Analytikerin ständig reinszeniert wird. Sie ist aber auch hier wieder eine Neuschöpfung, weil die Analytikerin als „neues Objekt“ (Hurry, 2005) eine neue, korrigierende Beziehungserfahrung ermöglicht.
Gegenübertragung
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Einem intersubjektiven Übertragungsverständnis entsprechend ist die Gegenübertragung der Analytikerin das komplementäre Gegenstück der Übertragung des Patienten, da sie nicht nur vom Patienten induziert wird, sondern sich auch aus den Übertragungsdispositionen der Analytikerin speist.
Ursprünglich wurde die Gegenübertragung jedoch einzig und allein als Problem des Analytikers gesehen, als blinder Fleck, entstanden aus dessen „Restneurose“, den dieser umgehend durch Selbstanalyse zu „bereinigen“ habe, um den analytischen Prozeß nicht zu behindern (Freud, 1912). Durch zahlreiche Arbeiten v.a. kleinianischer Psychoanalytiker wurde jedoch die Gegenübertragung zunehmend „rehabilitiert“: Heimann (1950) identifizierte die Gegenübertragung als „Schöpfung des Patienten“ und hob ihre zentrale Bedeutung als psychoanalytisches Forschungsinstrument hervor, Little (1951) versuchte, die Gegenübertragung in ihre einzelnen Bestandteile aufzuschlüsseln, Racker (1957) unterschied zwei typische Identifizierungsformen des Analytikers, die konkordante Identifizi e rung (mit dem Patienten) sowie die komplementäre Identifizierung (mit dem Übertragungsobjekt des Patienten)
Kritiker dieser „totalistischen“ oder „ganzheitlichen“ Auffassung der Gegenübertragung, wonach sämtliche Gefühle des Analytikers vom Patienten induziert sein sollen, gaben zu bedenken, dies führe zu einem inflationären Gebrauch und damit letztlich einer mystifizierenden Entleerung des Begriffs (A. Reich 1951, 1960). Thomä und Kächele gehen zwar von einer Zwei-Personen-Psychologie, also einem intersubjektiven Therapieverständnis aus, verweisen jedoch darauf, daß dies den Analytiker nicht davon entbinde, „sich permanent Rechenschaft über sein therapeutisches Handeln zu geben“ (1999, S. 853). Kernberg (1999) plädiert schließlich für eine „Drei-Personen-Psychologie“. Zwar sei die Gegenübertragung primär durch den Patienten hervorgerufen, jedoch enthalte sie auch eigene Übertragungsdispositionen des Analytikers. Allerdings beansprucht Kernberg für den Analytiker eine zusätzliche „dritte Position“, von der aus dieser die analytische Beziehung reflektiert und „eine neue Perspektive einbringt, die den in der Übertragung aktivierten unbewußten Konflikt zu klären vermag.“ (ebd., S. 886). Ganz anders argumentieren dagegen radikale Intersubjektivisten. Renik (1999) z.B. fragt, ob angesichts der Tatsache, daß die Subjektivität des Analytikers ein irreduzibler Teil des analytischen Prozesses sei, nicht letzlich auf den Begriff der Gegenübertragung zu verzichten sei.
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Ein intersubjektives Verständnis der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung beginnt sich heute trotz durchaus unterschiedlicher Ausgangspositionen in der psychoanalytischen Community durchzusetzen (intersubjektive Wende, vgl. Altmeyer & Thomä, 2006). Besonders in der psychoanalytischen Trauma-Literatur ist ein wachsender Konsens festzumachen, daß für „die moderne Fassung des Gegenübertragungskonzeptes … ein Weg charakteristisch (ist), der von einer ‚Einbahnstraße’ zu einem interaktionalen und wechselseitigen Verständnis führt.“ (Zurek & Fischer, 2003, S. 11f.). So sieht Ogden „Übertragung und Gegenübertragung nicht als trennbare Entitäten, die als Reaktion aufeinander auftreten … diese Begriffe (beziehen sich) auf Aspekte einer einzigen intersubjektiven Totalität, die von Analytiker und Analysand separat und individuell erfahren wird.“ (1997 a, S. 20). Mathias Hirsch (2004) spricht von einer Übertragung-Gegenübertragungs-Matrix, aus der heraus die komplexe therapeutische Beziehung „aus jeweils gegenseitigen Übertragungs – und Gegenübertragungskomponenten zusammengesetzt gedacht werden (kann).“ (ebd., S. 194).
Gerade wenn man von einem derartigen intersubjektiven Prozeß zwischen Analytiker und Patient ausgeht, wird es umso wichtiger, „die eigene Gegenübertragung permanent einer kritischen Reflexion zu unterziehen.“ (Mertens, 1991 b, S. 42). In diesem Sinne sollen im nächsten Kapitel die Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder genauer betrachtet werden.
Früh traumatisierte Kinder sind wegen der mangelhaften Symbolisierung ihrer traumatischen Erfahrungen gezwungen, sie in nicht-symbolisierter, vorsprachlicher Form zu kommunizieren, d.h. als Handlungsdialog, Enactment oder projektive Identifikation (siehe dazu weiter unten), was beim Analytiker oft heftige Gefühle hervorruft. Holderegger hat hierfür den Begriff der traumatisierenden Übertragung geprägt, bei der „der Analytiker in der Gegenübertragung mindestens partiell dem Trauma ausgesetzt wird, das der Patient als Kind erlebte und das ihn immer wieder zu destabilisieren droht.“ (1993, S. 23).
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In der Therapie früh traumatisierter Kinder geschieht dies überwiegend als Aktiv-Passiv-Verkehrung. Identifiziert mit dem „traumatischen Introjekt“ (Hirsch, 1994, 2004) zwingen die kindlichen Patienten die Analytikerin, die erlittene Traumatisierung stellvertretend für sie wiederzuerleben. Sie verlassen, verhöhnen, demütigen, schlagen, quälen, erstechen, erschießen, verbrennen, zerstückeln sie im posttraumatischen Spiel. Auch wenn dies alles „nur Spiel“ ist, sind die heftigen Gegenübertragungsgefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst und Wut für die Analytikerin nur schwer erträglich.
Vor allem massive Angst ist es, welche die Analytikerin auszuhalten hat, wenn sie mit dem traumatischen Material konfrontiert wird und „die Erschütterung des Weltbildes miterlebt, welche die Klientin erleben mußte. Die Therapeutin fühlt sich in eine bedrohliche Welt versetzt, die keinerlei Sicherheit bietet.“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 190).
Neben der traumatischen Angst können in der Gegenübertragung auch quälende Gefühle von Lähmung, Ohnmacht und Insuffizienz entstehen, wenn der Patient – gerade in der Anfangsphase einer Therapie –durch eine mißtrauische, passive bis offen aversive Haltung die Analytikerin in ihren Bemühungen um den Patienten auf höchst subtile Weise ins Leere laufen läßt. „Die passive Abhängigkeit traumatisierter Patienten bzw. ihre hartnäckige Unfähigkeit zu vertrauen, spiegelt sich in den Gefühlen der Therapeuten wider, machtlos und inkompetent zu sein.“ (Turner et al., 2000, S. 389).
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Versucht nun die Analytikerin, ihr narzißtisches Gleichgewicht wiederzufinden, indem sie die Regression des Patienten durch das nachdrückliche Angebot einer einfühlend-verstehenden Beziehung „forciert“, gerät der Patient in einen Konflikt „zwischen dem Über-Ich-Gebot des Täters, alles zu verschweigen und dem Wunsch, in einer neuen, nicht kontaminierten Beziehung … mit einem nicht ausbeuterischen Selbstobjekt zu verschmelzen.“ (Peichl, 2000, S. 369 f.). Diese durch die Analytikerin verstärkte Regression konfrontiert den Patienten jedoch verfrüht mit der Hilf- und Wehrlosigkeit der Traumaszene und verursacht deshalb häufig ein heftiges Umschlagen in eine negative Übertragung. Die „unbeabsichtigte Verstärkung der Opferrolle aktiviert eine objektale … Übertragung der Wut und des Hasses, die der Patient früher gegen den Täter empfand.“ (Peichl, 2000, S. 370). Durch diese heftigen Wechsel der Übertragung gerät die therapeutische Beziehung besonders in der Anfangsphase einer Traumatherapie schnell an ihre Belastungsgrenze bis zur Gefahr eines Therapieabbruchs.
In der Arbeit mit traumatisierten Kindern potenziert sich diese Problematik dadurch, daß die Analytikerin wegen der meist heftigen Symptomatik des Patienten zusätzlich unter einen enormen Leistungs- und Erwartungsdruck der realen Außenwelt (Eltern, Lehrer) gerät, schnelle therapeutische Erfolge zu produzieren. Verbindet sich dies Konstellation mit einer „restneurotischen“ narzißtischen Vulnerabilität der Analytikerin i.S. erhöhter Kränkbarkeit durch professionellen Mißerfolg, steigt die Gefahr eines Gegenübertragungsagierens. Fischer und Riedesser (1999, S. 190) beschreiben Schuldgefühle der Therapeutin, die „dadurch entstehen, daß der therapeutische Erholungsprozeß bei der Patientin nicht so rasch verläuft, wie die Therapeutin dies bewußt oder unbewußt wünscht.“ Diese Art Schuldgefühl kann sich mit sekundärem Überlebensschuldgefühl mischen, das daraus entspringt, „daß die Klientin eine Situation erleben mußte, von der die Therapeutin verschont blieb“ (ebd.). Mathias Hirsch widmet ein ganzes Buch den traumabedingten Schuldgefühlen (1998 a).
Besonders konflikthaft wird dieses Gegenübertragungserleben, wenn der Patient neben seiner aversiven Passivität gleichzeitig eine enorme Bedürftigkeit und intensive Sehnsucht nach Bemutterung ausstrahlt. Durch dieses Double-Bind wird die Analytikerin in die traumatische Übertragungsposition versetzt, eine ersehnte Mutter zu sein, die jedoch nicht hilft bzw. helfen kann – die typische Beziehungskonstellation in Mißbrauchsfamilien, in denen die Mutter als silent partner dem Vater tatenlos zusieht, der ihr Kind traumatisiert (Hirsch, 1994). So gleitet die Analytikerin – eben noch in der konkordanten Gegenübertragung des hilflosen Opfers – unversehens in die komplementäre Gegenübertragungsposition der sadistischen Mittäterin.
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Diese schnellen Wechsel zwischen Opfer- und Täterrolle der Analytikerin sind typisch für die Behandlung früh traumatisierter Kinder. Sowohl das Leiden des kindlichen Opfers als auch dessen überlebensnotwendige intensive Bindung an die traumatisierende Elternfigur, die es zur Identifikation mit dem traumatischen elterlichen Täterintrojekt zwang, reinszenieren sich in der Therapie. Die Folge ist,
„…daß der Therapeut sich entweder mit der Opferseite des Patienten überidentifiziert und sich als nur gutes Eltern-Objekt grenzenlos zur Verfügung stellt … oder sich mit der vom Patienten via projektiver Identifikation übertragenen Täterseite identifiziert und den Patienten aus einer komplementären Identifikation (Racker) heraus für sein Unglück verantwortlich macht und dieses ihm durch subtile Verachtung kommuniziert.“ (Peichl, 2000, S. 372). |
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Diesem schnellen Wechsel zwischen Opfer- und Täteridentifikation der Analytikerin entspricht nicht selten ein ebenso schneller Wechsel von Idealisierung und Entwertung der Analytikerin durch den Patienten. Neben der beschriebenen mißtrauischen Aversion reagieren früh traumatisierte Kinder zu Beginn der Behandlung nämlich oft auch mit einer spontanen Idealisierung der Analytikerin. Durch diese idealisierende Mutter-Übertragung „schafft sich der Patient sozusagen selbst die Möglichkeit, seine habituelle Verschlossenheit, sein Mißtrauen, seine Verleugnung und Abspaltung der Affekte sowie das ständige Kontrollieren-Müssen von Beziehungen (Regulierung von Nähe und Distanz bzw. Vermeidung von Trennungsbedrohung) zu umgehen.“ (Hirsch, 2004, S. 185).
Diese Idealisierung der Analytikerin als Retterin stellt aus mehreren Gründen eine der größten „Fallen“ in der Arbeit mit früh traumatisierten Kindern dar. Erstens, weil die Analytikerin damit zur „besseren Mutter“ wird und dadurch Kränkung und Rivalität der Eltern heraufbeschwört. Zweitens, weil diese idealisierende Übertragung als Retterin schnell in heftige Entwertung umschlagen kann, wenn der Patient spürt, daß „der Therapeut sein Engagement nicht durchhalten kann oder der Erfolg ausbleibt“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 191). Wenn die Analytikerin es versäumt hat, die mit ihrer Idealisierung verbundene Eifersuchts- und Neidproblematik der Eltern zu bearbeiten, führt diese empfindliche Mischung aus Enttäuschung des Kindes und heimlichem Triumpf der Eltern nicht selten zum Therapieabbruch.
Die Übertragungsposition der Retterin ist drittens deshalb hochbrisant, weil sie die narzi ß tische Eigenübertragung der Analytikerin aktiviert. Die Idealisierung gewährt nicht nur narzißtische Gratifikation und Entlastung von Gefühlen der Insuffizienz und Inkompetenz (s.oben). Sie verführt die Analytikerin auch dazu, i.S. des klassischen Helfersyndroms eigene Bedürftigkeiten stellvertretend beim Patienten zu stillen und eigene lebensgeschichtliche Traumatisierungen wiedergutmachen zu wollen (Fischer & Riedesser, 1999, S. 180).
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Damit im Zusammenhang steht viertens das Risiko, den Patienten in dieser idealisierenden Übertragung zu fixieren. Er wird damit der Möglichkeit beraubt, aggressive Impulse zu übertragen, besonders den „archaische(n) Haß auf die Mutter, die ihn damals nicht besser schützen konnte.“ (ebd.). Die Analytikerin leicht in die Gefahr, diesen Übertragungs-Haß des Kindes, den sie abwehren muß, weil er sie überwältigen würde, auf die mißhandelnden und/oder mißbrauchenden Eltern zu verschieben, die ja durchaus Anlaß für Wut und Empörung bieten. Nicht selten entstehen hierbei auch maligne unbewußte Bündnisse zwischen Patient und Analytikerin, wenn diese den kindlichen Patienten dazu motiviert, die Wut auf die elterlichen Täter „rauszulassen“ und dies als notwendige „Katharsis“ rationalisiert. Kinderschutzinitiativen wie „Wildwasser“ liefern hierfür – bei aller Anerkennung ihres gesellschaftlichen Engagements – oft ungewollt Rationalisierungshilfe. Dadurch geraten aber die Liebes- und Bindungswünsche des Kindes an seine Eltern - auch an die mißhandelnden/mißbrauchenden Eltern - ins Hintertreffen und werden von der Analytikerin nicht mehr „contained“ und psychisch repräsentiert. Das Kind spürt, daß es die Analytikerin überfordert und beginnt womöglich sogar, eine Therapeutenhelferposition auszubilden und die Analytikerin „durch Verschweigen, Dissoziieren in der Stunde oder Affektisolierung vor dem traumatischen Material zu schützen.“ (Peichl, 2000, S. 372).
Fünftens und letztens ist die Position der Retterin aber auch aus ganz praktischen Gründen problematisch, wenn nämlich der kindliche Patient noch in der Familie lebt, in der er traumatisiert wurde. In diesen Fällen, in denen das Kind vor erneuter Traumatisierung nicht wirklich sicher ist, ist die Analytikerin zumindest zu Beginn der Therapie in der Tat die „bessere Mutter“. Denn sie verfügt i.d.R. nicht nur über eine höhere emotionaler Responsivität als die realen Eltern, sondern „sorgt“ i.S. entwicklungsorientierter Psychotherapie im sozialen Feld auch für konkrete Hilfs- und Unterstützungsangebote der Jugendhilfe, um eine weitere Eskalation der familiären Gewalt zu verhindern (vgl. Kap. B.1.).
In dieser Situation, in der die Analytikerin vorübergehend wirklich die „Retterin“ für das Kind ist, muß die Gegenübertragung besonders aufmerksam beobachtet werden. Vor allem Gefühle von Wut und Empörung gegen die Eltern angesichts der Empathiedefizite gegenüber dem Kind und ihrer latent oder manifest ausagierten Destruktivität sind oft schwer auszuhalten. In einer derartigen Konstellation ist es, neben Intervision und Supervision, hilfreich, den eigenen biographischen Leidenserfahrungen der Eltern in der Elternarbeit nachzuforschen, sich die (kindliche) Opferrolle der Eltern selbst emotional zu vergegenwärtigen, aus der heraus sie die (erwachsene) Täterrolle entwickelt haben. Diese Haltung kann die Analytikerin davor schützen, in einseitige Schuldzuweisungen zu verfallen und damit das Arbeitsbündnis mit den Eltern zu gefährden. Eine Übertragungposition der Guten Großmutter (Stern, 1998 a) kann hier hilfreich sein, in der die Analytikerin sowohl die Eltern als auch das Kind „bemuttert“, gleichzeitig aber auch deren Wut und Haß „contained“, metabolisiert und in dosierten Deutungen den Eltern zur Verfügung stellt, um diese zu entlasten und deren Agieren zu reduzieren.
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Wut auf den oder die Täter ist eines der zentralen Gegenübertragungsgefühle, mit denen die Analytikerin umzugehen gelernt haben muß (Fischer & Riedesser, 1999, S. 189). Hier mischt sich sehr oft die abgewehrte Wut des Patienten, die die Analytikerin in der Gegenübertragung erlebt, mit ihrer eigenen Wut und Empörung über elterlichen Machtmißbrauch sowie mit ihrer „restneurotischen“ Wut, die aus unzureichend bewältigten eigenen biographischen Traumatisierungen resultiert. Nicht selten kommt zu dieser „Wut-Melange“ noch ein weiteres Element hinzu, nämlich die aus dem Gefühl der Ohnmacht entspringende Wut der Analytikerin, daß sie den traumatischen Spielinszenierungen des kindlichen Patienten hilflos ausgeliefert ist. „Manche Therapeuten entwickeln Wut, weil sie sich vom Traumabericht ihrer Patienten überschwemmt fühlen.“ (Zurek & Fischer, 2003, S. 13)
Manchmal kann sich diese Wut auf den Patienten zu erschreckenden sadistischen Phantasien steigern. „Die Gefahr, selbst in sadistische oder auch masochistische Haltungen zu verfallen, ist groß.“ (Eckhardt-Henn, 2000, S. 300)
Damit in Zusammenhang stehen auch erotische/sexuelle Gegenübertragungsgefühle. Zwar sind diese Affekte in erster Linie ein Problem der Erwachsenenanalyse (vgl. z.B. Becker-Fischer & Fischer, 1995), aber auch die Kinderanalytikerin ist nicht davor gefeit, sich angesichts des klassischen sexualisierten „Lolita“-Verhaltens kindlicher Mißbrauchsopfer dabei zu ertappen, Verständnis und Mitgefühl für den „verführten“ Vater der Patientin zu empfinden. Oft folgen hieraus wieder Gefühle der Scham, des Ekels und der Schuld (Hirsch, 1998 a), die die Analytikerin wieder in die konkordante Opferrolle zurückkehren lassen – ein Teufelskreis, der nicht selten in einem dumpfen Gefühl von Ohnmacht endet.
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Gerade diese Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit des Opfers sind besonders schwer auszuhalten. Klassische Abwehroperationen der Analytikerin sind der bereits erwähnte Retter-Aktionismus, die Sexualisierung, die Aggressivierung, aber auch das Gegenteil, nämlich Distanzierung und Rückzug. Diese könnten sich in der Gegenübertragung als emotionale Anästhesie, Langeweile, Müdigkeit und Vermeidungsverhalten niederschlagen, auch als Zweifel am Wahrheits-Charakter der traumatischen Erfahrungen des Patienten. Hieraus erwächst wieder die Gefahr, in die Rolle des silent partner zu geraten, der als Mit-Täter das Leiden des Patienten verleugnet.
Diesen emotionalen Rückzug der Analytikerin erlebt der Patient als erneutes Verlassenwerden. Dadurch wird nicht selten eine heftige negative Übertragung mobilisiert, die die Analytikerin als Angriff, Überwältigung und narzißtische Entleerung erfährt. Die Folge ist in der Regel eine verstärkte aggressive Gegenübertragung der Analytikerin, die zu offenem Gegenübertragungsagieren einlädt oder hinter weiterer affektiver Distanzierung abgewehrt wird. Sie wiederum provoziert verstärktes aggressives Agieren des Patienten, der dadurch unbewußt die Analytikerin „aus der Reserve zu locken“ und damit emotional zu „erreichen“ versucht. Entsteht ein solcher Teufelskreis, flüchtet sich die Analytikerin manchmal in verstärkte Deutungsaktivität. Hinter solchem „Deutungsfanatismus“ verbirgt sich der Versuch der Analytikerin, durch professionelles Kompetenzerleben die verwundete narzißtische Integrität wiederherzustellen. Werden dabei zu früh eigene Anteile des Patienten an der Herstellung einer mißbräuchlichen Situation thematisiert (z.B. ödipale Phantasien im Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch), fühlt sich der Patient erneut traumatisiert, was die Wut und den Haß auf die in der Analytikerin untergebrachte Täterimago weiter anheizt. „Die therapeutische Beziehung eskaliert zu einer Kampfbeziehung, wobei es um Angst vor Vernichtung auf beiden Seiten geht, um ‚Rufmord’ und um Drohungen mit Gewalt und Selbstmord von Seiten des Patienten.“ (Peichl, 2000, S. 373). Angesichts solcher Eskalationen verwundert es nicht, daß der Umgang mit der negativen Übertragung zu den umstrittensten Bereichen in der Traumatherapie gehört (siehe dazu ausführlich Kap. B.2.3.)
Die Tendenz der Analytikerin, sich vor der Wucht der traumatischen negativen Übertr a gung zu schützen, kann sich dahin steigern, daß sie am Sinn und Erfolg der Therapie zu zweifeln beginnt und schließlich den Patienten innerlich aufgibt. Dies vor allem dann, wenn eigene biographische Traumaszenen aktiviert und als Eigenübertragung virulent werden. Es gelingt ihr dann immer weniger, die von der Patientin bei ihr deponierten traumatischen Täterintrojekt-Anteile zu „halten“, zu „containen“ und zu metabolisieren. Sie reagiert stattdessen zunehmend mit Ausstoßung und Rückprojektion eben dieser Anteile, die sie als bedrohlich und verfolgend erlebt, da sie von eigenen unbearbeiteten traumatischen Beziehungserfahrungen kontaminiert sind (Peichl, 2000, S. 375).
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In der Literatur wurden verschiedene Versuche unternommen, die oben beschriebenen mannigfachen Gegenübertragungsgefühle der Analytikerin in der Therapie traumatisierter Patienten zu systematisieren (Fischer & Riedesser, 1999, S. 189f.)
Peichl (2000) schlägt eine Typisisierung vor, die die Eigenübertragung des Therapeuten auf den Patienten in den Mittelpunkt stellt und vier verschiedene Übertragungs-/ Gegenübertragungsmuster erfaßt. Das Dialogverhalten verläuft in der horizontalen Dimension zwischen den Polen „Überidentifikation“ versus „Vermeidung-Distanzierung“, in der vertikalen Dimension zwischen „Kaum Eigenübertragung“ versus „Massive Eigenübertragung“. Hieraus ergeben sich wiederum vier therapeutische Dialogstile (ebd., S. 368):
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Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Therapie traumatisierter Patienten die Analytikerin vor ganz besondere Herausforderungen stellt. „In kaum einem Metier sind Beziehungsarbeit und ‚Beziehungskunst’ von so zentraler Bedeutung wie in Therapien, in denen sich Menschen in einem Zustand höchster psychischer Verletzlichkeit vertrauensvoll an einen Psychotherapeuten oder eine Psychotherapeutin wenden.“ (Zurek & Fischer, 2003, S. 16).
Die besondere Bedürftigkeit der Patienten verführt zur Überidentifikation, die die Analytikerin zur „Retterin“ macht und damit Grenzsetzung und Bearbeitung der negativen Übertragung des Patienten sabotiert. Der unbewußte Wunsch der Analytikerin, sich vor der Wucht der mit dem Trauma verbundenen unerträglichen Affekte zu schützen, verführt dagegen leicht zur emotionalen Distanzierung – oft rationalisiert mit einer betont „abstinenten“ analytischen Haltung - mit der Gefahr, den Patienten erneut emotional zu traumatisieren. Kommt zu diesen beiden Extremen noch eine Eigenübertragung der Analytikerin hinzu, die aus deren unzureichend bearbeiteten traumatischen Erfahrungen resultiert, kann sich eine maligne Übertragungs- Gegenübertragungsdynamik entwickeln, an deren Ende der Therpieabbruch steht.
Die Analytikerin sollte einen „goldenen Mittelweg“ zwischen den genannten Extrempositionen suchen und v.a. ihre Eigenübertragung aufmerksam beobachten.
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„Flexibles Pendeln zwischen Identifikation und Distanzierung steht im Mittelpunkt der traumatherapeutischen Beziehungsarbeit. Bei Opfern absichtsvoller Gewalt nimmt sie die Form ‚parteilicher Abstinenz’ oder ‚abstinenter Parteilichkeit’ an – ein spezielle Form der ‚Gratwanderung’ zwischen den Extremen von Distanzierung und Identifikation.“ (Zurek & Fischer, 2003, S. 16) |
Schließlich ist noch zu betonen, daß in der Traumatherapie die kollegiale Intervision und S u pervision eine absolute Notwendigkeit darstellt. Die intensiven Verstrickungen, die durch die Reinszenierung der Täter-Opfer-Dynamik in Traumatherapien entstehen, lassen sich oft erst an einem solchen geschützten „dritten Ort“ verstehen und entwirren.
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In den bisherigen Auführungen wurden bereits mehrfach die Begriffe der projektiven Identifikation und des Containing erwähnt, die in der Therapie früh traumatisierter Kinder einen zentralen Stellenwert haben und deshalb im Folgenden näher erläutert werden sollen.
Projektive Identifikation
In der psychoanalytischen Begriffsgeschichte gebührt den Anhängern von Melanie Klein (1946) das Verdienst, die projektive Identifikation als zentralen Erklärungsmodus der Gegenübertragung ausgemacht zu haben. Ursprünglich als ein rein intrapsychischer Abwehrmechanismus konzipiert, wird unter projektiver Identifikation heute ein überwiegend interpersoneller bzw. interaktiver Prozeß verstanden: Anteile der Selbst- oder Objektrepräsentanz werden via Interaktion in den Interaktionspartner externalisiert (Sandler, 1988).
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Entwicklungspsychologisch handelt sich bei der projektiven Identifikation um einen frühkindlich-archaischen Modus der Objektbeziehung, der aus objektbeziehungstheoretischer Sicht daraus resultiert, daß das Kind in diesem frühen Stadium noch nicht in der Lage ist, ambivalente Gefühle zu ertragen. Es spaltet deshalb zwischen „guten“ und „bösen“ Selbst- und Objektrepräsentanzen. Unerträgliche Selbst-Zustände und Affekte muß es daher beim Objekt, i.d.R. der Mutter, psychisch „unterbringen“, damit diese sie stellvertretend für das Kind intrapsychisch verarbeitet.
Die projektive Identifikation geht über eine einfache Gegenübertragungsinduktion und über den Mechanismus einer einfachen Projektion insofern hinaus, als der Projezierende einen starken interaktionellen Druck auf sein Gegenüber ausübt, sich tatsächlich im Sinne des projezierten Anteils zu verhalten. Dieser interaktionelle Druck, den das Gegenüber unbewußt als starke Kontrolle und als „Zwang zum Agieren“ erlebt, erfolgt aus dem unbewußten Motiv des Projizierenden heraus, sich zum einen zu vergewissern, daß er sich des als bedrohlich erlebten Anteils auch wirklich entledigt hat und zum anderen, um durch aggressive Kontrolle des Gegenüber zu verhindern, daß der gefürchtete Selbstanteil unversehens in das Ich „zurückkehrt“. Im Idealfall ist das Gegenüber (die Mutter in Beziehung zum Kind bzw. der Analytiker in Beziehung zum Patienten) in der Lage, die unerträglichen Affekte des Kindes/Patienten zu ertragen, zu „halten“ und psychisch zu „verdauen“, um sie dem Projizierenden dann in „entgifteter“ Form (als tröstende Beruhigung bzw.verständnisvolle Deutung der Affekte) zur Reintrojektion zurückzugeben – ein Prozeß, der als „Metabolisierung“ (Langs, 1978) bzw. als „Containing“ (Bion, 1959) beschrieben wurde. Die projektive Identifikation stellt also „einen Komplex von Phantasien und Objektbeziehungen mit drei Teilaspekten dar: 1. Unterbringung von Selbstaspekten in einem anderen, 2. Ausübung von Druck auf den anderen, der Projektion zu entsprechen und 3. Verarbeitung der Projektion durch den anderen und Reinternalisierung durch den Projizierenden.“ (Ogden, 1988, S. 1).
In der klinischen Arbeit mit früh traumatisierten Kindern ist die Analytikerin diesen projektiven Identifikationsprozessen häufig ausgesetzt. Die kindlichen Patienten zwingen sie in der typischen Aktiv-Passiv-Verkehrung des posttraumatischen Spiels, oft mit erheblichem interaktionellen Druck, die Opfersituation nachzuerleben, die sie selbst erleiden mußten.
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Dabei „triggert“ gerade das Präverbale, Nicht-Symbolisierte, Implizite der Kommunikation mit traumatisierten Patienten nicht selten eine eigene Trauma-Geschichte der Analytikerin, was deren kritische Gegenübertragungsanalyse erschwert. Projektive Identifikation hat nämlich eine defensive wie eine kommunikative Funktion. Sie dient nicht nur der Abwehr unerträglicher Gefühle, sondern „auch deren Darstellung und damit der Mitteilung einer Erinnerung, die nur in dieser indirekten Weise möglich ist.“ (Holderegger, 1993, S. 19). Wenn eigene präverbale traumatische Erfahrungen der Analytikerin auf dieser „frühen“ Ebene der Kommunikation wachgerufen werden, besteht die Gefahr des Gegenübertragungsagierens wegen einer mangelhaften Bewältigung eben dieser traumatischen Erfahrung. Es kann allerdings der Therapie auch zugute kommen, daß die Analytikerin gerade aufgrund dieser Erfahrungen besonders gut in der Lage ist, diese „Botschaften“ zu verstehen und „containend“ zu beantworten.
Containing
Bion (1962) erweiterte das Konzept der projektiven Identifikation zu einer Theorie des Denkens. Im Zentrum steht dabei das „Container-Contained“-Verhältnis. Danach projeziert der Säugling seine unerträglichen, „undenkbaren“ inneren Erfahrungen, sog. Beta-Elemente, in den psychischen „Container“ der Mutter. Im Idealfall kann die Mutter durch ihr, wie Bion es ausdrückt, „träumerisches Ahnungsvermögen“ (rêverie), diese Beta-Elemente in sich aufnehmen und in eine erträgliche, „denkbare“ Form, sog. Alpha-Elemente, transformieren, die der Säugling dann wiederum reintrojiziert.
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Dieses Containing stellt die Analytikerin, gerade in der Therapie früh traumatisierter Kinder, auf eine harte Probe. So gehört denn „… die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft zum ‚Containing’ mit zu den häufigsten Ursachen für eine therapeutische Messall i ance… Die krankmachende Eltern-Kind-Interaktion wird wiederholt, anstatt sie aufzulösen.“ (Mertens, 1991 b, S. 201). Ist die Analytikerin nicht in der Lage, die im posttraumatischen Spiel vom kindlichen Patienten inszenierte Täter-Opfer-Beziehung zu ertragen, läuft sie Gefahr, dem Patienten die unerträglichen Affekte, die er in ihren „Container“ füllt, bildlich gesprochen, wieder „vor die Füße zu werfen“. Die Folgen sind entweder eskalierende, entgleisend gewalttätige Szenarien oder aber intuitive Anpassung des Patienten an die Bedürftigkeit der Analytikerin, da er spürt, daß er sie mit seinen unerträglichen Affekten überfordert. Eine Bearbeitung des Traumas wird dadurch sabotiert.
Jenseits des unmittelbaren szenischen Durcharbeitens bezieht sich Containing in der Therapie früh traumatisierter Kinder aber auch auf eine grundlegende psychoanalytische Haltung dem Patienten und dem gesamten therapeutischen Prozeß gegenüber. In diesem Sinne verstandenes Containing beginnt mit der Beachtung eines sicheren Rahmens, d.h. Verläßlichkeit und Berechenbarkeit von Zeit und Raum der Therapie. Die Therapiestunde und das Therapiezimmer (in den Worten Winnicotts: die „Umweltmutter“) werden als ein zeitlich und räumlich begrenzter „Container“ verstanden. Deshalb sollten die Therapiestunden nicht wöchentlich wechseln, sondern regelmäßig zu festen Stunden vereinbart werden, und das gewohnte Therapiezimmer sollte möglichst nicht verändert und auch nicht verlassen werden.
Containing findet aber auch über ganz konkrete Container statt, wie z.B. den großen Pappkarton, den jedes Therapiekind zu Beginn der Therapie erhält, auf den es seinen Namen schreibt und in dem die Analytikerin alle seine Produktionen aufbewahrt. Zu diesen gehört dabei nicht nur „Aufbewahrungswürdiges“, gelungenes Gemaltes und Gebasteltes, sondern gerade auch „Beta-Elemente“, die hier als undefinierbares, in trancehaft-dissoziativen Zuständen entstandenes Gekrakel, im Wutanfall zerrissene Bilder, zerstörte Tonfiguren etc. in Erscheinung treten.
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Containing bedeutet schließlich auch das psychische Aufbewahren widersprüchlicher, dissonanter Informationen und Kommunikationen wichtiger Bezugspersonen des kindlichen Patienten, sowohl in der Elternarbeit als auch in Kontakten der Therapeutin mit Schule, Hort, Jugendhilfe-Institutionen. Damit ist nicht nur die psychotherapeutische Schweigepflicht gemeint, sondern i.S. von rêverie auch ein inneres Bewahren und Bewegen der Eindrücke und Gefühle, die diese Kontakte in der Analytikerin hervorrufen. Besonders in Fällen früher Traumatisierung werden nämlich oft die abgespaltenen, unerträglichen widersprüchlichen Selbst-und Objektanteile und Affekte des Patienten anteilig von den Bezugspersonen des Kindes bzw. den Professionellen des Helfersystems übernommen und ausagiert. Dies kann sich z.B. in heftigen Konflikten äußern, die von den multiprofessionellen Behandlern über die „richtige“ Art des therapeutischen Vorgehens gegeneinander ausgetragen werden (vgl. Janssen, 2004). Aufgabe der Analytikerin ist es, diese abgespaltenen Teile in ihren „Container“ aufzunehmen, sie zu „verdauen“, zu „entgiften“ , zu einem ganzheitlichen Bild zusammenzufügen und so verarbeitet dem Patienten und seinen Bezugspersonen zur Reintrojektion schrittweise wieder zur Verfügung zu stellen.
Nicht immer gelingt jedoch das Containing. Nicht immer gelingt es, die induzierten Affekte zu tolerieren. Dieses mangelhafte Containing kann, wie erwähnt, zu pathogenen Verstrickungen bis hin zum Therapieabbruch führen, so es hat umgekehrt auch das Potential zum therapeutischen Movens. Ein Beispiel dafür wäre, daß ein traumatisiertes Kind der Analytikerin in affektentleerter Weise wie nebenbei von den Quälereien erzählt, die ihm angetan wurden und die Analytikerin so fassungslos ist, daß ihr die Tränen kommen. „Dieses unvermeidbare Agieren via bestimmter Deutungstypen oder –inhalte, para- und nonverbaler Aspekte hat aber … letztlich einen positiven therapeutischen Wert.“ (Mertens, 1991 b, S. 66). Er besteht darin, daß der Patient erfährt, daß er den Analytiker emotional erreichen kann und daß er an dessen unmittelbarer spontaner Reaktion erleben kann, wie dieser mit den heftigen Affekten umgeht. „Die Erfahrung dieses Prozesses führt schließlich beim Patienten dazu, daß er schrittweise die vormals unerträglichen Seinserfahrungen reintrojizieren und die Fähigkeit, sie zu ertragen, wie es ihm der Analytiker vorgelebt hat, introjizieren und weiter entwickeln kann.“ (ebd.).
Diese Erkenntnis ist für die Therapie früh traumatisierter Kinder von besonderer Tragweite. Die meisten psychoanalytischen Traumatherapeuten (z.B. Hirsch, 2004, S. 132 f.) stimmen darin überein, daß es wichtig ist, den Patienten ihre traumatischen Erfahrungen zu val i dieren, was ohne Ausdruck affektiver Betroffenheit nicht möglich ist. Denn die traumabedingten Grenzverwischungen zwischen Selbst und Objekt, zwischen Opfer und Täter, erfordern es, zu benennen, wer Opfer und wer Täter ist. Das entlastet nicht nur von Schuldgefühlen, sondern hilft auch, neue Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Phantasie und Realität zu errichten.
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Holding
Dem Konzept des Containing ist das des Holding bzw. der holding function verwandt. Mit diesem Begriff, den Winnicott (1963) prägte, ist in Analogie zur frühen Mutter-Kind-Beziehung das liebevolle „Halten“ des Säuglings bzw. des Patienten gemeint. Dies gilt im direkten wie übertragenen Sinne als die Vermittlung von physischer und psychischer Sicherheit. Dabei geht es immer auch um das Halten und Aushalten der ängstigenden und aggressiven Affekte des Patienten, worin die Nähe zum oben beschriebenen Prozeß des Containing besteht.
Dieses Holding ist eine therapeutische Hintergrundhaltung, die der Analytiker jedem Patienten, gleich welchen psychischen Strukturniveaus, entgegenbringt. Je reifer der Patient, desto eher ist er jedoch in der Lage, im Therapieverlauf zunehmend auch klärende, konfrontierende, konfliktaufdeckende Interventionen des Analytikers zu ertragen.
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Früh traumatisierte Kinder wachsen meist in einem affektiven Klima überwiegend hoher und abrupt wechselnder, nicht regulierter Spannungszustände („high tension states“) mit interaktiven Erfahrungen des Sich-Verfehlens, der Überempfindlichkeit und Übererregbarkeit auf (Lichtenberg, 1990). Sie benötigen deshalb diese analytische „holding function“ über weite Strecken der Therapie, ehe sie die affektiven Spannungen konfliktaufdeckender Deutungen ertragen können. Dies zeigt sich z.B. in den starken Irritationen, mit denen diese Kinder auf kleinste Veränderungen im Therapiezimmer reagieren, das unbewußt, so Winnicott (1965), als „Umweltmutter“ erlebt wird, die Schutz vor äußeren wie inneren Gefahren bietet. Sind Spielsachen oder andere Gegenstände verschwunden oder liegen an anderer Stelle im Raum als in der letzten Therapiestunde, Unregelmäßigkeiten, die reifere Kinder auf neurotischem Strukturniveau problemlos hinnehmen, können früh traumatisierte Kinder darauf sehr irritiert bis ängstlich reagieren.
Empathie
Um diese und andere Reaktionen früh traumatisierter Kinder zu verstehen, braucht die Analytikerin die Fähigkeit zu Empathie mit dem Patienten (zur wechselvollen Geschichte dieses Begriffs vgl. Körner, 1998; Mertens 1990, S. 62 ff.; Zepf & Hartmann, 2002). Das grundlegende Paradox der Empathie (Post, 1980), das darin besteht, das Fremde im Eigenen doch als das Fremde zu erleben, haben Psychoanalytiker auf verschiedene Weise zu lösen versucht. Während ältere Autoren (z.B. Greenson, 1961; Reik, 1976) den Prozeß in ein Nacheinander von „Fusion“ mit dem Fremdpsychischen und anschließender „Separation“ gliedern, gehen neuere Autoren (z.B. Hoffman, 1983) von einem Nebeneinander von introspektiver Eigen- und identifikatorischer Fremdwahrnehmung aus. Nach Mertens stellt Empathie eine „komplexe Ich-Aktivität dar, eine Art von schlußfolgerndem Wahrnehmen, wobei verschiedene innere Wahrnehmungsmodi oder Bezugsquellen … verwendet werden, wie z.B. begriffliche, selbsterfahrungsmäßige, imaginative, nachahmende und solche, die auf einer Affektresonanz beruhen.“ (1990, S. 67). Besonders der letzte Aspekt der Affektansteckung wurde von Psychoanalytikern, die der Säuglingsforschung nahestehen, zum Verständnis des Empathie-Prozesses aufgegriffen (Basch, 1983; Emde, 1990; Lichtenberg, 1981, krit. Zepf & Hartmann, 2002). Nach Körner (1998) setzt sich die Fähigkeit zur Empathie aus drei „unterschiedlichen Kompetenzen zusammen: Der Gefühlsansteckung, der Perspektivenübernahme und der Fähigkeit, den Kontext sozialer Situationen zu verstehen.“ (ebd., S. 1)
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Über den Stellenwert der Empathie im Rahmen des psychoanalytischen Prozesses, als Instrument zur Datengewinnung wie als therapeutischer Wirkfaktor, besteht Uneinigkeit. Während Ich-Psychologen wie Hartmann (1964) oder Brenner (1968) der Empathie nur eine untergeordnete Funktion zubilligen, steht sie bei den Selbstpsychologen (Basch,1983; Lichtenberg, 1983; Ornstein, 1974; Stolorow, 1986) an erster Stelle.
Ausgehend von einem intersubjektiven Verständnis der Übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung muß man anerkennen, daß Empathie immer nur eine A n näherung an das Fremdseelische sein kann, da dessen Wahrnehmung immer mit Selbstwahrnehmung „kontaminiert“ ist. Deshalb ist Empathie, so Körner, im konstruktivistischen Sinne immer nur ein „persönlicher Entwurf“. „Dieser Entwurf orientiert sich sowohl an den eigenen inneren Objekten als auch an den konkreten Erfahrungen mit dem Gegenüber. Im psychoanalytischen Dialog bringen beide Beteiligte, Patient und Psychoanalytiker, ihre empathischen Entwürfe zur Geltung und suchen darüber eine Verständigung.“ (1998, S. 1)
Diese Einschränkung gilt selbstverständlich auch für die Arbeit mit früh traumatisierten Kindern, in der die Analytikerin in ganz besonderem Maße auf ihre Empathie angewiesen ist. Da die Traumatisierungen dieser kleinen Patienten meist aus der präverbalen Phase stammen, werden diese Erfahrungen in der Therapie ebenfalls „sprachlos“, d.h. über nonverbale „Kanäle“ kommuniziert, weshalb Empathie hier weitgehend ohne die Hilfe von Sprache auskommen muß (vgl. dazu Kap. B.2.2.3.4.).
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Auch Empathie kann wie das Containing mißlingen. Von grundlegenden Störungen der Empathiefähigkeit, die ihre Ursache meist in Gegenübertragungsverstrickungen der Analytikerin haben (vgl. Mertens, 1990, S. 70 ff.), ist das punktuelle Empathieversagen i.S. von „mismatching“ zwischen Analytikerin und Patient zu unterscheiden. Es entsteht durch die unvermeidbaren Mißverständnisse zwischen Analytiker und Patient, eben weil Empathie immer nur eine Annäherung an das Fremdseelische sein kann. Es ist das Verdienst der Selbstpsychologie, erkannt zu haben, daß dieses Empathieversagen, die Unterbrechung der Selbstobjekt-Übertragung, nicht nur unvermeidbar ist, sondern sogar entwicklungsfördernd sein kann, vorausgesetzt, sie wird vom Analytiker wahrgenommen, benannt und gemeinsam mit dem Patienten wieder „repariert“ („disruption and repair“, vgl. Beebe & Lachmann, 1994, s. auch Kap. B.2.2.4.2.). Denn dies vermittelt dem Patienten die Erfahrung, daß Störungen der Beziehung nicht Beziehungsabbruch bedeuten, sondern konstruktiv zu bewältigen sind.
In den bisherigen Ausführungen wurden zentrale „Essentials“ einer psychoanalytischen Behandlungstechnik umrissen und auf die besonderen Bedingungen der Therapie früh traumat i sierter Kinder bezogen. Dazu wurde zunächst der Begriff der gleichschwebenden Aufmerksamkeit definiert und darauf verwiesen, daß sich diese gleichschwebende Aufmerksamkeit der Analytikerin bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder v.a. auf die nonverbalen körpersprachlichen Inszenierungen der Kinder richten muß, durch welche diese Patienten ihre traumatischen Erfahrungen primär kommunizieren. Daraufhin wurden einige wichtige theoretische Veränderungen der für die psychoanalytische Behandlungsmethode zentralen Begriffe von Übertragung und Gegenübertragung und ihre behandlungtechnischen Implikationen während ihrer historischen Entwicklung nachgezeichnet sowie ihrer Anwendung bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder ein eigenes Kapitel gewidmet. Es wurde eine breite Palette von z.T. schwer erträglichen Affekten beschrieben (Angst, Ohnmacht, Wut, Ekel, Scham, Schuld), die in der Therapie zum Tragen kommen und zu typischen Übertragungs-Gegenübertragungspositionen (Täter-Opfer-Retter) führen. Typische „Fallen“ für die Analytikerin, die das Risiko von Therapieabbrüchen bergen, sind Überidentifikation bzw. Rückzug/Distanzierung, die nicht selten ihren Ursprung in einer Eigen-Übertragung der Analytikerin aufgrund eigener ungenügend bearbeiteter traumatischer Erfahrungen haben.
Schließlich wurden die für früh traumatisierte Kinder typischen Prozesse der projektiven Ide n tifikation in ihrer defensiven und kommunikativen Funktion und die damit verbundene therapeutische Haltung des Containing beschrieben. Die Analytikerin muß dabei nicht nur unerträgliche Affekte insbesondere im posttraumatischen Spiel aushalten, sondern sie stellt auch ganz konkrete „Container“ (abgegrenztes Therapiezimmer, Pappkarton für die Produktionen des Kindes) zur Verfügung. Containing bedeutet aber darüber hinaus für die entwicklungsorientierten Interventionen der Analytikerin im sozialen Feld (Kap. B.1.), die widersprüchlichen und inkonsistenten Phänomene, die sich im Kontakt mit den familiären Bezugspersonen sowie den professionellen Helfern manifestieren, zu containen. Abschließend wurden die grundlegenden psychotherapeutischen Haltungen des Holding und der Empathie und die damit verbundenen Probleme der Annäherung an das Fremdpsychische beschrieben. Bei früh traumatisierten Kindern vollzieht sich dieser Prozeß erneut über die Körper-Empathie.
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Im Folgenden sollen nun, aufbauend auf den genannten grundlegenden psychoanalytischen Orientierungen, spezifische Foki für die Behandlung früh traumatisierter Kinder beschrieben und mit kleinen Fallvignetten veranschaulicht werden. Diese Foki lassen sich aus den in Teil A dargestellten traumatheoretisch relevanten Befunden der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie ableiten.
Wie in Kap. A.3.2.2. ausgeführt, ist unter früh traumatisierten Kindern der Anteil an uns i cherer, v.a. desorganisierter Bindung im Vergleich zur Normalbevölkerung erheblich erhöht. Ziel einer entwicklungsorientierten Psychotherapie muß es deshalb sein, die Bindungsbedürfnisse des Kindes zu beantworten und zu versuchen, die Entwicklung einer sicheren Bindung zu fördern.
Es kann dabei nicht darum gehen, eine eigene „Bindungstherapie“ zu formulieren (zur Kontroverse um z.T. dubiose Formen der „attachment therapy“ vgl. APSAC Task Force, 2006). Slade (1999, zitiert nach Strauß & Schwark, 2007, S. 408) weist darauf hin, daß die Bindungstheorie klinische Arbeit nicht definiert, sondern lediglich informiert. Es gilt also, spezifische bindungstheoretische Orientierungen für die klinische Praxis zu geben und somit die Bindungstheorie für die psychoanalytische bzw. psychodynamische Arbeit mit früh traumatisierten Kindern fruchtbar zu machen.
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Den oft zitierten fünf Hauptaufgaben des bindungsorientierten Psychotherapeuten nach Bowlby (1995) zufolge
„ … geht es in der Therapie primär um Vertrauensbildung, welche gewissermaßen die Basis darstellt für eine Exploration von Beziehungen und damit eine Erkundung der Wirklichkeit. Die Vertrauensbildung kommt vor der Realitätsprüfung, vor der Übertragungsanalyse, vor der Entwicklung selbstreflexiver Fähigkeiten und schließlich vor konkreten Verhaltensänderungen.“ (Schauenburg & Strauß, 2002, S. 286) |
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Diese Feststellung klingt zunächst selbstverständlich, doch die klassisch-triebtheoretische Psychoanalyse neigt dazu, sie unterzubelichten. Denn sie definiert psychische Entwicklung und Strukturbildung bevorzugt über hohe Erregungszustände („Konflikte“, orale „Spannungen“, anale „Kämpfe“, ödipales „Drama“) und weniger über die niederen Spannungszustände alltäglicher, wiederholter harmonischer Beziehungserfahrung (Dornes, 2000, S. 25 ff.). Entsprechend fokussiert sie in der Behandlungstechnik weniger auf die Vermittlung von Sicherheit und Kontinuität durch positiv getönte Bindungs- und Beziehungserfahrung als auf konfrontierende Aufdeckung affektiv aufgeladener, spannungsreicher unbewußter Konflikte.
„Der Beginn eines Therapieprozesses kann generell als ein streßauslösender Faktor betrachtet werden, in dem das Bindungserhaltungssystem des Patienten aktiviert wird.“ (Hédervári, 1996, S. 228). Verfügt der Patient über ein sicheres oder zumindest ein org a nisiertes Bindungsmuster, kann er trotz dieses Stresses ein stabiles Arbeitsbündnis mit dem Analytiker schließen, auf dessen „sicherer Basis“ dann die Übertragungsbeziehung entfaltet und mittels aufdeckend-konfrontierender psychoanalytischer Behandlungstechnik bearbeitet werden kann.
Gerade früh traumatisierte Kinder mit ihren unsicheren Bindungen bringen jedoch diese günstigen Voraussetzungen für einen gelingenden psychoanalytischen Prozeß jedoch nur selten mit. Affektive Spannungen, die mit Konfliktaufdeckung verbunden sind, können sie wegen ihrer erhöhten Stressvulnerabilität kaum ertragen. Für diese Patienten ist deshalb die Anbahnung einer sicheren Bindung zum Therapeuten grundlegende Voraussetzung für spätere konfliktorientierte Behandlung. „Ohne sichere Basis, also ohne sichere therapeutische Bindung, ist … eine Bearbeitung von affektiv beladenen triebdynamischen Konflikten kaum möglich.“ (Brisch, 1999, S. 96).
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Versucht man nun, bindungstheoretische Orientierungen für eine psychodynamische Therapie früh traumatisierter Kinder zu formulieren, so kann man mit Brisch (1999) Bowlbys klinische Anweisungen für die kindertherapeutische Praxis wie folgt modifizieren:
Die Analytikerin muß also zuallererst sichere Basis sein. Dies zunächst auch im ganz konkret physischen Sinne, d.h. sie muß regelmäßig, verläßlich zu den vereinbarten Therapiezeiten anwesend sein. Absagen oder Verschiebungen von Stundenterminen sollten möglichst vermieden werden. Auch eingespielte Rituale eingehalten werden, angefangen von der individuellen Begrüßung an der Praxistür über die Bereitstellung bestimmter Objekte an immer gleichen Orten im Therapiezimmer, über feste Strukturen im zeitlichen Ablauf der Stunde (z.B. die obligatorische Runde „Schwarzer Peter“ am Stundenende) bis hin zur Verabschiedung, die als Trennungssituation einer besonders aufmerksamen und feinfühligen Handhabung bedarf (dazu weiter unten).
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Man mag einwenden, daß diese Empfehlung, auf Konstanz und Verläßlichkeit zu achten und einen sicheren Rahmen zu gewährleisten (Petersen, 1996; Zimmermann, 1997), zu den selbstverständlichen „Essentials“ jeder psychoanalytischen Arbeit gehört. Dieser sichere Rahmen wird in der klassisch-analytischen Literatur jedoch immer auch in seiner zeitlichen und räumlichen Begrenzung beschrieben. Der Rahmen repräsentiert zwar „die Mutter der Symbiose, aber auch die Mutter der Trennung und den triangulierenden Vater“ (Zimmermann et al., 2006, S. 50), womit der Separations- und Triangulierungskonflikt angesprochen ist. Klassisch-psychoanalytische Behandlungsempfehlungen laufen deshalb in Fällen der Rahmenirritation, etwa einer Terminverschiebung, auf Deutungen der Trennungsangst bzw. Trennungsaggression, also auf die Deutung der negativen Übertragung hinaus.
Genau diese Art von Deutungen gehen jedoch bei früh traumatisierten Kindern ins Leere. Die durch die Rahmenirritation ausgelösten Erregungszustände des Patienten werden nämlich meist nur somatosensorisch empfunden, da sie noch keine symbolische Repräsentation als Affekt erfahren haben (vgl. Kap. A.2.2.). Es geht also nicht um eine objektale verdrängte Aggression gegen die „böse verlassende Mutter“, sondern um einen unspezifischen, extrem bedrohlich erlebten Erregungzustand, der aus dem aktivierten Bindungssystem resultiert. Besonders bei desorganisiert gebundenen Kindern mit schwerwiegenden Traumatisierungen können derartige Rahmenirritationen traumatische Szenen triggern, die sich bis zu Kampf-Flucht-Mechanismen steigern oder in eine dissoziative Reaktion umschlagen (Perry et al., 1998).
Deshalb steht die psychodynamische Traumatherapie mit der Empfehlung, „die vertrauensvolle Patient-Therapeut-Beziehung als ‚secure base’…möglichst frei von negativen Übertragungseinflüssen zu halten bzw. aktiv zur zügigen Restitution einer positiven Übertragung beizutragen (Naumann-Lenzen, 2003, S. 607), im fundamentalen Gegensatz zur klassisch-psychoanalytischen Behandlungstechnik, die die Bearbeitung der negativen Übertragung zur Bedingung einer erfolgreichen Therapie macht (zum Problem der Deutung bei früh traumatisierten Kindern vgl. weiter unten Kap. B.2.2.5.).
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Ein weiteres Ziel bindungsorientierter psychodynamischer Kindertherapie ist die Bearbeitung bindungsrelevanter Themen wie Trennung, Verlust, Wiedervereinigung und Exploration im therapeutischen Spiel. Dabei obliegt es der bindungsorientierten Kinderanalytikerin, auf feinfühlige Weise „Bedingungen zu schaffen, damit der Patient seine ‚inneren Arbeitsmodelle’ von Selbst und seinen Bindungfiguren aufspürt und neu strukturiert.“ (Hédervári, 1996, S. 232).
Nicht selten werden die traumatischen Bindungserfahrungen des Patienten im posttraumatischen Spiel dargestellt. Das sind dann eruptive, gewalttätige Momente, in denen sich die Täter-Opfer-Beziehung reinzszeniert, wenn z.B. das Kind plötzlich auf die Babypuppe einzuschlagen beginnt. Anders als bei reif neurotischen Kindern sind derlei Gewaltausbrüche nicht mit reinem Containing und verbalisierender Deutung der unerträglichen Gefühle von Wut und Angst zu beantworten. Stattdessen muß die Analytikerin grenzsetzend, strukturierend und lösungsorientiert intervenieren, um eine Retraumatisierung des Patienten zu verhindern (zum Umgang mit posttraumatischen Spiel vgl. Kap. B.2.3.2.4.)
Oft sind früh traumatisierte Kinder anfangs zu symbolischem, relationalem Spiel mit der Analytikerin noch gar nicht in der Lage (Streeck-Fischer, 1997, 1999). Sie verbringen Stunden damit, das Therapiezimmer wie beiläufig, lust- und ziellos zu erkunden, oft auch nur apathisch herumzusitzen oder hypermotorisch durch den Raum zu „rasen“, scheinbar ohne die Analytikerin zu beachten. In diesen Szenen geht es um die prekäre Balance zwischen Bindung und Exploration. Die Analytikerin muß hier zunächst versuchen, das Bindungsmuster des Patienten zu eruieren.
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Ein vermeidend gebundenes Kind stellt „hohe Anforderungen an den Therapeuten, weil er einerseits auf abgewehrte Bindungsbedürfnisse angemessen eingehen und sie vorsichtig interpretieren muß, andererseits das störungsbedingte Distanzierungsbedürfnis des Patienten berücksichtigen sollte.“ (Brisch, 1999, S. 103). Aus klassisch-psychoanalytischer Sicht, die den Schwerpunkt auf die abgewehrte negative Übertragung des Patienten legt (s.o.), ist man geneigt, Schweigen, Körperabwendung und Selbstbeschäftigung des kindlichen Patienten als „demonstratives Ignorieren“ und somit als versteckte Aggression zu interpretieren. Es gilt jedoch, dieses Verhalten des Patienten als Bindungsvermeidung zu verstehen, das aus der Not, aus der Erfahrung chronischer Zurückweisung durch die Bindungsperson entwickelt wurde (vgl. Kap. A.3.2.1.1.). Sich hier als Reaktion auf das abweisende Verhalten des Patienten in die Rolle der abstinenten Analytikerin zurückzuziehen, wäre ein Fehler, weil damit die pathogene Erwartung des Patienten, zurückgewiesen zu werden, bestätigt würde (Köhler, 1999, S. 117). Stattdessen sollte die Analytikerin den vermeidend gebundenen Patienten aufmerksam beobachten, um seine versteckten Signale feinfühlig zu beantworten, d.h. „richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen darauf zu reagieren.“ (Hédervári, 1996, S. 233). Die Betonung liegt auf angemessen, denn bei vermeidend gebundenen Patienten besteht die Gefahr, den Patienten in der komplementären Gegenübertragung der „guten Mutter“ kompensatorisch durch zu frühe körpersprachliche Annäherung oder gar verbale Deutung emotional zu „überfallen“. Die Analytikerin sollte aufmerksam auf das Körper- und Blickverhalten des Patienten achten und es in der richtigen „Dosis“ beantworten, z.B. durch analoge Körperabwendung, gedämpfte vokale und mimische Spiegelung. Es kann helfen, sich den chronischen Stress dieser Kinder vorzustellen, der sie zwingt, sich durch Blick- und Körperabwendung selbstregulatorisch zu beruhigen. Topel (2004) konnte anhand von Video-Aufzeichnungen nachweisen, daß vermeidend gebundene Kinder, die die Therapeutin durch Körperabwendung und Blickvermeidung zu ignorieren scheinen, sich dennoch in kurzen Abständen mit blitzschnellen Seitenblicken auf die Therapeutin vergewissern („checking“), ob von dieser „Gefahr“ droht (vgl. dazu auch Kap. B.2.2.4.2.).
Anders verhalten sich ambivalent gebundene Kinder. Sie begegnen der Analytikerin meist sehr bedürftig, heftig fordernd, mit Tendenz zur spontanen Idealisierung, die blitzschnell in entwertende Aggression umschlagen kann. Auch hier besteht wieder die Gefahr, die Aggression des Kindes im klassisch-psychoanalytischen Sinne als negative Übertragung fehlzudeuten. Stattdessen sollte man sich bewußt sein, daß es sich bei dieser Aggression um eine adaptive Lösung handelt: „Die Wut dient als Protest und Mittel, die Bindungsperson daran zu hindern, ihre drohende Absicht, nämlich wegzugehen, auszuführen. Somit kann aggressives Verhalten Ausdruck eines Bindungswunsches sein.“ (Köhler, 1999, S. 121). Aufgabe der Analytikerin ist es deshalb, im Gegensatz zu der in ihrem Bindungsverhalten inkonsistenten Patienten-Mutter dem Patienten die korrigierende Erfahrung eines verläßlichen und vorhersehbaren Bindungsverhaltens anzubieten. Daneben sollte auch hier „ein weiteres Augenmerk auf der Klarheit und rahmensetzenden Struktur des Settings bestehen.“ (Brisch, 1999, S. 103), denn ambivalent gebundene Kinder reagieren– anders als die vermeidend gebundenen - auf Irritationen des Rahmens leicht mit affektiven Übererregungszuständen. Während ambivalent gebundene Patienten deshalb affektiv eher „herunterzuregulieren“ sind, geht es bei vermeidend gebundenen Patienten darum, deren chronische „Herunterregulierung“ von Affekten zu lockern und gemeinsame Momente von „heightened affect“ (Beebe & Lachmann, 1994) herzustellen (zur Affektregulierung vgl.Kap. B.2.2.4.2.).
Die Behandlung desorganisiert gebundener Kinder ist besonders schwierig. Sie neigen, wie beschrieben, zu bizarren und widersprüchlichen Verhaltensweisen, die Ausdruck des intermittierenden Zusammenbruchs ihrer Bindungsstrategie sind. Daneben kann es auch zu dissoziativen Absencen kommen, die durch traumatische Reize getriggert werden. Diese kurzfristigen Trance-Zustände früh traumatisierter Kinder sollten nicht klassisch-psychoanalytisch als Abwehr gedeutet werden.
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Durch die frühe Beziehungstraumatisierung konnten sich bei diesen Kindern keine konsistenten, geordneten Beziehungsrepräsentanzen bilden. „Das paradoxe angsterfüllt-angsterre-gende Verhalten der Bindungsperson hat … ein Ausbleiben der Hierarchisierung von Repräsenstanzen zur Folge … es bilden sich multiple, unzusammenhängende und unvereinbare Modelle vom Selbst und seiner Bindungsperson.“ (Köhler, 1999, S. 130). Behandlungstechnisch ist es deshalb Aufgabe der Kinderanalytikerin, Ordnung in den „Repräsentanzensalat“ des Patienten (Köhler) zu bringen, weshalb sich ein ordnendes, strukturierendes Vorgehen empfiehlt. Ungebremste Nondirektivität im Spiel ist bei desorganisiert gebundenen Patienten kontraindiziert. Ihre assoziativen Sprünge, Spielszenenabbrüche und Pausen sind nicht etwa Ausdruck von Abwehr, die auf verpönte unbewußte Inhalte hinweisen, sondern dissoziative Brüche, die nur in einem langwierigen, haltenden Prozeß „gekittet“ werden können (Köhler, 1999, S. 135). Auch hier unterscheidet sich eine bindungsorientierte Behandlungstechnik von der klassisch-psychoanalytischen.
Eine weitere Gefahr bei der Behandlung desorganisiert gebundener Kinder liegt in der Fehldeutung des in Kap. A.3.2.2.3. beschriebenen kontrollierenden Verhaltens, das allmählich im Vorschulalter an die Stelle des früheren bizarren Verhaltens tritt. Es wäre ein fundamentales „mismatching“, würde man dieses Dominanzgebaren im klassisch-psychoanalytischen Sinne als pathologischen Narzißmus i.S. „omnipotenter Kontrolle des Objekts“ interpretieren. Tatsächlich handelt es sich dabei um den Versuch des Kindes, das „approach-avoidance dilemma“ (Holmes, 2004) durch Kontrolle der Bindungsperson zu lösen. Zur Beruhigung und Stabilisierung kann es hilfreich sein, dem Patienten sein Kontrollverhalten positiv zu validieren und ihm die Sicherheit zu vermitteln, daß er hier in der Therapie an einem „sicheren Ort“ sei. Dies kann die Analytikerin auch dadurch verstärken, daß sie dem Patienten vorschlägt, sich im Therapiezimmer aus Sesseln und Polsterelementen ganz konkret einen „sicheren Ort“ als „Höhle“, „Burg“ o.ä. zu bauen (vgl. auch Weinberg, 2005). Von diesem „Sicheren Ort“ (Reddemann, 2001) aus kann dann im weiteren Therapieverlauf mit einer kontrollierten Annäherung an traumatische Szenen begonnen werden (s. Kap. B.2.3.).
Ein zentrales bindungsrelevantes Thema sind Trennungen - am Stundenende, vor den Ferien, bei Erkrankungen, bei Beendigung der Therapie. Durch diese Trennungen wird das Bindungssystem aktiviert und das pathogene, d.h. unsichere bzw. desorganisierte Bindungsmuster wieder virulent. Hier muß mit dem kindlichen Patienten sehr feinfühlig umgegangen werden, da in diesen Trennungssituationen die Gefahr erneuter Traumatisierung besteht. Diese Gefahr wird dadurch verringert, daß die Trennungen rechtzeitig und wiederholt angekündigt werden, damit sich das Kind innerlich darauf einstellen kann, und daß die Analytikerin entwicklungsadäquate Übergangs-Hilfen anbietet.
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Dies kann am Stundenende z.B. ein zeitlich strukturiertes Ritual sein, an das die Analytikerin auch erinnert (z.B. die bereits erwähnte obligatorische Runde „Schwarzer Peter“, mit der die Stunde ausklingt). Auch für den Abschied an der Praxistür sollte man sich reichlich Zeit nehmen. In der Elternarbeit muß darauf hingearbeitet werden, daß bei Stundenschluß die Bezugsperson rechtzeitig da ist. Diese für traumatisierte Mütter aus Hoch-Risiko-Familien keineswegs selbstverständliche Zuverlässigkeit ist wichtig, damit das Kind die Erfahrung macht, daß die Trennung von der Therapeutin auf einer neuen „sicheren Basis“ leichter zu bewältigen ist.
Ferienunterbrechungen müssen ebenfalls rechtzeitig angekündigt werden. Vor allem die langen Sommerferien überfordern früh traumatisierte Kinder oft, wogegen „Übergangsobjekte“ (Winnicott) helfen können.
„In der Kindertherapie können Spielsachen aus dem therapeutischen Raum, die in Trennungssituationen von den Kindern mitgenommen werden, als hilfreiche Übergangsobjekte … eingesetzt werden, die symbolisch für den Therapeuten und die therapeutische Beziehung stehen. Manche Kinder bitten um eine Postkarte oder auch um regelmäßige Postkarten als ‚Beweis’, daß der Therapeut als Bindungsperson durch die Trennung nicht verlorengegangen ist.“ (Brisch, 1999, S. 102). |
Wichtig ist, den Bezugspersonen die Bedeutung des „Übergangsobjekts“ zu erklären und zu vereinbaren, daß sie es über die Ferien sorgsam hüten. Damit wird nicht nur bezweckt, daß der ausgeliehene Gegenstand wieder in die Praxis zurückkommt, sondern mehr noch, daß das Kind die Erfahrung macht, wie liebevoll und achtsam seine Bezugspersonen mit ihm wichtigen und emotional bedeutsamen Gegenständen umgehen.
Ein derartiger Umgang mit Trennungen unterscheidet sich deutlich von der klassisch- psychoanalytischen Behandlungstechnik. Deren Lesart nach geht es bei Stundenende und Ferientrennung wieder darum, die Trennungsaggression zu deuten. Mitgeben von Übergangsobjekten würde entschieden abgelehnt und als Agieren des Analytikers, der sich von seinem Patienten nicht trennen kann, interpretiert.
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Um wirkliche Trennungsaggression handelt es sich aber oft bei der Wiedervereinigung nach der Ferienunterbrechung. Hier entlädt sich die aufgestaute Wut auf die Analytikerin, die das Therapie-Kind „so lange verlassen“ hat. Es ist hilfreich, die Aggression des Kindes körpernah zu beantworten, zum einen „haltend“, eingrenzend (nicht zuletzt, damit es zu keiner realen Verletzung der Analytikerin kommt), zum anderen i.S. von Affektregulation. Dies kann als spielerisches rough and tumble play geschehen, um dem Kind die Möglichkeit zu geben, seine aggressive Affektüberflutung in ein symbolisches „Als-ob-Spiel“, z.B. einen „Ritterkampf“, zu überführen. Dabei kann dann auch die positive Valenz der Körpererregung (z.B. die Wiedersehensfreude) zum Tragen kommen.
Auch am Therapieende sollte bei früh traumatisierten Kindern unter bindungstheoretischer Perspektive anders verfahren werden als nach klassischer Behandlungstechnik. Diese sieht vor, daß die Trennung vom Analytiker endgültig sein muß, weil andernfalls die Übertragung nicht aufgelöst, die Trennungsaggression vermieden würde sowie Loslösung und Individuation unvollendet blieben. Aus bindungstheoretischer Sicht geht es hingegen darum, dem Patienten die Sicherheit zu vermitteln, daß die physische Trennung „nicht gleichbedeutend mit dem Verlust der ‚sicheren Basis’ (ist). Die Möglichkeit, bei erneuter ‚Not und Angst’ zu einem späteren Zeitpunkt auf den Therapeuten zurückgreifen zu können, bleibt bestehen.“(Brisch, 1999, S. 98). Der Psychoanalytiker Brisch resumiert, daß die Bindungstheorie auch in diesem Punkt seinen „Blick auf den Patienten“ verändert hat.
„Wenn es tatsächlich gelang, eine ‚sichere Basis’ mit den Patienten in der therapeutischen Beziehung herzustellen, dann sehe ich es heute nicht mehr als ‚Behandlungsfehler’ oder als ‚Zeichen unzureichender Bearbeitung’ an, wenn sich Patienten später in Zeiten der Not wieder hilfesuchend an mich wenden.“ (ebd., S. 265 f.) |
Mit der Trennung, die immer vom Patienten ausgehen sollte, damit er sich durch eine von der Analytikerin angestoßene Trennung nicht zurückgewiesen fühlt, hängen auch die E x plorationsbedürfnisse des Patienten zusammen. Jede Exploration ist eine kleine Trennung, und der Patient sollte erleben, daß sich die Analytikerin wie eine „good enough mother“ an den Explorationen gemeinsam mit ihm freut, anstatt ihn wie eine bindungsunsichere Mutter zu „klammern“. Exploration ist nämlich nur auf einer „sicheren Basis“ möglich. Das gilt nicht nur bei Spiel- und Erkundungshandlungen im Therapiezimmer, sondern auch im „wirklichen“ Leben. Diese Haltung der Analytikerin hat zur Folge, daß z.B. Absagen von Therapiestunden wegen einer Kindergeburtstags-Einladung oder eines Hort-Ausflugs nicht als Widerstand gegen die Therapie gesehen werden, der umgehend zu deuten ist. Stattdessen sollte die Analytikerin prüfen, ob es sich nicht um eine neugierig-angstvolle Exkursion in „unbekanntes Gefilde“ handelt, die zu begrüßen und unterstützen ist.
„Der Kindertherapeut muß …nicht nur mit dem Kind, sondern auch mit den Eltern eine positive therapeutische Bindung im Sinne einer sicheren Basis eingehen.“ (Brisch, 1999, S. 102). Dies gilt ganz besonders für Eltern früh traumatisierter Kinder aus Hoch-Risiko-Milieus, die i.d.R. selbst traumatisiert und bedürftig nach „Beelterung“ sind. Besonders alleinerziehende Mütter, die ihre Kinder als Partnerersatz parentifizieren, reagieren häufig mit Verlassenheitsangst, wenn sie spüren, daß sich das Kind an die Analytikerin bindet. Statt dieser Mutter, wie es die Klassiker, besonders die Kleinianer täten, ihre Rivalität und ihren Neid zu deuten, ist es unter bindungstheoretischer Sicht angezeigt, sich auch ihr als „sichere Basis“ zur Verfügung zu stellen.
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Dazu bietet sich die Position der „Gute-Großmutter-Übertragung“ an, die Stern (1998 a) in der Mutter-Säuglings-Therapie empfiehlt. Die bedürftige Mutter braucht eine „unterstützende Matrix“, die sie unbewußt in der Analytikerin suchen wird, weil durch die Therapieaufnahme auch ihr eigenes Bindungssystem und die damit verbundenen Erfahrungen unzureichender Bemutterung aktiviert werden. Durch die Therapieaufnahme ihres Kindes ergibt sich auch für sie die Chance einer erneuten inneren Auseinandersetzung mit den eigenen Mutterbildern. Damit aber dieser Prozeß gelingen kann, muß die Mutter „spüren, daß sie Halt und Unterstützung findet, daß sie nicht allein ist, daß sie geschätzt und geachtet wird, daß sie sich auf Anleitung und Hilfe verlassen kann ...“ (Stern, 1998 a, S. 217).
Aus der Bindungsforschung wissen wir, daß die Qualität der Bindung der schwangeren Mutter an ihre eigene Mutter der zuverlässigste Prädiktor für die künftige Bindung ihres ungeborenen Kindes ist (vgl. Kap. A.3.2.1.). Es liegt deshalb nahe, der für ihr Kind therapeutische Hilfe suchenden Mutter durch eine korrigierende emotionale Erfahrung mit der Analytikerin zu einer verbesserten Bindung zu verhelfen. Dadurch kann sich auch ihr Fürsorgeverhalten dem Kind gegenüber wesentlich verbessern.
„In der Übertragungssituation wird dieses Suchen und Finden intensiviert und auf den Therapeuten konzentriert. …Die Gefahr …besteht in der Unfähigkeit des Therapeuten, auf diese Wünsche und Bedürfnisse einzugehen – entweder aus persönlichen Gründen oder weil er an einem therapeutischen Rahmen festhält, der zwar für die Psychoneurose, nicht aber für die Mutterschaftskonstellation geeignet ist.“ (Stern, 1998 a, S. 227) |
Auch hier, in Bezug auf die Elternarbeit, besteht aus bindungstheoretischer Sicht eine deutliche Differenz zur klassischen konfliktorientierten psychanalytischen Behandlungstechnik. Eine supportive, die Gute-Großmutter-Übertragung nutzende therapeutische Haltung der Analytikerin schließt nicht aus, daß zu einem späteren Zeitpunkt der Elternarbeit, wenn das therapeutische Bündnis gefestigt ist, auch die negativen Übertragungsanteile von Neid, Wut, und Entwertung angesprochen und durchgearbeitet werden müssen. Zu Beginn der Therapie sollte jedoch auch für die Eltern zunächst eine sichere Basis geschaffen werden.
Ohne diese Voraussetzung kann auch kein verläßliches Arbeitsbündnis für die Einzeltherapie des Kindes zustande kommen (zur Elternarbeit vgl. auch Kap. B.2.2.5.4.).
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Die achtjährige Sophie wird mir wegen Weglaufens und „Streunens“ vorgestellt. Sie ve r schwinde oft spurlos und würde erst nach Stunden von der Mutter und deren Partner „i r gendwo in der Stadt“ gefunden, was i.d.R. heftige Aggressionen aller Beteiligten und z.T. ha r sche Strafen für Sophie inclusive Schlägen nach sich ziehe. Sie bettle auch Passanten um Süßigkeiten und Geld an, lüge und stehle. Mutter und Partner sind „mit den Nerven am Ende“ und denken an Unterbringung in einem Heim. Im Haushalt leben noch fünfjä h rige Zwi l linge, die, ebenso wie Sophie, von einem anderen Vater stammen, sowie ein sechs Monate alter Säugling, den die Mutter gemeinsam mit ihrem jetzigen Partner hat. Anamnestisch b e deutsam sind eine unbehandelte postpartale Depression der Mutter, die erklärt, sie habe „bis heute keinen Draht zu Sophie“, sowie multiple Traumatisierungen in der Biographie von Mutter und Partner (Heimkindheit, frühe Mißhandlung durch alkoho l kranke Stiefeltern, Gefän g nishaft).
Sophie kommt anfänglich mißtrauisch bis „betont gelangweilt“. Sie signalisiert weitgehendes Desinteresse an meiner Person, interessiert sich jedoch für die Spielsachen, die sie intensiv exploriert. Durch Körperabwendung und Blickvermeidung hält sie mich demonstrativ „auf Abstand“. Obwohl es mich in der Gegenübertragung zunächst langweilt, dann zunehmend ärgert, so konstant „ignoriert“ zu werden, versuche ich diese Gefühle zu „containen“ und halte mich im Hintergrund, warte auf Signale. Einer von Sophies Lieblingsorten wird bald die Hängematte, in der sie gerne heftig schaukelt. Wenn ich zum Stundenbeginn die Tür öffne, saust sie, ohne mich anzuschauen, an mir vorbei, wirft sich in die Matte und verbringt dort viel Zeit träumend-schaukelnd, ganz mit sich selbst beschäftigt. Wenn ich Sophie das Stundenende ankündige, ignoriert sie dies, wie die meisten meiner Äußerungen. Wenn dann die Stunde „geschlagen“ hat, verläßt sie wortlos das Zimmer, ohne sich zu verabschieden, läßt jedesmal die Praxistür hinter sich offen. Abschiedsrituale, die ich vorsichtig zu etablieren beginne (Händeschütteln etc.) läßt sie widerwillig über sich ergehen, ohne mich dabei anzuschauen. Langsam paart sich dieses Verhalten auch mit offen aggressivem Agieren. So reißt sie vor dem Verlassen des Raumes noch mal schnell im Vorbeigehen „versehentlich“ einen Gegenstand aus dem Regal oder malt mit Kreide ein großes „Krikelkrakel“ an die Tafel, in das sich nach und nach kaum entzifferbare „Ausdrücke“ einschleichen („blöd“, „Arsch“ etc.).
In der Gegenübertragung erlebe ich sehr viel Ambivalenz, Wut und depressiv-apathische Leere. Lange Zeit zweifle ich, ob es mir je gelingen wird, zu diesem Mädchen in Kontakt zu kommen. Wenn ich Sophie hin und wieder ihre Trennungsaggression deute, quittiert sie dies mit einem trotzigen „Nö!“. So „containe“ ich geduldig ihre Ambitendenz und spüre, wie sie versucht, durch demonstrative „Autarkie“ die befürchtete Zurückweisung ihrer Bindungsbedürfnisse zu vermeiden bzw. durch unterschwellige Aggression die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson zu sichern. Ihr Bindungsmuster erscheint mir eine Mischung aus vermeidender (A-Typ) und ambivalenter Bindung (C-Typ). Desorganisierte bizarre „Einsprengsel“ (D-Typ) tauchen auf, als ich einmal vergessen habe, vor ihrer Stunde die Hängematte einzuhängen, so daß sie, als sie ins Zimmer geschossen kommt, einen Moment lang vor dem „Nichts“ steht. Sie hält die Hände vors Gesicht und dreht sich ein paar Sekunden wie taumelnd im Kreise.
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Da die Hängematte ihr bevorzugter Ort geworden ist, setzte ich mich dort, wenn auch in gebührendem Abstand, in einen Sessel und beginne mich nonverbal-vokal auf ihre Schaukelbewegungen „einzustimmen“. Zunächst reagiert sie darauf nicht, doch allmählich entsteht ein kreuzmodales „affect attunement“, bei dem sich ihre Schaukelbewegungen mit meinen Vokalisierungen mehr und mehr zu einem gemeinsamen „Tanz“ mit gemeinsamen affektiven Höhepunkten synchronisieren. Sophie beginnt nun vorsichtig Blickkontakt aufzunehmen. Bei abgewandtem Gesicht wirft sie kurze Seitenblicke zu mir und wendet den Blick sofort wieder ab, woraus sich ein verhaltenes kleinkindhaftes Guck-Guck-Spiel ergibt. Allerdings bin ich dabei stets in Gefahr, im „attunement“ zu weit zu gehen und die affektive „Dosis“ zu überziehen. Dadurch komme ich ihr schnell zu nah, sie streckt mir abrupt die Zunge heraus, bricht das Spiel ab und zieht sich wieder in die Hängematte zurück. Wenn ich dann jedoch geduldig warte, „kommt“ sie nach einer Weile wieder, und das Spiel beginnt von neuem. In der Gegenübertragung spüre ich zunehmende Zuversicht, doch noch einen Kontakt zu ihr herstellen zu können.
Unser nonverbaler Dialog setzt sich fort, als sie beginnt, sich zwischen meinem Sessel und der Hängematte auf dem Boden aus einer Turnmatte, Decken und Kissen eine Art „Nest“ zu bauen, in das sie aus der schwingenden Hängematte hineinspringt. Dabei spielt sie ein wenig „mit dem Feuer“, in dem sie stets in Gefahr ist, daß „Nest“ zu verfehlen und unsanft auf dem harten Boden zu landen, so daß ich oft im letzten Moment, wenn sie abspringt, das „Nest“ ein wenig in ihre Richtung verschieben muß, um sie heil „aufzufangen“.
Eine derartige Beantwortung ihrer Bindungsbedürfnisse führt schnell zu einer heftigen regre s siven Gegenbewegung, die sich in kaum verständlichem „Babytalk“ und dem Wunsch nach „Fütterung“ ausdrückt. Läßt sich dies im Rahmen der Therapie noch als „Mutter-Kind-Spiele“ in eine symbolisierte Form bringen, befremden ihre plötzlichen „Abstürze in Babytalk“ sowohl in der Familie als auch in der Schule. Hier muß ich in den Elterngesprächen und im telefonischen Kontakt mit der Lehrerin um Verständnis werben. Der Lehrerin versuche ich nahezubringen, den „Babytalk“ nicht als Provokation mißzuverstehen, sondern als nicht altersgemäßen Ausdruck von Bindungsbedürfnissen.
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Mehr und mehr versuche ich in den Therapiestunden, die Balance zwischen Regression und Progression auszutarieren, indem ich das „Nest-Sprung-Spiel“ zu einer eher „leistungsorientierten“ sportlichen Aktivität umzufunktionieren versuche. Das „Nest“ wird ein wenig weiter weggeschoben, und es soll nun darum gehen, möglichst weit zu springen. Die regressive Komponente wird beibehalten, indem ich nach wie vor Sophies „Erfolge“ wie bei einem Kleinkind bewundernd und anspornend begleite. Das Nest verwandelt sich im weiteren Verlauf in ein Schiff, mit dem wir, nun gemeinsam „an Bord“, auf dem Meer segeln und gefährliche Abenteuer bestehen. Sophie entfaltet ihre progressiven Ich-Kräfte, indem sie Piraten überlistet und deren Schätze erbeutet. Der „Baby-Talk“ in Familie und Schule läßt deutlich nach, auch läuft sie nun nicht mehr von Zuhause weg.
Weniger gut gelingt es mir in der Elternarbeit, die Feinfühligkeit für Sophies Bindungsbedürfnisse zu fördern. Die Mutter, als ehemaliges Heimkind selbst extrem depriviert, wird durch Sophies „Babytalk“ offenbar so stark „getriggert“, daß sie nur begrenzt über einen mentalen Raum für die Bedürfnisse ihrer Tochter verfügt. Eine Bearbeitung ihrer eigenen traumatischen Kindheit ist nur in Ansätzen möglich, da sie durch Alltagsprobleme (Finanznot, Kinderversorgung, Beziehungsprobleme) vollständig absorbiert wird. An diesen inneren und äußeren Belastungen der Mutter scheitert auch mein Versuch, Sophie trotz der relativ kurzen Weges zur Praxis persönlich von der Therapie abholen zu lassen, um die noch immer problematischen Stundenenden bindungsfreundlicher zu gestalten. Es kann lediglich ein alle zwei Wochen stattfindender gemeinsamer Mama-Sophie-Tag (an denen Mutter und Kind ohne die Geschwister etwas zusammen unternehmen) sowie ein wenig mehr bindungsorientierte Alltagsstruktur für Sophie vereinbart werden, ein gemeinsames Frühstück und eine „Kuschelzeit“ vor dem abendlichen Ins-Bett-Gehen. Inwieweit diese Rituale nicht doch immer wieder dem Alltagsstress mit vier Kindern und unzuverlässigem Partner zum Opfer fallen, vermag ich nicht zu sagen.
Nachdem der Partner der Mutter (Sophies leiblicher Vater hat sich schon in der Schwangerschaft „verabschiedet“) ebenfalls emotional nur wenig Präsenz und Verläßlichkeit bieten kann, suche ich nach alternativen Bindungsfiguren im sozialen Umfeld. Die Mutter kann schließlich in Zusammenarbeit mit der Bezirkssozialarbeiterin Sophie in einer heilpädagogischen Tagesstätte unterbringen, in der nicht nur die Hausaufgabenbetreuung (die bis dato regelmäßig zu häuslichen Eskalationen führte) verläßlich organisiert wird, sondern auch eine Bezugserzieherin sich zu einer wichtigen Bindungsfigur für Sophie entwickelt. Eine weitere wichtige (väterliche) Bindungsperson wird bald darauf der Leiter einer Pfadfindergruppe, in die Sophie voller Begeisterung geht. Mit beiden Sozialpädagogen telefoniere ich mit Erlaubnis und Wissen der Mutter regelmäßig, um mich auszutauschen und gemeinsame Orientierungen zu entwickeln.
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In der Therapie gestalten sich nach wie vor die Trennungen problematisch. So sind v.a. die Stundenenden ein Problem. Hat Sophie sie anfänglich (in „vermeidender“ Bindung) verleugnet, kommt anschließend mehr und mehr die „ambivalente“ Bindung zum Tragen. Es reicht nicht, daß ich das Stundenende in Abständen von 15, 10 und 5 Minuten ankündige. Jedesmal zögert Sophie das Ende heraus, verstrickt sich dabei mit mir (die ich unter Zeitdruck gerate, da ich das nächste Therapiekind begrüßen muß etc.) in aversive Zirkel, die den affektiven Dialog entgleisen lassen und die positive Bindungserfahrung der Spielstunde sabotieren. So etablieren wir schließlich einen genau geregelten Ablauf, der eine vorhersehbare Struktur und gleichzeitig symbolisierte Ausdrucksmöglichkeiten für regressive Wünsche und Trennungsaggression bietet: zehn Minuten vor Schluß spielen wir eine obligatorische Runde „Schwarzer Peter“, wobei ich mich jedesmal, wenn ich den „Schwarzen Peter“ ziehe, entsprechend „markiert“-dramatisch „ärgere“ (mich fürchterlich aufrege, in die Tischkante beiße etc.), was sie mit diebischer Freud quittiert. In einer späteren Phase etablieren wir als Abschiedsritual ein „Schule-Spiel“. Sie darf mir beim Hinausgehen „Böse Frau Volk !“ riesengroß an die Tafel malen, worüber ich mich im Spiel als die „Frau Lehrerin“ wieder markiert-dramatisch „aufrege“ und ihr, um sie zu „bestrafen“, hinterherjage (wobei sie mir natürlich jedesmal „entkommt“). In einer weiteren Phase, als sich die aggressive Konnotation etwas legt und stattdessen das unmittelbare Bindungsbedürfnis als Enttäuschung spürbar wird, können Übergangsobjekte Brücken bauen. Anders als Sophie wünscht, gebe ich ihr zwar keine Spielsachen aus der Praxis mit, doch darüber helfen „Surrogate“ hinweg, die gleichzeitig die Symbolisierungsfähigkeit fördern: So male ich ihr bei Stundenende auf kleine Zettel ein schnelles Bildchen, das uns beide bei der zuletzt gespielten Szene darstellen soll. Sie trägt es zufrieden nach Hause.
Eine entsprechende Situation ergibt sich vor den Ferientrennungen. Hier fällt Sophie wieder in das alte Muster der wortlosen Verabschiedung mit Zungerausstrecken zurück. Hilft bei den „kleinen“ Ferien (Ostern, Pfingsten) noch ein Polaroid-Foto als Übergangs-Objekt, auf dem ich Sophie bei ihrem Lieblingsspiel ablichte, sind v.a. die „großen“ Sommerferien ein „großes“ Problem, weil die „immer so langweilig“ sind. Gemeinsam mit der Mutter suchen wir nach Lösungen. Ihr gelingt es, ihren Bruder, der in der Nähe auf dem Land wohnt, dazu zu bewegen, Sophie eine Woche lang zu sich auf „Kurzurlaub beim Onkel“ zu nehmen. Außerdem schafft es die Mutter, Sophie bei einigen kostenlosen Aktivitäten des städtischen Ferienprogramms anzumelden. Auf diese Weise kann „Trennung“ für Sophie nicht nur als Verlust und Vernachlässigung, sondern auch als „Vorfreude auf neue Abenteuer“ erlebbar werden. In der letzten Stunde vor den Ferien malen wir dann gemeinsam auf einer langen Papierrolle entlang eines Zeitstrahls (mit Wochen- und Tageseinteilung) den Verlauf der Ferien. Während Sophie auf der einen Seite des Zeitstrahls ihre geplanten Aktivitäten malt (Schwimmbad, Onkel-Besuch etc.), male ich auf der anderen Seite des Zeitstrahls (in „gefilterter“ Weise) meine geplanten Urlaubs-Aktivitäten als kleine Bildchen. Hin und wieder gibt es in Form von Gedanken“blasen“ gegenseitige „Besuche“ von der einen zur anderen Seite des Zeitstrahls. Am Ende der Stunde nimmt Sophie die Rolle unter den Arm, verabschiedet sich von mir, bleibt dann aber im Foyer der Praxis stehen. „Ich les dir noch was vor!“ meint sie geheimnisvoll. „Ich bin nämlich gut im Lesen!“ Dann liest sie laut meinen Anschlag auf dem Schwarzen Brett vor, der über die Schließung der Praxis für die Ferienzeit mit den genauen Daten informiert. Beim letzten Satz: „Am Montag, dem 15. September, geht es dann wie gewohnt weiter!“ schaut sie mich an und lächelt. Ich bin sehr gerührt.
Diskussion
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In der beschriebenen Fallvignette habe ich die psychodynamischen Prozesse eher unterbelichtet und den Fokus stattdessen auf die bindungsorientierten Interventionen gelegt. Wie weiter oben erwähnt, steht Bindung nicht im Gegensatz zu Psychodynamik, sondern ist ein von der Entfaltung der Psychodynamik unabhängiges Hintergrundgeschehen, das der Behandlerin eine spezifische Orientierung für die klinische Praxis bietet. Mir ist durchaus bewußt, daß man den Fall auch psychodynamisch „lesen“ könnte. So wäre das anfängliche „Ignorieren“ meiner Person durch die Patientin auf deren biographischem Hintergrund (mütterliche postpartale Depression, frühe Vernachlässigung, mögliche Bevorzugung der nachfolgenden Geschwister) als Abwehr einer tiefsitzenden negativen Mutter-Übertragung zu verstehen. Nachdem die Patientin meine Containing-Fähigkeiten ausgetestet hatte, könnte sich diese negative Übertragung in den aggressiv aufgeladenen Stundenenden entfaltet haben, dann zusätzlich angefacht durch das Erscheinen des nächsten Therapiekindes, das die für die Patientin biographisch bedeutsame Geschwisterrivalität aktiviert. Ebenso liegt es nahe, die regressiven „Abstürze“ der Patientin in der Übertragung wie im familiären und schulischen Umfeld mit dem neuen Geschwisterchen in Verbindung zu bringen, das von der Mutter naturgemäß mehr Zuwendung erhält als Sophie, die Älteste. Schließlich könnte man auch die Symptomatik des Weglaufens als klassische Kompromißbildung zwischen der Wut auf die Mutter (sie zurückweisen, ihr Angst einjagen) und der Sehnsucht nach ihrer Liebe (Weglaufen als „Fang-mich/Such-mich“-Spiel) interpretieren.
Dennoch glaube ich, daß diese Lesart das Strukturniveau der Patientin tendenziell überschätzt. Und an dieser Differenz scheidet sich dann auch eine eher klassisch-psychoanaly-tische Behandlungstechnik (die auf die Deutung der negativen Übertragung fokussieren würde) von einer bindungstheoretisch orientierten Praxis. Weglaufen, Lügen, Stehlen sind klassische Verwahrlosungssymptome, die bei robustem Temperament eher auf schwach repräsentierte Eltern-Imagines und ein schwach entwickeltes Über-Ich hinweisen. Deshalb sind m.E. insbesondere Sophies aggressive Regungen weniger als „reife“ objektale Aggression gegen entwickelte, affektiv ausdifferenzierte Elternrepräsentanzen zu verstehen denn als relativ „unreife“ frühkindliche Verhaltensmuster, die darauf abzielen, elterliches Bindungs- und Fürsorgeverhalten auszulösen. So verwundert es nicht, daß meine „klassischen“ Deutungen von Trennungsaggression eher auf „taube Ohren“ stießen. Mit deutlich mehr Erfolg habe ich die kleinkindhaften Bindungswünsche aufgenommen und über den nonverbalen Mutter-Kind-Dialog an den frühen Deprivationen angeknüpft. Durch feste Rituale, die sich aus den jeweiligen Therapiephasen heraus entwickelten („Schwarzer Peter“, „Böse Frau Volk“) konnte das Gefühl für Berechenbarkeit und Verfügbarkeit der therapeutischen Bindungsfigur gestärkt werden. Es wuchs die Fähigkeit, aggressive Impulse in symbolisierterer Form „spielerisch“ auszudrücken, ohne daß es zu Bindungs- und Beziehungsabbruch kommen mußte. Als Sophie soweit war, ihre Bindungsbedürfnisse unverstellter zu äußern, was auf die Entwicklung einer sicheren Bindung hindeutet, halfen Übergangsobjekte, die Bindungsbedürfnisse symbolisch zu befriedigen (psychoanalytisch gesprochen: die Entwicklung von Objektkonstanz zu fördern).
Die Elternarbeit war weniger erfolgreich. Es gelang nur unzureichend, die Mutter-Tochter-Bindung zu stärken. Auch der neue Partner der Mutter, der seine Zuwendung auf sein leibliches Kind konzentrierte, konnte nicht zu einer kontinuierlichen emotionalen Präsenz für die Patientin motiviert werden. Schließlich mußte ich im familiären Umfeld vor der Übermacht der ungünstigen äußeren Verhältnisse kapitulieren, was bei Patienten aus mehrfach belasteten, sozial schwachen Familien leider häufig vorkommt. Wie in Kap. B.1.1.2. ausgeführt, ist es in diesen Fällen umso wichtiger, zur Kompensation der familiären Belastungen im sozialen Umfeld zu intervenieren. Konkret hieß das hier, alternative Bindungsfiguren auszumachen, sich mit ihnen zu vernetzen und eine gemeinsame entwicklungs- und bindungsorientierte pädagogisch-psychotherapeutische Kooperation in die Wege zu leiten.
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Wesentliche Voraussetzungen für das Gelingen einer bindungsorientierten Therapie ist absolute Verläßlichkeit des Rahmens. Das Gleiche gilt auch für eine psychoanalytische Therapie, dient hier allerdings vorwiegend dem Zweck, die Entfaltung der Übertragung nicht zu stören. Ohne Zweifel hat in der klassischen Psychoanalyse die Abstinenz der Analytikerin einen ungleich höheren Stellenwert. Der Einsatz von Übergangsobjekten wie Spielzeug, Fotos, Bilder etc. dürfte wohl nach wie vor abgelehnt werden. Ebenso dürfte die klassische Analyse Interventionen im sozialen Umfeld als Agieren der Analytikerin interpretieren. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß ohne diese Interventionen angesichts der Ressourcenarmut der Familie ein Transfer der Therapie-Erfahrung in den Alltag und die Entwicklung einer sicheren Bindung der Patientin wohl kaum gelungen wäre.
Früh traumatisierte Kinder sind, wie beschrieben, nur bedingt in der Lage, ihre traumatischen Beziehungserfahrungen sprachlich-symbolisiert mitzuteilen. Sie neigen dazu, ihre Geschichte durch nonverbale Inszenierungen zu „erzählen“. Nonverbal ist hierbei jedoch in dreierlei Hinsicht zu differenzieren:
Erstens kann es sich um Erfahrungen aus der präverbalen Phase handeln, die lediglich im implizit-prozeduralen Gedächtnis somatosensorisch gespeichert sind und nicht symbolisch repräsentiert werden konnten, da in diesem Lebensalter noch kein sprachlich-symbolisches Repräsentationsformat zur Verfügung stand. Diese Erfahrungen tauchen in der Therapie als diffuse, in der Gegenübertragung schwer erträgliche körpernah agierte Erregungszustände des Patienten auf.
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Zweitens kommen traumatische Erfahrungen aus der Zeit nach dem Spracherwerb in Frage, als eigentlich sprachliche Symbolisierungsfähigkeit gegeben sein konnte. Wie in Kap. A.2.2. beschrieben, beschädigt die frühe und chronische Traumatisierung jedoch den gesamten Prozeß der Symbolisierungsfähigkeit so nachhaltig, daß eine Symbolisierung dieser Erfahrungen, wenn überhaupt, nur in Ansätzen erfolgt. Daneben werden einzelne traumatische Erlebnisse wie z.B. eine schwere Mißhandlung schon aufgrund der Überwältigung in der traumatischen Situation, wie in Kap. A.3.3.3. beschrieben, nur unvollständig und sensorisch fraktioniert enkodiert (traumatisches Gedächtnis). Sie können deshalb nicht im explizit-deklarativen Gedächtnis abgelegt und deshalb auch nicht von dort abgerufen werden, weshalb sie einer sprachlichen Bearbeitung nicht zugänglich sind. Im Behandlungsverlauf tauchen sie meist plötzlich, durch traumatische Reize getriggert, als kurze szenische Fragmente posttraumatischen Spiels auf, können sich aber auch zu einer „traumatischen Übertragung“ entwickeln (zur Behandlungtechnik vgl. Kap. B.2.3.2.).
Drittens kann es sich – bei früh traumatisierten Kindern eher untypisch - auch um „späte“ traumatische Erfahrungen aus der Latenz handeln, die sprachlich repräsentiert sind und auf der Basis entwickelter Symbolisierungsfähigkeit verarbeitet und im deklarativ-expliziten Gedächtnis gespeichert werden konnten. Wenn bestimmte Aspekte des Traumas jedoch im weiteren Entwicklungsverlauf in Konflikt geraten mit Entwicklungsaufgaben oder familiären pathogenen Dynamiken, können diese Aspekte nachträglich im klassisch-psychoanalytischen Sinne einer Verdrängung wieder de-symbolisiert werden (Lorenzer, 1970). Dann können diese Manifestationen des Dynamisch-Unbewußten nur noch nonverbal „erzählt“ werden.
Diese dritte und letzte Form der nonverbalen Inszenierung verdrängten konflikthaften Materials ist jedoch aus den genannten Gründen mangelhafter Symbolisierungsfähigkeit für früh traumatisierte Kinder untypisch. Sie neigen überwiegend zu den klinischen Manifestationen, die als die ersten beiden Varianten des Nonverbalen beschrieben wurden.
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Auch wenn die Psychoanalyse sich als „talking cure“ versteht, hat sie sich doch schon seit ihren Anfängen für nonverbale Ausdrucksphänomene interessiert (vgl. z.B. das Öffnen und Schließen des Handtäschchens im „Fall Dora“, Freud, 1905). Allerdings wurden diese Phänomene traditionell als Ausdruck verdrängter Impulse gedeutet, als Ausdruck des D y namisch-Unbewußten. Das implizit-prozedurale Unbewußte des Patienten, dessen Inhalte niemals bewußt waren und deshalb auch nicht verdrängt werden konnten, wurde von Psychoanalytikern seit jeher intuitiv erspürt und beantwortet. Es gelang aber erst in jüngerer Zeit, diese andere Art des Unbewußten im interdisziplinären Diskurs von Neurobiologie und Kleinkindforschung als impl i zites Beziehungswissen „auf den Begriff“ zu bringen.
Da mir daran liegt, daß deutlich wird, wie meine Behandlungsmodifikationen für früh traumatisierte Kinder sich aus der psychoanalytischen Tradition schöpfend entwickeln, gebe ich im Folgenden einen kurzen Abriß der psychoanalytischen Theoriegeschichte nonverbaler Inszenierungen. Dabei wird zum einen eine Fokusverschiebung vom Dynamisch-Unbewußten zum Implizit-Unbewußten erkennbar, zum anderen wird immer klarer, daß der Analytiker kein „objektiver“ Beobachter des Geschehens ist. Er ist unverkennbar aktiver Mitspieler und Ko-Konstrukteur der Szene, selbst wenn er sich dessen nur wenig bewußt sein mag.
In den 70er Jahren entwickelten die Psychoanalytiker Lorenzer und Argelander weitgehend unabhängig voneinander die Konzepte des szenischen Verstehens (Lorenzer 1970) bzw. der szenischen Funktion des Ichs (Argelander, 1970), mit der sie die nonverbalen unbewußten Botschaften des Patienten an den Analytiker erfassen wollten.
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Neben dem logischen Verstehen der Wort- oder Handlungsbedeutung, dem psychologischen Verstehen der subjektiv-idiosynkratischen Bedeutung für den Patienten meint sz e nisches Verstehen nach Lorenzer das Erschließen des Sinns bedeutungsvoller Interaktionen des Patienten, deren Bedeutung jedoch aus der sprachlich-symbolischen Kommunikation ausgeschlossen ist: „Der unsichtbare Trieb wird greifbar, wenn er ‚in Szene gesetzt’ verstanden wird“ (Lorenzer,1970, S. 166).
Ein vielzitiertes Beispiel von Argelander stammt aus einem Erstgespräch mit einer Patientin:
„Im Behandlungszimmer setzt sie sich, ohne auf ein Geste von mir zu warten. Um bequem ihr gegenübersitzen zu können, muß ich meinen üblichen Platz aufgeben. Dieser Vorgang überraschte mich etwas, ich dachte daran, sie zu bitten , einen anderen Platz einzunehmen, aber ich fügte mich in die neue Sitzordnung, die sie hergestellt hatte.“ (1981, S. 116). |
Im weiteren Verlauf der Therapie kann, ausgelöst durch diesen irritierenden „Platzwechsel“, rekonstruiert werden, daß die Mutter der Patientin in deren Kindheit dazu neigte, bei Ehestreitigkeiten ins Kinderzimmer „auszuziehen“ und dem Vater dafür das Kind ins Ehebett zu legen, wodurch die Patientin verwirrenden ödipalen Phantasien ausgesetzt wurde (ebd.).
Die Szene wird dabei als Ausdruck des Verdrängten, d.h. des Dynamisch-Unbewußten des Patienten, und der Analytiker als mehr oder weniger neutraler Beobachter verstanden. Sie wird nicht als Interaktion, sondern als einseitige Aktion des Patienten betrachtet. Diese Sicht ähnelt den Anfängen der Objektbeziehungstheorie, als mit den Begriffen der Gegenübertragung und der projektiven Identifikation (vgl. Kap. B.2.2.1.) ebenfalls lediglich der Einfluß des Unbewußten des Patienten auf den Analytiker thematisiert wurde. „Obwohl das Konzept der Szene ein Handlungsgeschehen zwischen zwei Personen beschreibt, ist es weitgehend im Modell der Ein-Personen-Psychologie entworfen …vor allem wird der Therapeut noch nicht als ein in ein Geschehen möglicherweise verwickelter Teilnehmer gesehen.“ (Klüwer, 2001, S. 350).
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Dieser Eigenbeitrag des Analytikers zur gemeinsamen Szene wurde ursprünglich, wenn überhaupt wahrgenommen, unter dem Begriff des Mitagierens abgehandelt. Und so wie nach klassischer Lesart dem Agieren „die Qualität eines primärprozeßhaften, defizienten Modus an(haftet), der an Realitätsverkennung und Pathologie … denken läßt“ (Streeck, 1998, S. 68), wurde auch beim Mitagieren des Analytikers der Aspekt des Gegenübertragungswiderstands betont (Klüwer, 1995).
Mit dem widening scope, d.h. der Erweiterung der analytischen Behandlung auf präödipale Frühstörungen (narzißtische und Borderline-Störungen), veränderte sich mit dem Blick auf Agieren und Mitagieren auch deren Bewertung. „Agieren wurde zunehmend als Informationsquelle und als eine Sonderform der Kommunikation betrachtet.“ (Klüwer, 1995, S. 51). Loewald (1971) sprach in diesem Zusammenhang von actions in speech, Busch (1989) von action thoughts. In gleicher Weise wurde das Mitagieren des Analytikers zunehmend als unbewußte Rollenübernahmebereitschaft (Sandler, 1976) verstanden, mit der der Analytiker „sich von den vielfältigen sprachlichen und nicht-sprachlichen Elementen des Verhaltens des Patienten in Interaktionen verwickeln läßt, aus denen manchmal gemeinsame Inszenierungen hervorgehen, die er dann selbst mitgestaltet hat.“ (Streeck, 1998, S. 71). Hier klingt bereits der Trend zur Zwei-Personen-Psychologie an, die den Aspekt des Intersubjektiven, der Ko-Konstruktion der therapeutischen Beziehung in den Vordergrund stellt.
Ein vielzitiertes Beispiel für diese Rollenübernahmebereitschaft ist Sandlers (1976) Falldarstellung eines Patienten, der durch leichtes Anheben der Stimme am Ende eines jeden Satzes einen permanent „fragenden“ Eindruck erweckte, was den Analytiker dazu bewegte, entsprechend viel zu antworten. So mußte der Analytiker schließlich irritiert feststellen, daß er in der Behandlung dieses Patienten im Vergleich zu seinen übrigen Analysen ungewöhnlich viel sprach. Im gemeinsamen Verstehen dieser Interaktion gelang es zu rekonstruieren, daß der Patient als Kind seinen als gewalttätig gefürchteten Vater bei dessen Heimkommen mit Fragen zu „beruhigen“ pflegte, was die in der Übertragung erlebte unbewußte Angst des Patienten vor dem Analytiker zutage förderte (ebd.).
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Diese gemeinsamen Inszenierungen, die Klüwer Handlungsdialoge nennt (1995, 2001), werden heute überwiegend mit dem Begriff des Enactment bezeichnet. Der von Jacobs (1986) eingeführte Begriff regte zahlreiche Veröffentlichungen an (Chused, 1991; Gabbard, 1999; McLaughlin, 1991; Renik, 1993). Wie beim Konzept der Gegenübertragung sind die Autoren uneins, ob sie den restneurotischen, nicht bearbeiteten Übertragungs-Anteil des Analytikers an der gemeinsamen Inszenierung stärker gewichten (so Jacobs und McLaughlin), oder ob sie die Übertragung des Patienten als treibende Kraft des Enactment fokussieren (so Chused). Den extremsten Standpunkt nehmen wieder konstruktivistische Psychoanalytiker wie Renik (1993) oder Hoffman (1992) ein, die darauf verzichten, den Anteil von Analytiker und Patient an der „gemeinsamen Schöpfung“ der Szene überhaupt noch auseinanderdividieren zu wollen.
Allerdings verstellt die Kontroverse über die Anteile der Übertragungen von Analytiker und Patient am gemeinsamen Enactment den Blick darauf, daß Enactment heute stärker als Phänomen des impliziten Beziehungswissens gesehen wird denn als Ausdruck verdrängter Konfliktdynamik. „Der Vorgang des Enactment beinhaltet überwiegend nichtbewußte interaktive Regulierungen aus dem impliziten Gedächtnis.“ (Mertens, 2009, S. 82). Dieses implizite Beziehungswissen, über das sich sprachlich symbolisierte Beziehungserfahrungen schichten (ebd., S. 118), wird in der analytischen Situation reaktiviert und vom Analytiker ebenso implizit beantwortet. Die oben zitierte Fallvignette von Sandler macht dies deutlich. Auch wenn die Angst des Patienten vor seinem Vater symbolisch repräsentiert, konflikthaft erlebt und deshalb verdrängt gewesen ist, der Modus seines „fragenden“ Kommunikationsstils dürfte Ergebnis eines überwiegend implizit kodierten interaktiven Regulationsmusters sein, das Sandler zunächst intuitiv „beantwortete“. Ganz anders die eingangs geschilderte Szene des „Platzwechsels“ von Argelander. Hier präsentierte die Patientin in einer Initialszene ihre unbewußte Konfliktdynamik. Der mögliche Beitrag des Analytikers zu dieser Szene konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen werden.
Mit dem Begriff des impliziten Beziehungswissens werden emotionale „Beziehungsregeln“ bezeichnet, die sich von Geburt an entwickeln, die mittels Zeit, Raum, Affekt und Erregung organisiert werden (Beebe & Lachmann, 2004, S. 89). Sie beinhalten „Bewegungsabläufe, Affektmuster, Erwartungshaltungen und die Sensibilität für die Bewegungs- und Affektmuster von anderen.“ (Lichtenberg, 2005, S. 301).
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Diese frühen interaktionellen Erwartungsmuster vermitteln sich klinisch als schwer greifbare affektive Stimmungen und Stimmungsumbrüche, Körpersensationen, interaktive Rhythmen von Beschleunigung und Verlangsamung, Erregungskurven, plötzliche Kontaktabbrüche etc., die für die Analytikerin oft nur durch intensive Selbstanalyse oder kollegiale Intervision und Supervision nachträglich zu „entschlüsseln“ sind.
Die weiter oben besprochenen nonverbalen Inszenierungen i.S. des szenischen Verst e hens gehen auf ursprünglich dem Bewußtsein zugängliche, reflexive Repräsentationen zurück, die im deklarativen Gedächtnis gespeichert wurden, nachträglich aus neurotischen Gründen verdrängt und dadurch sekundär unbewußt wurden (Dynamisch Unb e wußtes). Demgegenüber handelt es sich beim impliziten Beziehungswissen um präsymbolische, nicht reflexive Repräsentationen, die im impliziten Gedächtnis gespeichert wurden, das Beziehungsverhalten prägen, aber nachträglich nur selten ins Bewußtsein gelangen, von daher primär unbewußt sind (Implizit-Unbewußtes).
Der Begriff des impliziten Beziehungswissens, der aus der interdisziplinären Kooperation von Neurobiologie, Kleinkindforschung und Psychoanalyse stammt, hat den Blick dafür geschärft, daß im psychoanalytischen Prozeß neben der Arbeit mit dem Dynamisch-Unbewußten (also Klärungen, Konfrontationen, Deutungen) unterhalb der Wahrnehmungsschwelle beider Beteiligter ein permanenter Austausch von Implizit-Unbewußtem von Analytiker und Patient stattfindet. Dieser Austauschprozeß ist als Matching oder Mismatching der affektiven Zustände auch entscheidend dafür, ob Deutungen des Dynamisch Unbewußten beim Patienten emotional „ankommen“.
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Die Bostoner Forschungsgruppe um Daniel Stern (The Process of Change Study Group, Stern et al., 1998 b, c) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die spezifische Qualität dieses Austauschs und seine Bedeutung für therapeutische Veränderungsprozesse zu untersuchen.
Gestützt auf die Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme gehen die Autoren analog der Mutter-Säuglings-Beziehung von einem dyadischen Modell wechselseitiger Regulierung zwischen Analytiker und Patient aus. Im Verlauf dieses ständigen Regulierungsprozesses, den die Autoren als Vorangehen (moving along) bezeichnen, entstehen „emergente Eigenschaften“ dieses komplexen dynamischen Systems, nichtlineare Sprünge, sog. plötzliche Momente (now moments). Diese Momente sind häufig verwirrend, beunruhigend, laden sich mit Erwartungen oder Angst auf. So zum Beispiel, wenn ein Patient plötzlich im Austausch innehält und fragt: „Lieben Sie mich?“
Wird ein solcher „now moment“ therapeutisch ergriffen und gemeinsam realisiert, verwandelt er sich in einen Moment der Begegnung:
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„Die beiden begegnen einander in diesem Augenblick als Personen, relativ ungeschützt durch ihre gewohnten therapeutischen Rollen …Der ‚Moment der Begegnung’ ist .. der Drehpunkt, an dem sich der intersubjektive Kontext verändert und dadurch auch das implizite Beziehungswissen über die Patient-Therapeut-Beziehung.“ (Stern et al., 1998 c/2002. S. 982 f.) |
Dieser veränderte intersubjektive Zustand führt zu einem neuen Gleichgewicht, auf dessen Basis nun weiter „vorangegangen“ wird.
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Während psychoanalytische Deutungen, so die Autoren, das explizite, deklarative Wissen des Patienten verändern, verändern Momente der Begegnung, in denen der Patient eine persönliche, authentische Verbindung zum Analytiker erlebt, sein implizites Beziehungswissen. Dennoch wollen die Autoren der Bostoner Forschungsgruppe „keine Scheinrivalität zwischen diesen beiden mutativen Vorgängen lancieren. Sie sind komplementär.“ (ebd., S. 976). Momente der Begegnung unterscheiden sich von Deutungen dadurch, daß „die Übertragungs- und Gegenübertragungsaspekte in einem ‚Begegnungsmoment’ auf ein Minimum reduziert (sind), so daß die Persönlichkeiten der Interakteure ins Spiel kommen und ihre Rollenvorgaben relativ ausgeblendet sind.“ (ebd., S. 996).
Die Autoren der Bostoner Process of Change Study Group betrachten ihre Arbeit als “work in progress”, weshalb auch die Diskussion darüber noch nicht abgeschlossen ist. Mit großer Skepsis begegnen Kritiker der „relegation of the transference phenomenon and its interpretation from a ‚star’ to a mere ‚supporting role’ in the therapeutic play“ (Fonagy, 1998 c, S. 349). So mahnen denn auch wohlwollende Kritiker wie Beebe (1998) oder Fonagy (1998 c) an, daß das Verhältnis von Übertragungsphänomenen und impliziten Beziehungsphänomenen einer gründlicheren Klärung bedarf, denn beide Arten von Phänomenen „undoubtedly include declarative as well as implicit knowledge structures.“ (Fonagy, 1998 c, S. 351). Neuere theoretische Diskussionsbeiträge sind im Themenheft des Journal of the American Psychoanalytic Assoc i ation, 2005, 53, 3 abgedruckt.
Für die vorliegende Arbeit ist das Konzept insofern von großer Relevanz, als es hilft, klinische Erfahrungen über mutative Prozesse in der Kinderanalyse auf den Begriff zu bringen. So weisen die Autoren der Bostoner Gruppe darauf hin, daß sie das „Konzept eines ‚Moments der Begegnung’ … der Arbeit mit Kindern (verdanken).“ (Stern et al., 1998 b, S. 150). Meine alltägliche Erfahrung bestätigt mir, daß sich therapeutische Veränderungen weniger durch Deutungen als durch eben diese „Momente der Begegnung“ ereignen. Dies trifft v.a. auf die Behandlung früh traumatisierter Kinder zu, die ihre Geschichte, wie dargestellt, nur in Form präverbaler körpernaher Enactments „erzählen“ können. Im Folgenden soll deshalb versucht werden, die theoretischen Überlegungen zum impliziten Beziehungswissen auf die Behandlung früh traumatisierter Kinder zu übertragen.
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Nonverbale Inszenierungen nehmen in der Kinderanalyse im allgemeinen und in der psychodynamischen Therapie früh traumatisierter Kinder im besonderen einen breiten Raum ein, weil schon die Alltagserfahrung lehrt, daß sich Kinder – anders als Erwachsene – viel stärker über den Körper ausdrücken.
Eine besondere Möglichkeit zu szenischem Verstehen i.S. Lorenzers, d.h. aus einer mehr oder weniger neutralen Beobachter-Perspektive, bietet sich vorzugsweise beim Erstkontakt mit dem Patienten. Mit dem neuen Patienten besteht noch keine Übertragung-Gegenüber-tragungs-Beziehung und noch kein gemeinsames implizites Beziehungswissen, weshalb die Szene durch den Analytiker „neutral“ verstanden werden kann
Agieren und Mitagieren sind in der Kinderanalyse schwer zu definieren. Greift man einen Gedanken von Bilger auf, der Agieren als das „Überschreiten einer Grenze oder der impliziten oder expliziten Regeln“ (1986, zit. nach Klüwer, 1995, S. 66) bezeichnet, wird deutlich, daß das Agieren in der Kindertherapie nicht eindeutig von „erlaubten“ Übertragungsinszenierungen auf der Spielebene sowie unmittelbarer Beziehungsregulation abzugrenzen ist. Anders als in der Erwachsenenanalyse, in der die räumliche Position durch das Liegen auf der Couch und die Art der Kommunikation als freie Assoziation klar definiert sind, kann das Kind in der Kinderanalyse die Stunde grundsätzlich nach eigenem Belieben gestalten. Vor allem sind therapeutische Spielinteraktion und Beziehungsregulation, Übertragung und Austausch impliziten Beziehungswissens, intensiv miteinander verschränkt. „In der Kindertherapie externalisieren sich die inneren Beziehungsrepräsentationen unmittelbar … Sie versprachlichen sich, verbildlichen sich, verkörpern und verräumlichen sich …Körperhaltung, Gestik und Mimik sind immer mit im Spiel, und ebenso werden ständig Nähe und Beziehung im Raum reguliert“ (Westram, 2006, S. 227).
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Setzt sich z.B. das Kind zu Beginn der Stunde auf meinen Platz im Therapiezimmer (vgl. den „Platzwechsel“ bei Argelander), so würde ich dies keineswegs als Agieren interpretieren oder gar verbal deuten, sondern als szenisches Spielangebot aufgreifen, das möglicherweise unsere Beziehung thematisieren soll. Kommen vom Kind keine „Regie-Anweisungen“, würde ich aus meiner Gegenübertragung heraus eigene Ideen anbieten. Habe ich den Eindruck, daß das Kind mich herausfordern will, könnte ich mich z.B. als „empörte“ Königin darüber aufregen, daß ich nicht auf meinen „Thron“ darf. Wenn es sich um ein früh traumatisiertes Kind handelt, würde ich bei meinen Spielangeboten sehr darauf achten, es mit meinen Phantasien nicht zu „überwältigen“. Ich würde vielleicht zunächst den Sicherheitsaspekt (der Therapeutensessel als „sicherer Ort“) bzw. den Kontrollaspekt („Du bist jetzt der Chef, du hast alles unter Kontrolle“) positiv validieren. Im weiteren Verlauf könnte ich über Rollenspielangebote (indem ich mich z.B. dem „Chef“ als „Sekretärin“ anbiete) einen phantasmatischen Raum eröffnen, um diese Beziehung affektiv zu erweitern. So könnte sich aus dem zunächst „harmlosen“ Chef/Sekretärin-Spiel ein Macht-Ohnmacht-Verhältnis entwickeln, über welches Aspekte der sadomasochistischen Täter-Opfer-Dynamik in Kontakt kommen könnten.
Aufgrund dieser intensiven Verschränkung von Übertragungsszene und Beziehungsregulation im gemeinsamen Spiel entsteht bei der Kinderanalytikerin sehr schnell eine patientenspezifische Rollenübernahmebereitschaft (Sandler). Sie bezieht sich ganz konkret auf die im Spiel angetragenen „Rollen“, v.a. aber auf die aktuellen affektiven Zustände und Bedürftigkeiten des Patienten, die weitgehend unbewußt wahrgenommen werden. So bemerkte ich z.B. in der weiter oben dargestellten Behandlungsvignette („Sophie“) erst im Nachhinein, daß ich bei der Vorbereitung ihrer Stunden besonders akribisch darauf achtete, daß alle von ihr gewwöhnlich benutzten Spielgegenstände an ihrem „Ort“ waren, v.a. daß die so sehr geliebte Hängematte auf jeden Fall eingehängt war. Bei anderen, sicher gebundenen Kindern bin ich darin wesentlich weniger aufmerksam.
Im Zuge solch unbewußter „Einstimmungen“ (Stern) auf die Beziehungswünsche des Patienten kann es, vor allem bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder, auch zu „Fehlabstimmungen“, zu Verstrickungen kommen, die sich über mehrere Stunden hinziehen und dann den Charakter von Enactments annehmen. Oft spiegeln diese Verstrickungen i.S. von „Modellszenen“ (Lichtenberg, 1989) präverbale traumatische Beziehungserfahrungen wieder, die der Patient nur über körpersprachlich vermittelte Inszenierung kommunizieren kann. Weiter unten wird dafür ein Beispiel gebracht („Fallvignette Leon“).
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Während körpersprachlicher Inszenierungen traumatischer Erfahrungen kommt es immer wieder zu den weiter oben von Stern und Mitarbeitern beschriebenen now moments, die die Chance zu einem Begegnungsmoment bieten und dadurch das implizite Beziehung s wissen des Patienten verändern. Dazu ein kurzes Beispiel: Ein sexuell mißbrauchtes 9j. Mädchen spielt mit mir zusammen „Hotel“. Ich bin der Hoteldiener und muß die „Lady“ im Restaurant bedienen, anschließend die Koffer auf ihr „Zimmer“ tragen. Hier wirft sich die Patientin plötzlich auf das „Bett“ (in die Hängematte), spreizt die Beine und ruft erregt: „Und jetzt würdest du dich auf mich drauflegen!“ Nach einem ersten Schreck überlege ich, wie ich intervenieren soll. Ich glaube, dies war ein now moment.
Ich überlege, ob ich aus dem Spiel aussteigen und eine Deutung versuchen soll, befürchte aber, die Patientin damit mehr zu beschämen als ihr zu helfen, die sexualisierte Erregung zu modulieren. So entscheide ich mich spontan, im Spiel zu bleiben. In der Rolle des Hoteldieners spiegele ich ihr ihre Scham und ihr Begehren, indem ich ihr sage, daß ich „sehr verlegen“ sei, weil sie „ja wirklich sehr verführerisch“ sei. Andererseits sei ich verheiratet, liebte meine Frau und wollte keine Geheimnisse vor ihr haben. Nach kurzem erregtem Hin und Her - „nu mach schon, einmal ist keinmal“ – komme ich in meiner Bedrängnis auf die Idee eines abendlichen Balls im Hotel, und ich frage die „Lady“, ob ich sie zu diesem Ball einladen dürfe. Nach kurzer Verblüffung springt sie auf, kostümiert sich begeistert, und gemeinsam tanzen wir einen sehr langsamen distanten Walzer, bei dem die Patientin mich lange und nachdenklich anschaut. Ich glaube, das war ein Begegnungsmoment.
An der letzten Mini-Vignette wird deutlich, daß sich frühe Traumatisierungen sehr häufig über unmittelbare Körpererinnerungen der kindlichen Patienten im Behandlungszimmer reinszenieren. Dies können, wie oben, sexuelle, aber auch aggressive oder regressive körperliche Erregungszustände sein, in denen die Patienten den unmittelbaren Körperkontakt zur Analytikerin suchen.
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Das psychoanalytische Abstinenzgebot (Freud, 1915 b, 1919) wird heute nicht mehr wie in den 50er Jahren als Berührungstabu interpretiert, sondern als innere Haltung des Analytikers, die dadurch definiert ist, „daß zu keiner Zeit die Bedürfnisse des Therapeuten/Analytikers, weder die narzißtischen noch die libidinösen, im Vordergrund stehen dürfen.“ (Hirsch, 1998 b, S. 315).
In der Kinderanalyse sind körperliche Berührungen zum einen im turbulenten Spiel gar nicht vermeidbar, zum anderen, wie selbst Bauriedl, grundsätzlich eine radikale Verfechterin des analytischen Berührungstabus, konzediert, aufgrund kultureller Konventionen „üblich und selbstverständlich“ (1998, S. 358). Meiner Ansicht nach sollten wegen des fundamentalen Symbolisierungsdefizits früh traumatisierter Kinder deren körperliche Kontaktwünsche zwar einerseits angenommen, andererseits aber auch im Sinne der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski) auf symbolisiertere Formen hingeleitet werden.
Sucht das Kind aggressiven Körperkontakt in Form lustvoll-kämpferischen „Raufens“ (rough-and-tumble-play) gehe ich darauf ein, schlage aber in der Regel vor, mit Schaumstoffschlägern einen „Ritterkampf“ o.ä. auszufechten. Damit wird eine „Grenzschicht zur Realität“ (Winnicott), ein symbolischer Übergangs-Raum hergestellt, der dem Patienten die Möglichkeit eröffnet, auf der Als-ob-Ebene des Spiels auch heftigere Übertragungs-Aggression zu aktivieren, die auf der Ebene des „realen“ Raufens bald an Grenzen stieße.
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Handelt es sich um erotisch-sexualisierte Kontaktangebote, was gerade bei sexuell mißbrauchten Kindern häufig ist, setze ich Grenzen, indem ich mich dem Kontakt entziehe. Doch statt zu deuten versuche ich, den Kontakt nicht abbrechen zu lassen, sondern i.S. interaktiver Regulation den körperlichen Erregungszustand des Kindes aufzugreifen und in sozialadäquate Formen zu überführen (z.B. in gemeinsames Seilspringen oder Tanz- und Hüpfspiele, vgl. das obige Beispiel im „Hotelzimmer“).
Wenn die Körperkontakt-Wünsche des Patienten in regressive Richtung i.S. früher Bemutterungwünsche zielen, gehe ich ebenfalls darauf ein, steuere jedoch auch hier die Als-ob-Ebene des Spiels an, indem ich das Kind z.B. nach seinem Lieblingstier frage und die Szene dann ins Tierreich verlagere („dann wärst du jetzt ein Katzen-Baby und ich eine Katzen-Mama?“). Auf diesem Wege läßt sich auch malignen Regressionsprozessen entgegenarbeiten, indem man Entwicklungsanreize beitet (z.B. das Katzenbaby fragt, ob es denn schon Mäuse fangen kann…)
Über diesen unmittelbaren Körperkontakt hinaus findet jedoch ein permanenter mittelb a rer körperlich fundierter Austausch zwischen Analytiker und Patient statt, der sich über Körper-Empathie vollzieht. Mit diesem Begriff sind somatische Sensationen des Analytikers gemeint, die schon Spitz & Cobliner (1965) als Wahrnehmungsmodus des „coenästethischen Empfindens“ beschrieben haben (Körperspannung, Muskeltonus, Gleichgewicht, Vibration, Rhythmus etc.). Hess-Liebers (1999) nennt verschiedene Körpersignale „aus dem Bereich der Propriozeption, der sog. Koenästhesie oder Tiefensensibilität; Organgefühle, meist in Form von Schmerzen, Druck, Stechen, und v.a. Funktionsstörungen jeglicher Art …; vegetativ ausgelöste Erscheinungen und Symptome.“ (1999, S. 316).
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Diese körperlichen Reaktionen resultieren aus einem frühen, präverbalen Modus des Verstehens, einer Art Containing durch den Körper des Analytikers (Speziale-Bagliacca, 1991). Mertens (1991 a, S. 33) spricht analog der frühen Mutter-Säuglings-Beziehung vom „tonischen Dialog“ zwischen Analytiker und Patient, Hirsch (2004, S. 183 f.) von „Körpergegenübertragung“. Der Psychoanalytiker, Entwicklungspsychologe und Neurobiologe Allan Schore konzipiert diese Prozesse „als wechselseitig rechtshemisphärische Übertragungs-Gegenübertragungs-Kommunikation“ (2007, S. 103).
Auch Leuzinger-Bohleber und Pfeifer (1998) beschreiben intensive Körpersensationen des Analytikers unter Rückgriff auf neuere Gedächtnismodelle der Embodied Cognitive Science. Danach wird „Gedächtnis“ sowohl in Interaktion mit der Umwelt als auch in ständiger adaptiver Veränderung im Organismus konzipiert. Das Erinnern infantiler Traumen durch den Analysanden ist deshalb abhängig von „einem inneren oder äußeren Dialog mit einem Objekt, einem interaktiven Prozeß, einem ganzheitlichen, ‚embodied’, sensomotorisch-affektiven und kognitiven Geschehen in und zwischen zwei Personen.“ (ebd., S. 911).
Die interdisziplinären Befunde aus der Kleinkindforschung, der Gedächtnis- und Emotionsforschung belegen eindrucksvoll die unmittelbare körperliche Fundierung psychischer Prozesse. Inwieweit aus dieser Tatsache auch behandlungstechnische Konsequenzen zu ziehen sind, wird in der Psychoanalyse seit den Experimenten Wilhelm Reichs kontrovers diskutiert. Die heftige Empörung, mit der die Community noch in den 80er Jahren z.B. auf Streitschriften wie die Tilmann Mosers reagierte („Der Analytiker als sprechende Attrappe“, 1987), ist inzwischen einer nachdenklichen Haltung gewichen. So resumiert Wolfgang Mertens, früher eher ein Verfechter der „Deutungskunst“, angesichts beeindruckender Erfahrungen der analytischen Körperpsychotherapie (Downing, 1996, Geißler, 1998; Heisterkamp 1993; Moser 1994 a,b): „Die verbalorientierte Psychoanalyse (wird) nicht darum herumkommen, sich mit dem körperlichen Geschehen im analytischen Setting noch differenzierter auseinanderzusetzen ..“ (Mertens, 2009, S. 144).
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Der 5jährige Leon wird mir von den Pflegeeltern wegen aggressiver Impulsdurchbrüche vorgestellt. Daheim bekomme er aus nichtigen Anlässen „Tobsuchtsanfälle“, im Kinde r garten falle er über Spielkameraden her und prügele „bis zur Besinnungslosigkeit auf sie ein“. Z u letzt sei er mit einem Stock auf einen 4jährigen losgegangen, woraufhin er den Kindergarten habe verlassen müssen.
Die Pflegeeltern hätten Leon im Alter von drei Jahren in Pflege genommen, da seine a l leinerziehende drogenabhängige Mutter Leon chronisch vernachlässigt und mißhandelt habe. N ä here Details über seine frühe Entwicklung sind weder den Pflegeeltern bekannt noch den Akten des Jugendamtes zu entnehmen. Die leibliche Mutter, so erfahre ich, b e finde sich z.Zt. in einer betreuten Einrichtung, der Vater sei „nicht auffindbar“.
Leon, ein schmaler, verhärmt wirkender Junge, entwickelt nach anfänglichem Mißtrauen schnell eine tendenziell idealisierende Übertragung, die in irritierendem Kontrast zu seiner „durchscheinenden“, devitalisierten Körperlichkeit steht. In einer der ersten Therapiestu n den entwickelt sich dann folgende „Sz e ne“:
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Als ich Leon ins Therapiezimmer bitte, stürmt er mit leuchtenden Augen an mir vorbei in den Raum. Plötzlich verebbt sein Elan, er scheint zu taumeln, bleibt stehen, schaut sich irritiert um und legt sich dann auf den Boden. Dort wälzt er sich hin und her, beruhigt sich schließlich und bleibt auf dem Rücken liegen. Nur noch den Kopf wirft er in jaktationsartigen Bewegungen hin- und her und stößt dabei leise Laute aus.
Als ich mich besorgt über den Jungen beuge, weil ich einen Anfall befürchte, erschrickt er, reißt die Arme vors Gesicht, brüllt und tritt nach mir. Erschrocken weiche ich zurück. Offenbar ist es kein Anfall, sondern ein regressiver, desorganisierter Zustand. Ich gehe zwei, drei Schritte auf Abstand, wende mich ab, um die von meiner Nähe ausgehende Bedrohung zu mindern. Aus den Augenwinkeln kann ich beobachten, wie Leon sich beruhigt, daß aber die Kopf-Jaktationen wieder einsetzen.
Meine Gedanken jagen sich, ich bekomme Kopfschmerzen. Mich befällt das Gefühl, mich nicht bewegen zu dürfen und gleichzeitig weglaufen zu müssen, „um Hilfe zu holen“. Mein Atem geht schnell und flach, und ich verspüre Schmerzen in der Brust. Ich klammere mich an mein theoretisches Wissen. Dissoziiert der Junge? Hat etwas im Raum traumatisches Material getriggert? Techniken zum Dissoziationsstop schießen mir durch den Kopf, die ich sofort wieder verwerfe. Nein, ich spüre, hier stellt sich eine frühe Beziehungsszene dar, die gemeinsam mit dem Patienten erkundet werden muß. Doch die Szene ist nur schwer auszuhalten. Ich fühle mich hilflos und auch enttäuscht, hatten doch Leons leuchtende Augen einen so guten Start in die Stunde versprochen. Schuld- und Ohnmachtsgefühle bedrängen mich. Werde ich es schaffen, den Jungen bis zum aus seinem regressiven Zustand herauszuholen? Ich beschließe, den Verstand auszuschalten und mich ganz auf meinen Körper zu konzentrieren. Ich lasse mich nieder und beginne, den Oberkörper vor- und zurückzuwiegen, wie eine Mutter, die ihr Kind beruhigt und wie ein depriviertes Kind, das sich selbst stimuliert. Ich werde traurig, während eigene Kindheitserinnerungen an frühe Verlassenheit im Krankenhaus hochkommen. Dann wechselt meine Aufmerksamkeit wieder zu Leon. Seine Bewegungen haben sich verlangsamt. Ich stelle fest, daß wir uns im gleichen Rhythmus bewegen. Es schafft mir ein zaghaftes Gefühl emotionaler Verbundenheit und erleichtert mich. Mein Atem geht freier. Ich lausche auf sein Lautieren und versuche, mich auch akustisch auf ihn „einzustimmen“. So geht es eine Weile hin und her. Langsam entwickelt sich daraus ein protokonversativer Dialog, ein verhaltener Singsang mit leichten rhythmischen Verzögerungen, Verwandlungen, Ruf- und Echo-Variationen. Zwischendurch schaue ich aus den Augenwinkeln nach ihm, da ich befürchte, ein direkterer Blick könnte seinen aversiven Erregungspegel wieder anschwellen und den Dialog abbrechen lassen. Sein Gesicht hat sich entspannt, und ich bemerke, daß auch er hin und wieder verstohlen zu mir herüberblickt. , aber noch vermeide ich den direkten Blickkontakt. Wir beruhigen uns beide, er breitet die Arme am Boden aus, die Jaktationen verebben. Leon ist auf einen Gegenstand am Boden aufmerksam geworden, er greift danach. Es ist ein Playmo-Pferd aus dem Cowboy-Fort, das unter dem Sandkasten-Tisch steht. Mit kraftlosen Bewegungen läßt er das Pferd auf dem Teppich traben. Hoppe hoppe Reiter, denke ich, intoniere die Melodie leise. Er geht nicht darauf ein. Ich beginne, die Melodie mit Text zu singen. Er läßt das Pferd los, scheint sich wieder in sich zurückzuziehen. Ich erschrecke, breche ab, ärgere mich über mich selbst. Ich war wieder viel zu schnell auf der sprachlichen Ebene. Ich warte ab, warte auf ein Lautieren seinerseits. Als es kommt, beantworte ich es, der Dialog entspinnt sich wieder, aber mit größeren Pausen jetzt, wie wenn er ausklingen würde. Ich lasse nur noch als eine Art „Hintergrundmusik“ ganz vorsichtig ein leises Summen/Brummen hören. Leon ist jetzt verstummt. Aber er hat sich auf die Seite in Richtung des Cowboy-Forts gedreht, kehrt mir den Rücken zu. Langsam richtet er sich auf, robbt zum Fort, betrachtet die Dinge dort, beginnt sich mit den Figuren zu beschäftigen. Ich atme auf. Er ist wieder in dieser Welt zurück.
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Auch wenn sich die Szene in dieser Intensität nicht wiederholt, taucht sie in Ansätzen jeweils zu Stundenbeginn immer wieder auf. Dabei geht es bei Leon immer um eine schwierige Phase der „Einstimmung“ (Stern, 1985). Sie beginnt als „stürmische Begrüßung“, worauf unvermittelt ein depressives Erschlaffen und daran anschließend selbstregulierende Körperstimulierungen folgen. Als ich– wieder bin ich zu ungeduldig – während einer solchen Szene eine körperliche Annäherung wage, reagiert Leon erneut mit Angst und Aggression sowie mit sekundenlangem Erstarren.
Diskussion
In der Supervision kristallisiert sich heraus, daß es sich in diesem Fall möglicherweise um die Inszenierung früher präverbaler Interaktionserfahrungen handelt, ausgelöst durch die „stürmische Begrüßung“ einer Übertragungs-Mutter (der Analytikerin) bzw. des verlockenden Therapiezimmers als „Umweltmutter“ (Winnicott, 1965). Diese Szene könnte als Aktivierung von Schemata-des-Zusammenseins (Stern, 1998 a) verstanden werden, die sich zu einer Modellszene verdichtet haben (Lichtenberg, 1989). Vermutlich war die leibliche Mutter wegen ihres Drogenabusus nur unzureichend in der Lage, dem Säugling ein „haltendes“ emotionales Milieu mit narzißtischer Spiegelung und kontingenter, affektiver Responsivität zu bieten. Wahrscheinlich wiederholten sich die Szenen, in denen der kleine Leon als Baby in aufgeregter Erwartung dem Antlitz der Mutter entgegenfieberte und einem kraftlosen, nicht-responsiven, abwesenden Blick begegnete, der kurz aufflackerte, dann wieder erlosch. Stern (1998 a S. 125 ff.) schildert verschiedene Möglichkeiten des Säuglings, auf diese mütterliche Depression zu reagieren: 1. die wiederholte „Mikrodepression“ im Erleben des Säuglings (auch der Säugling erschlafft und verliert seine positive Erregung), 2. der Versuch, die Mutter lebendig zu machen (der Säugling vokalisiert und gestikuliert, um die Mutter wieder in den Kontakt zu holen), 3. die Mutter als Hintergrundkontext für die Suche nach anderer äußerer Stimulierung (nach erfolglosen „Belebungs“versuchen wendet sich der Säugling ab und sucht nach anderer äußerer Stimulierung, wobei er die depressive Mutter im Hintergrund weiß) sowie 4. das Erleben einer inauthentischen Mutter und eines inauthentischen Selbst (der Säugling reagiert in „künstlicher“ Weise auf die „künstlichen“ Bemühungen einer depressiven Mutter, die angestrengt versucht, eine „gute Mutter“ zu sein).
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In Leons Fall dürfte es sich schwerpunktmäßig um eine Kombination der ersten und der dritten Variante handeln, die sich in der Therapiestunde reinszeniert. Daneben ist die wiederholte Erfahrung einer intrusiv-verfolgenden, mißhandelnden Mutter zu unterstellen, die in dem ängstlich-sich schützenden sowie aggressiv-tretendem Verhalten von Leon, gepaart mit desorganisiertem freezing, aufscheint, als das „mütterliche Antlitz“ in der Therapiestunde über ihm auftaucht.
Wichtig erscheint mir, daß sich diese Modellszene und die sich anschließende therapeutische Bearbeitung ausschließlich über die präverbale körperliche Resonanz in der therapeutischen Dyade entfalten. Meine heftigen Körpersensationen, mein „Mitschwingen“ in der Selbstregulation (Körperjaktation), ausgelöst durch eigene lebensgeschichtliche Erfahrung , sowie meine regulatorische Blick- und Körperabwendung lassen sich als recht s hemisphärische Kommunikation verstehen, die einen Kontakt auf früher, präverbaler Ebene ermöglichte. So wechselte ich zwischen komplementärer und konkordanter Gegenübertragung hin und her. Ich fühlte mich wie in einer Falle, als depressive Mutter, die ihr Kind nicht beruhigen kann und zugleich als panisches Kind, das weglaufen will („Hilfe holen“), aber wie gelähmt erstarrt. Das sind die Gefühle mißhandelter, desorganisiert gebundener Kinder. Durch diese körpervermittelte Interaktion zwischen Leon und mir wurde eine dialogische Beziehung angeknüpft, die sich über vokale Protokonversation entfaltete, sich interaktiv regulierte (langsame Beruhigung beiderseits) und die auch die Unterbrechung durch mein verfrühtes Versprachlichen des Kontakts „reparieren“ konnte.
Neben Bindungssicherheit sowie dem Verständnis und der sukzessiven Symbolisierung nonverbaler Inszenierungen ist es die Arbeit an der Wahrnehmung, Regulation und Versprachlichung von Affekten, die bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder von zentraler Bedeutung ist. Darüber soll im folgenden Kapitel gesprochen werden.
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Wie die Triebtheorie hat auch die psychoanalytische Affekttheorie verschiedene Wandlungen erfahren, die hier nur kurz zusammengefaßt werden sollen (vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Dornes, 1993, Kap. 6). Die Affekte spielten in Freuds früher Tra u matheorie noch eine relativ wichtige Rolle spielten (Affekt-Trauma-Modell, vgl. Sandler et al., 1972, zit. nach Dornes, ebd.), wurden jedoch mit Einführung der Triebtheorie nur noch als Triebabkömmlinge verstanden. In der Ich-Psychologie wiesen Affekt-Theoretiker wie z.B. Brenner (1974, zit. nach Dornes 93) anhand der Theorie der Signalangst auf die adaptive Funktion von Affekten hin, da sie das Ich vor antizipierten Gefahren warnen. In den Objektbezi e hungstheorien wird schließlich die Funktion der Affekte in der Herstellung interpersoneller Kommunikation hervorgehoben. Vor allem aber die Selbstpsychologen in der Tradition Kohuts waren es, die die Befunde der Säuglingsforschung zur Relevanz der Affekte für Motivation, Regulation von Interaktion sowie Organisation von Erfahrung rezipierten und für die klinische Praxis fruchtbar machten. Jaenicke sieht in der zentralen Fokussierung von Affekten einen „Paradigmenwandel in der Psychoanalyse“ (2006): „Aus heutiger Sicht steht nicht mehr die Kontrolle und der Verzicht von aggressiven und sexuellen Affekten im Mittelpunkt, sondern … die Fähigkeit, Affekte zu tolerieren, zu artikulieren und zu integrieren, … (um) mit uns selbst, dem Anderen und der Welt in Verbindung zu stehen.“ (ebd. S. 218 f.)
Gerade für die Therapie früh traumatisierter Kinder herrscht inzwischen darin Übereinstimmung, daß neben Bindung und Mentalisierung die Arbeit an den Affekten zentralen Raum einnehmen sollte. Affektspiegelung, Affektregulation sowie Versprachlichung von Affekten sind daher wesentliche Elemente bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder.
Das mütterliche Antlitz als Spiegel des kindlichen Selbst ist eine klassische psychoanalytische Metapher. Berühmt ist die Frage Winnicotts „Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? … im allgemeinen das, was es in sich selbst erblickt.“ (1967, S. 128), und ebenso berühmt ist der Ausdruck Kohuts vom „Glanz im Auge der Mutter“ (1973, S. 141), den das Kind sucht. Doch das Gesicht der Mutter ist nicht nur ein Spiegel des kindlichen Selbst im weiteren Sinne, sondern es hat auch eine ganz konkrete Bedeutung für die Spiegelung differenter kindlicher Affekte.
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Die zentrale Rolle mütterlicher Affektspiegelung für die Entwicklung von Affekt-Repräsentanzen im Säugling und das Erlernen von Affektregulation sowie die pathogene Wirkung affektiver Fehlabstimmungen durch verschiedene Formen pathologischer Affektspiegelung wurden bereits in den Kapiteln A.3.1.1. und A.3.1.2. ausführlich dargestellt. An den Defiziten der Affektregulation zu arbeiten gehört zu den zentralen Aufgaben der Therapie.
Früh traumatisierte Kinder fallen auf durch apathische affektentleerte Mimik (oft nach Vernachlässigung), durch wenig ausdifferenzierte chronische Hypererregung (oft nach Mißhandlung) sowie durch falschen Affekt (z.B. angestrengtes „Lolita“-Dauerlächeln nach sexuellem Mißbrauch). Ein wichtiges Ziel der Behandlung dieser Kinder ist, ihnen wieder zu einem authentischen, differenzierten Affekterleben zu verhelfen. Dies kann durch intensive markierte und kongruente Affektspiegelung im entwicklungsfördernden Als-ob-Spiel erreicht werden (vgl. Kap. A.4.1.) Dabei muß die Therapeutin die Mimik des Patienten aufmerksam beobachten (ohne jedoch intrusiv zu sein), um den „eigentlichen“ Affekt des Kindes zu erspüren und zu spiegeln.
In Kap. A.3.1.1.2. wurde dargestellt, daß über den Prozeß der mütterlichen Affektspiegelung auch die Affektregulation des Kindes erfolgt. Auf rein biologisch-neurophysiologischer Ebene gelingt dies als „on-line“-Regulation entlang des mütterlichen Vorbilds („Affektansteckung“), daneben als „off-line“-Regulation im Zuge der Repräsentanzenbildung von Affekten, die durch Affektspiegelung entsteht.
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Wichtig ist dabei das richtig dosierte „Kippen“ des negativen Affekts (vgl. Streeck-Fischer, 2006, S. 208). Darunter ist, wie erwähnt, das Spiegeln des negativen Affekts zu verstehen, dem jedoch intermittierend ein kontrastierender Affekt beigemischt wird, etwa beruhigend oder auch leicht spöttisch. Diesen kontrastierenden Affekt sucht nun der Säugling entsprechend dem Paradigma der Kontingenzmaximierung (vgl. Gergely & Watson, 1996, 1999) zu imitieren, was über die neurophysiologische On-line-Regulation den negativen Affekt weiter abmildert und beruhigt.
In der therapeutischen Situation muß die Analytikerin in der gleichen Weise versuchen, die bei den Patienten wahrgenommenen Erregungszustände zu spiegeln, zu modulieren, zu regulieren und schrittweise zu versprachlichen. Dies wird jedoch dadurch kompliziert, daß die Affekte des Patienten sich oft nur als diffuse Erregungszustände äußern, die noch nicht als diskrete Affekte zu identifizieren sind. Aber selbst wenn dies möglich erscheint, darf die affektive Intensität der Spiegelung und Modulation das Kind nicht überfordern.
Die kinderanalytische Forschergruppe um Annelies Verheugt-Pleiter aus den Niederlanden, die sich auf die Theorie von Fonagy et al. stützt, hat den Prozeß der Affektregulation und der Mentalisierung bei affekt- und mentalisierungsgestörten Kindern empirisch beforscht (Verheugt-Pleiter et al., 2008). An der Auswertung ihrer videographierten Fallstudien wird deutlich, daß bei diesen schwer gestörten Patienten viel therapeutische „Vorarbeit“ notwendig ist, um sie dahin zu bringen, sekundäre Repräsentanzen von Affekten zu entwickeln.
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Zunächst muß die Aufmerksamkeit des Kindes in kleinen Schritten auf den eigenen Körper und körperliche Erregungsprozesse gelenkt werden, denn oft erleben diese Kinder „verbalization of feeling as an attack“ (ebd., S. 133). Die Analytikerin könnte z.B. beim Bauen, Hämmern oder Sägen zum Kind sagen: „Boey, schwere Arbeit! Da kommt man richtig ins Schwitzen!“ Hier werden zunächst nur die körperliche Anstrengung und die damit verbundenen Körperprozesse thematisiert und ein gemeinsamer Zustand angesprochen, auf den die Aufmerksamkeit (shared attention, vgl. Kap. A.3.1.1.) gerichtet wird. Beim Bewundern des Endprodukts kann dann später der gemeinsame Affekt, z.B. Stolz, von der Analytikerin verbalisiert werden, wobei eine körpersprachliche Untermalung und „markierte“ Verstärkung (z.B. begeistertes Armehochreißen) hilfreich sind. „Exaggeration opens the door to a playful approach and makes it easier to start accepting difficult feelings.” (ebd., S. 139).
Voraussetzung auch für die Verbalisierung von Affekten als Vorbereitung für Mentalisierung und Deutung ist aber stets das „accepting the child’s regulation profile and attuning to the same level … This may mean that the therapist adjusts the pitch of his voice, his use of facial expression, and so on.” (ebd. S. 111 f.). Diese Empfehlung an die Analytikerin, sich einer an der Mutter-Säuglings-Beziehung orientierten „Ammensprache“ (vgl. Kap. A.3.1.1.) zu bedienen, zeigt, daß auch ein mentalisierungsgestützter Therapieansatz, der die Deutung, d.h. letztlich die Einsicht in unbewußte Prozesse zum Ziel hat, ohne Rekurs auf die nonverbale Beziehungsregulation zwischen Analytiker und Patient nicht auskommt. Hier werden Berührungspunkte und Überschneidungen mit psychoanalytischen Autoren erkennbar, die in der Arbeit mit schwer gestörten Patienten einen eher bezi e hungs- und regulationsorie n tierten Ansatz selbstpsychologischer Provenienz vertreten (Beebe & Lachmann, Stolorow & Atwood etc.). Wenn Verheugt-Pleiter et al. z.B. schreiben „The therapist can emanate continuous regulation and acceptance via his gestures and make interaction possible by opening and closing communication circles in the nonverbal area“ (2008, S. 124), dann erinnert dieses Zitat sehr stark an das “Prinzip der ständigen Regulierungen” (ongoing regulation, vgl. weiter unten) der Psychoanalytiker und Säuglingsforscher Beatrice Beebe & Frank Lachmann (1994, 1997, 2004). Diese Autoren gehen noch einen Schritt weiter, indem sie nicht nur die Regulation des Säuglings/Patienten durch die Mutter/Analytikerin, sondern auch die reziproke Beeinflussung der Mutter/Analytikerin durch den Säugling/Patienten betrachten. Sie fokussieren das Wechselspiel von Selbst- und interaktiver Regulierung, d.h. das systemische Geschehen in der Mutter-Säuglings-Dyade, das die Befunde zahlreicher Säuglingsforscher nahelegen.
Diese Sicht der Dyade als System, die schon die Boston Change Study Process Group (Stern et al., 1998, b, c) ihren Überlegungen zum impliziten Beziehungswissen zugrunde gelegt hat (vgl. oben Kap. B.2.2.3.3.), wird inzwischen von zahlreichen Entwicklungspsychologen und Psychoanalytikern vertreten. So betrachten z.B. Thelen & Smith (1994, zit. nach Hartmann, 2004, S. 212) Mutter und Kind jeweils als Subsysteme eines dyadischen Systems mit eigener selbstorganisierender Kapazität und einer Tendenz zur Erweiterung des eigenen Selbstsystems durch andere Systeme. „Man kann dieses Modell … zwanglos auf die Interaktion zwischen Therapeut und Patient übertragen.“ (ebd.). Auch Beebe und Lachmann, die sich seit Jahren mit der videographischen Auswertung von Mutter-Säuglings-Interaktionen im face-to-face-Kontakt beschäftigen, kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Sie postulieren, daß sowohl in der Mutter-Säuglings- als auch in der Analytiker-Patient-Dyade „Selbstregulierung und interaktive Regulierung gleichzeitig, komplementär und in einem optimal dynamischen Gleichgewicht (verlaufen).“ (2004, S. 59). Die Autoren betonen, wie auch die Boston Change Process Study Group (vgl. Kap. B.2.2.3.3.), daß der Versuch, die analytische Dyade als dynamisches System zu konzipieren, „den psychodynamischen Gesichtspunkt nicht verdrängen, sondern dem Analytiker eine differenziertere, über die Deutung hinausgehende Sicht der interaktiven Regulierung und Erfahrungsorganisation zur Verfügung stellen (soll).“ (ebd., S. 62). In diesem Sinne können die Befunde zur Regulation von Spannungszuständen in der Mutter-Säuglings-Dyade gerade für die Behandlung von affektdysregulierten früh traumatisierten Kindern von großem Nutzen sein.
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Den Kern der wechselseitigen Regulation in der Mutter-Kind- bzw. Analytiker-Patient-Dyade definieren, so die Autoren, drei herausgehobene Prinzipien (Beebe & Lachmann, 1994, 2004, Kap.7):
Das Prinzip der ständigen Regulierungen bezieht sich auf charakeristische, vorhersagbare und erwartbare Interaktionsabläufe, die in der Dimension von Zeit, Raum, Affekt und Erregung organisiert und präsymbolisch repräsentiert sind. Beispiele sind das Spiegeln des Gesichtsausdrucks, das für beide Partner den affektiven Gleichklang, die Erfahrung von „so wie ich“ organisiert, aber auch maladaptive Muster wie das Verfolgen-und-Ausweichen, das „als eine Erwartung der Fehlregulierung repräsentiert wird“ (ebd, S. 173.). „Ein drittes Muster, das interpersonale Timing, … beinhaltet kinästhetische Rhythmen .., gleichartige und alternierende stimmliche Austauschweisen .., vokale Kongruenz..“ (ebd., S. 174)
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Bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder sollte sich die Analytikerin stets in Erinnerung rufen, daß diese Patienten i.d.R. Erwartungen von Fehlregulierungen verinnerlicht haben, die im frühesten Lebensalter neuronal „festgeschrieben“ wurden. Alternative Regulationserfahrungen von affektivem „matching“ müssen daher in vielen, vielen Wiederholungen „implementiert“ werden. „Repetition, repetition, repetition: Neural systems - and children - change with repetition …Enrichment or therapeutic services for maltreated children need to be consistent, predictable, patterned, and frequent.“ (Perry, 2006, S. 37 u.38)
Dabei sollte sich die Kinderanalytikerin jedoch nicht unter Druck setzen, jederzeit eine maximale affektive Koordination mit dem Patienten herstellen zu müssen. Zum einen ist dies ohnehin nicht möglich, zum anderen belegen Studien der Säuglingsforschung (Jaffe et al., 2001, zit. nach Beebe & Lachmann, 2004, S. 123), daß eine Koordination, die sich im mittleren A b stimmungsbereich bewegt, optimal ist. Ein niedriges Maß an bidirektionaler Koordination zwischen Mutter und Säugling sagte diesen Studien zufolge eine vermeidende Bindung des Kindes (A-Typ) vorher, eine hohe bidirektionale Koordination prädizierte dagegen eine desorganisierte Bindung (D-Typ). Im letzteren Fall ist die hohe Koordination also nicht, wie man spontan annehmen könnte, Ausdruck besonders großer Harmonie zwischen Mutter und Kind, sondern Ausdruck übermäßiger Vigilanz und Kontrolle, was auf eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung hinweist. Ist die Analytikerin also stets um maximale Koordination bemüht, läuft sie Gefahr, in die Übertragungsposition einer intrusiv-verfolgenden „Täter-Mutter“ zu geraten.
Das zweite Prinzip der Unterbrechung und Wiederherstellung bezieht sich auf Interaktionserfahrungen, die „durch die Verletzung von Erwartungsmustern und die anschließenden Bemühungen organisiert (sind), für diese Brüche ein Lösung zu finden.“ (Beebe & Lachmann, 2004, S. 180). In der Regel gelingt der Dyade die Wiederherstellung zügig: Tronick & Cohn (1989) konnten in ihren Mikro-Analysen von Mutter-Säuglings-Interaktionen nachweisen, daß 70% der Sequenzen zunächst „mismatchings“ sind, innerhalb von ca. zwei Sekunden jedoch in einen Zustand des „matchings“ transformiert werden. Dies zeigt nicht nur die Flexibilität des dyadischen Systems, sondern verdeutlicht auch, welch große Chance die Unterbrechungen bieten, durch die Wiederherstellung der Koordination die Erfahrung von Coping und Selbstwirksamkeit zu organisieren. Durch solche Erfahrungen der Wiederherstellung entwickelt sich beim Säugling wie beim Patienten „die Erwartung, daß bei Spannungen und Fehlabstimmungen die Verbundenheit zum Partner gewahrt bleibt.“ (Beebe & Lachmann, 2004, S. 189). Die Analytikerin sollte bei Unterbrechungen der Regulation (z.B. bei „Streit“ über bestimmte Regeln in einem Spiel) nicht zu früh initiativ werden, sondern zunächst abwarten, ob der Patient (z.B. über Kompromißvorschläge) selbständig die Wiederherstellung in die Wege leiten kann. Gelingt ihm dies, ist dies für den Patienten eine besonders entwicklungsfördernde Erfahrung, die Selbstwirksamkeit, Kohärenz und Kontinuität des Selbst stärkt und „Interaktionen als positiv und reparabel … sowie die Bezugsperson als vorhersagbar und vertrauensvoll (repräsentiert).“ (Hartmann, 2004, S. 214)
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Dem dritten Prinzip der Momente der Affektsteigerung zufolge „werden Interaktionsmuster durch gesteigerte affektive Momente organisiert, in denen der Säugling eine mächtige Transformation seines Zustands erlebt.“ (Beebe & Lachmann, 2004, S. 189f.) Das organisierende Prinzip beruht auf der amplifizierenden Funktion von Affekten sowie auf der Erwartung, „daß interaktive Regulierungen diese Transformationen erleichtern bzw. erschweren.“ (ebd., S. 195).
Allerdings besteht gerade bei früh traumatisierten Kindern in diesen Momenten auch die Gefahr der Überwältigung des Patienten durch eine als intrusiv erlebte Analytikerin. Zwar betonen die meisten Trauma-Therapeuten, wie wichtig gerade für traumatisierte Kinder das Erleben positiver Affekte und positiver Beziehungserfahrungen sind (z.B. Perry, 2006). Beebe & Lachmann (2004, S. 193) weisen aber zu Recht darauf hin, daß gerade Traumata Momente der Affektsteigerung, aber eben der negativen Affektsteigerung, sind, d.h. daß das Interaktionsmuster plötzlich hochschießender Erregung, auch wenn es pos i tive Erregung ist, mit dem Trauma assoziiert sein kann. Deshalb sollte die Analytikerin bei früh traumatisierten Kindern besonders darauf achten, welches Maß auch an positiver Erregung dem Kind „zuzumuten“ ist, ohne daß Interaktionsmuster traumatischer Überwältigung aktiviert werden.
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Hinweise auf den aktuellen Erregungsgrad des Patienten können dessen selbstregulatorische Aktivitäten sein. Die Kinderanalytikerin Eva-Maria Topel hat in einer eindrucksvollen Psychotherapiestudie (2004) das nonverbale Interaktionsverhalten von schwer erreichbaren, z.T. hochaggressiven Kindern und Jugendlichen anhand der Selbstregulationsze i chen des Patienten, aber auch der Analytikerin, in der interaktiven Beziehungsregulation videographisch ausgewertet. Selbstregulationszeichen „stellen Formen von Kopfbewegung, Mimik und Blickabwendungen, körperlicher Orientierung im Raum, verschiedenster Selbstberührungen, Tempoerhöhung oder Verlangsamung, Stimmlagenveränderung etc. dar.“ (Topel, 2004, S. 18). Als Beispiele zitiert Topel aus der einschlägigen Literatur Haare- oder Kleidungzupfen, Reiben oder Ziehen an Körperteilen wie Nase, Ohrläppchen, Zungenprotrusion und orale Stimulierungsformen, leichtes Schaukeln und andere Körperbewegungen, Saugen an Daumen oder Gegenständen sowie Objektmanipulationen im Spiel (ebd., S. 19).
Interaktive Koregulation besteht in einem Verhalten, das analog der frühen Mutter-Kind-Beziehung durch Koordination und Synchronisierung des Dialogs die zu entgleisen drohende Beziehung wieder reguliert. Topel nennt verschiedene Interaktionsmodi (2004, S. 26 ff.):
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Diese Hinweise sind besonders im Kontakt mit hoch aggressiven Kindern dazu dienlich, Mismatchings mit eskalierenden Interaktionsspiralen zu vermeiden. Wie erwähnt, werden Blick- und Körperabwendung zur Selbstregulation gerade im Schulaltag von den Lehrern oft als „die kalte-Schulter-Zeigen“, d.h. als Aggression mißverstanden. Auch die hypervigilante Dauerbeobachtung des Lehrers, die bei Opfern früher Traumatisierung als „Gefahrenscanning“ bekannt ist, wird leicht als „provozierender“ Blick interpretiert, der über Ve r folgen-und-Ausweichen aggressive Interaktionszirkel heraufbeschwören kann.
Die zitierte Kinderanalytikerin Topel erinnert daran, daß die beschriebene therapeutische Protokonversation nicht in einem exklusiven Sinne zu verstehen ist: „Die wichtige Überführung nonverbaler in verbale, impliziter in explizite Kommunikation soll damit weder übersehen noch unterschätzt werden“ (2004, S. 29).
Diese Überführung nonverbaler in verbale Kommunikation haben auch Verheugt-Pleiter et al. (2008) im Sinn. Die mikroprozessuale Auswertung ihrer Fallvideographien versetzte die niederländische Forschergruppe in die Lage, die einzelnen therapeutischen Zwischenschritte von nonverbalem Enactment zu verbaler Kommunikation affektiver und mentaler Zustände zu identifzieren. Sie empfehlen, bei affektregulations- und mentalisierungsgestörten Kindern durch Fokussierung von äußerem Verhalten und den damit verbundenen körperlichen Zustä n den die Aufmerksamkeit auf innere Prozesse zu lenken. In dem weiter oben genannten Beispiel des gemeinsamen Bastelns könnte dies durch Benennung der muskulären Anstrengung beim Sägen und Hämmern geschehen. „If your body ist something you can think about and can share thoughts about, you are working towards the regulation of physical processes.“ (ebd., S. 114). In einem nächsten Schritt kann dieser körperliche Zustand dann mit möglichen Affekten verknüpft werden: „Focussing on aspects of behaviour and ascribing a possible expression of emotion or cognition to them is a first step towords highlighting an inner experience.“ (ebd. S. 115). In dem genannten Beispiel wird das äußere Verhalten des gemeinsamen Sägens von Patient und Analytikerin mit der inneren Erfahrung der Last der Anstrengung, aber auch der Lust über das Gelingen des Werkstücks verknüpft. Zugleich ist das gemeinsame Handeln eine Vorform gemeinsamen Erlebens, wodurch es einen Möglichkeitsraum eröffnet, sich in die Position des anderen zu versetzen. Dies befähigt langfristig dazu, auch die Pe r spektive des anderen zu übernehmen. „Naming or describing what can take place between people is an important way of preparing for being able to put yourself in another’s place.“ (ebd., S. 122).
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Ist dieser Möglichkeitsraum eröffnet, können allmählich auch besonders belastende neg a tive Affekte wie Angst oder Wut wahrgenommen und versprachlicht werden. Dabei ist es hilfreich, wenn zunächst die Analytikerin – möglichst auf der Verschiebungsebene des Als-ob-Spiels – die Last dieser ängstigenden Affekte übernimmt und sie in übertriebener, markierter Weise artikuliert, um sie dem Patienten zu spiegeln. Dies kann z.B. so aussehen, daß bei einem Cowboy-und-Indianer-Spiel die Analytikerin in der Rolle des Indianers dem starken Cowboy gegenüber, den der Patient spielt, vor Angst schlottert. Eine starke körpersprachliche Unterstützung der Affekt-Verbalisierung durch die Analytikerin (also: „panische“ Mimik, Zittern am ganzen Leib etc.) schlägt für das Kind eine Brücke von der als reine Erregung gespürten primären Körpersensation zur sekundären Repräsentanz des Affekts.
Wenn Kinder noch nicht in der Lage sind, zu spielen, was bei früh traumatisierten Kindern sehr oft vorkommt, und eher internalisierend, affektiv gehemmt sind, kann eine Annäherung an das Thema der Affektregulation auch über eher direktiv angeleitete, psychoedukative Übungen erfolgen. Dies können Entspannung-, Achtsamkeitsübungen, Phantasiereisen, meditative Rituale sein, die auf einer zunächst rein körperlichen Ebene die Aufmerksamkeit für Körperprozesse und -befindlichkeiten sensibilisieren. Achtsamkeit s übungen aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung (Linehan, 1996) geben hier viele Anregungen: den eigenen Körper spüren, seine Haltung, den Bodenkontakt wahrnehmen; bewußt hören, riechen, sehen, schmecken etc. Eine weitere Möglichkeit sind spielerische Übungen zur Grammatik der Gefühle, z.B. auf Spielkarten mit Bildern affektiv unterschiedlich gestimmter Kinder die Affekte (Wut, Angst, Trauer, Stolz) zu erkennen. Ein nächster Schritt kann „Gefühls-Pantomime“ sein, bei der das Kind selbst Gefühle durch mimische oder körpersprachliche Darstellung ausdrücken soll. Dabei kann man ihm als Übung zur Differenzierung der Vitalitätsaffekte auch die Aufgabe stellen, die Gefühle in kleinen Schritten dramatisierend wie einen Luftballon „aufzublasen“ und in ebenso kleinen Schritten wieder „die Luft rauszulassen“. Hieraus können sich erste kleine Rollenspiele ergeben, welche die Angst vor dem freiem Spiel nehmen.
Handelt es sich um traumatisierte Kinder mit eher externalisierender Symptomatik, die z.B. in der Schule durch Impulsdurchbrüche auffallen, ist es gerade zu Beginn einer Therapie nötig, mit dem Kind zunächst ganz konkrete, symptomorientierte Techniken zu erarbeiten, um diese Kontrollverluste in den Griff zu bekommen. Hier ist neben Aufklärung über Traumafolgen (Kampf-Flucht-Reaktion) und dem Aufspüren der Auslöser von Impulsdurchbrüchen vor allem das Erlernen eines alternativen Umgangs mit diesen Auslösern hilfreich. Hierfür gibt es gezielte Tec h niken zur Impulskontrolle (tief durchatmen, bis 10 zählen, zu sich selbst sagen: „Du bist in Sicherheit“, an etwas Schönes denken etc.), wie sie etwa im psychoanalytisch orientierten Gewaltpräventionsprogramm Faustlos vorgeschlagen werden (Cierpka, 2007). Man darf sich von diesen Techniken nicht die schnelle Lösung versprechen, zumal den Kindern die meist traumaassoziierten Auslöser selten bewußt sind. Dennoch bieten sie einen ersten Zugang zu Gefühlen der Effektanz und der Bewältigungskompetenz.
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Von besonderer Bedeutung sind schließlich traumatherapeutische Imaginationsübungen zur emotionalen Stabilisierung, die heute in fast allen modernen Traumatherapien angewandt werden und die ich bei früh traumatisierten Kindern, wie in Kap. B.2.1.3. ausgeführt, einer Therapie regelmäßig vorschalte, um gegen posttraumatische Überflutungen gewappnet zu sein. Es handelt sich im wesentlichen um die von Luise Reddemann entwickelten Übungen der Psychoimaginativen Traumatherapie (PITT, 2004): die Übung zum Sicheren Ort, einem ganz individuellen Ort, der absolut sicher ist und der in allen sensorischen Modalitäten ausphantasiert wird, sodann die Tresor-Übung, bei der ein stabiler Tresor imaginiert wird, in den alle „schlimmen“ Erinnerungen als Filme und Fotos erst einmal „weggepackt“ werden können. Unterstützend wirkt auch die Übung Der Innere He l fer: hier wird ein Helfer, ein Krafttier oder ein über besondere Fähigkeiten verfügendes Fabelwesen phantasiert, das dem Kind in allen Notsituationen beistehen kann. Weitere hilfreiche Übungen sind die Baumübung, Gepäck ablegen und die Lichtstrahlübung (s. Reddemann, 2001). Es ist wichtig, den Kindern diese Übungen auch als „Hausaufgaben“ mitzugeben, damit sie durch tägliches Training automatisiert werden und in Notfällen, bei traumatischen Intrusionen, zur Selbstberuhigung schnell abrufbar sind.
Affektregulation im weitesten Sinne bieten auch ressourcenorientierte Übungen, die die Stärken des Kindes, d.h. kognitive, soziale, kreative, sportliche Fähigkeiten fokussieren und dadurch Sicherheit vermitteln. Allein die Auflistung und Visualisierung dieser Fähigkeiten (z.B. auf einem großen Poster), Fähigkeiten, die von den Eltern oft für selbstverständlich gehalten und daher gar nicht angemessen gewürdigt werden, kann dem Kind ein erstes Gefühl von Urheberschaft und Bewältigungskompetenz geben. Damit wird ein Gegengewicht zu traumaassoziierten Gefühle der Ohnmacht und Angst geschaffen. Weil früh traumatisierte Kinder meist nur wenige Ressourcen entwickeln konnten, ist es wichtig, auch auf kleinste und bescheidenste Fähigkeiten zu achten (z.B. Fahrrad fahren, einen Hamster versorgen) und diese entsprechend zu würdigen.
Eine in der Therapiestunde gemeinsam erstellte Liste mit angenehmen Aktivitäten kann helfen, ein Gefühl für Möglichkeiten der Selbstfürsorge zu entwickeln: Dinge, die mir Spaß m a chen, also z.B. ein bestimmtes Lied hören, ganz schnell Inliner fahren, den Fußball ins Tor knallen, ein Erdbeereis essen. Hier ist darauf zu achten, daß das Kind diese Dinge auch alleine machen kann, denn auf die Mithilfe anderer angewiesen zu sein, birgt die Gefahr erneuter Enttäuschung.
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Eine weitere Möglichkeit ressourcenorientierter Arbeit besteht im Imaginieren von positiv besetzten Erlebnissen, in denen das Kind, anders als in den traumatischen Situationen, „stark“, „mutig“, „selbstsicher“ war, also z.B. „Wie ich einmal einen Limo-Kasten ganz allein geschleppt habe“ oder „Wie ich zum ersten Mal vom Drei-Meter-Brett gesprungen bin“. Diese Szenen werden dann in allen sensorischen Modalitäten imaginiert. Ich frage das Kind: Wie war das Wetter? Wie warm war es? Was hast du auf der Haut gespürt? Welche Farben hast du gesehen? Was hast du gehört? Wie hat das Wasser gerochen, geschmeckt? Dazu wird das dazugehörige Körpergefühl benannt und lokalisiert und anschließend mit der positiven Kognition „Ich bin mutig“ durch bilaterale Stimulation, z.B. leichtes Klopfen auf die linke und rechte Hand des Kindes, neuronal „verankert“ (eine Übung aus dem EMDR, vgl. Hensel, 2007; Shapiro, 1998).
Die Kinderanalyse steht derartigen Übungen, die ja meist aus nicht-analytischen Verfahren übernommen werden, traditionell kritisch gegenüber, weil sie die Übertragungsentwicklung stören oder doch zumindest beeinflussen. In der Tat kann man diese Übungen nicht pauschal allen Kindern „verordnen“. Eine Ausnahme bildet die Übung zum Sicheren Ort, die bei PTSD-Symptomatik immer angezeigt ist. Der Einsatz solcher Übungen muß daher in jedem Einzelfall gut bedacht werden. Wenn ein Kind z.B. von der ersten Stunde an am Puppenhaus seine traumatischen Erfahrungen nachspielt, ist es sinnvoller, der Entfaltung dieser Szenen zu folgen statt das Kind Affektregulationsübungen zu strapazieren. Allerdings besteht bei posttraumatischem Spiel die Gefahr einer traumatischen Affektüberflutung, weshalb das Kind vor einer Retraumatisierung durch entsprechende Interventionen auf der Spielebene (z.B. Setzen von Grenzen, Einführung helfender Dritter) zu schützen ist (s. dazu Kap. B.2.3.2.).
Im Rahmen einer psychodynamischen Therapie werden jedoch mittlerweile „Importe“ aus anderen Therapieverfahren durchaus akzeptiert, wenn die Wirkung dieser Techniken auf Übertragung und Gegenübertragung sorgfältig reflektiert wird (vgl. Kap. B.1.3.1.). Speziell für die psychodynamische Kindertherapie weist der Kinderanalytiker Naumann-Lenzen auf die besonderen Vorteile solcher Übungen hin:
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„Übungen (Rituale) dieser Art mit Kindern bieten mehrere Vorteile: Sie verdichten den Fokus und intensivieren dadurch das mentale Erleben; sie induzieren eine ‚Mini-Trance’ und stellen dadurch den Kontakt zu assoziiertem, unbewußten Material her; sie stärken die vertrauensvolle Beziehungsebene und die positive Übertragung; schließlich bieten sie im Sinne des Containment einen schützenden, haltenden Rahmen. Ein gerade bei Kindern besonders wichtiger Faktor ist zudem, daß diese Übungen bewußt den ‚Sitz im Körper’, das Sensorium ansprechen, um das Körpergedächtnis in die Arbeit miteinzubeziehen.“ (2008, S. 74). |
Im folgenden Kapitel möchte ich das Thema „Affekte“ mit einer kurzen Fallvignette aus der Anfangszeit meiner klinischen Tätigkeit abschließen
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Die 7jährige Isabel wird mir von ihrer alleinerziehenden Mutter wegen massiver schul i scher Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme sowie sozialer Verhaltensauffälli g keiten vorgestellt. Letzte Woche habe sie sich im Sportunterricht „aus heiterem Himmel nackt ausgez o gen“. Die Schwangerschaft und Isabels drei ersten Lebensjahre seien durch die belastete B e ziehung zum alkoholkranken Kindsvater geprägt gewesen, der die Mutter regelmäßig geschlagen habe. Auch nach der Trennung habe die Mutter „immer wieder Probleme mit Männern gehabt“. Isabel, vier Wochen zu früh auf die Welt geko m men, sei ein „Schreibaby“ gewesen, habe der Mutter „keine einzige ruhige Nacht gegönnt“ und sei von jeher extrem „zappelig“. Die Mutter habe sich „sehr um sie bemüht“, auch „aus Schuldgefühlen“, wie sie z u gibt, doch Isabel habe es ihr „nicht gedankt“. Sie habe ihr stattdessen „die ganze Zeit auf den Nerven herumgetrampelt“ und mache ihr bis heute „das Leben zur Hölle“. So manches Mal, bekennt die Mutter, sei ihr schon „die Hand au s gerutscht“.
Zur Therapie erscheint ein hübsches, extrem hyperaktives Mädchen, das mich in Dauererregung anstrahlt und wie aufgezogen durch das Therapiezimmer fegt. Ich ärgere mich über das Chaos, das sie in Windeseile anrichtet und bin durch ihren fixierenden „Strahle-Blick“ stark irritiert. Schnell ergibt sich eine „Szene“, in der ich ihr ständig hinterherhaste, um Unfälle zu verhüten, Spielzeug nicht zu Bruch gehen zu lassen, den Inhalt des Sandkastens zu retten etc. Ich fühle mich überrannt und versuche Isabel meinerseits an bestimmten Spielorten zu „fixieren“, indem ich z.B. ihr wahlloses Hantieren am Puppenhaus in eine Spielszene „umzudeuten“ versuche, doch sie lacht nur und hastet zum nächsten Spielort weiter. Als ich mich in weiteren Deutungen versuche („da bist du jetzt ganz aufgeregt“, „da bist du jetzt ganz sauer“) scheint sich ihr Tempo noch zu steigern. Sie rast geradezu durch den Raum, hält sich schließlich die Ohren zu und bricht in „hysterisches“ Dauergelächter aus.
Ich agiere diese „Szene“ zunächst einige Therapiestunden in einer Mischung aus Hilflosigkeit, Verzweiflung, Wut und dumpfer Lähmung mit, bis sich Isabel schließlich an den Zeichentisch setzt. Sie nimmt ein Blatt Papier und Stifte, fordert mich mit gebieterischer Geste auf, am Tisch Platz zu nehmen, legt mir ebenfalls ein Blatt hin und sagt: „Du sollst mir alles nachmachen!“ Ich bin zunächst erleichtert, daß Ruhe einkehrt und sich eine gemeinsame kreative Szene anzubahnen scheint. Doch bald fühle ich mich erneut unter Druck gesetzt, da ich ihr alles „genau nachmalen“ muß, sie mein Malen aufmerksam verfolgt und mich sofort anherrscht, wenn ich „Fehler“ mache. Als ich versuche, auf die Inha l te ihres Bildes einzugehen, um die unbewußt-symbolische Ebene anzusteuern, reagiert sie nicht. Stattdessen achtet sie nach wie vor aufmerksam darauf, daß ich „richtig“ kopiere und reagiert mit Übergriffen, indem sie auf meinem Blatt heftige Korrekturen vornimmt. In der Gegenübertragung werde ich immer ärgerlicher, fühle mich kontrolliert, „verfolgt“ und versuche mich durch Deutungen zu befreien. Da ich zu Beginn meiner klinischen Tätigkeit einer eher klassisch-objektbeziehungs-theoretischen Position anhing, interpretierte ich ihr Verhalten als „omnipotente Kontrolle des Objekts“ im Sinne Winnicotts. Wegen meiner aggressiven Gegenübertragung fühlte ich mich in der Überzeugung bestätigt, daß Isabel ihre gewaltige Übertragungswut durch eben diese Kontrolle abzuwehren suchte, indem sie die Wut projektiv-identifikatorisch bei mir unterbrachte. So gab ich ihr, als sie mir wieder einmal mit dem Buntstift ärgerlich in mein Bild hineinfuhr, um ein Detail zu korrigieren, sinngemäß die Deutung: „Ich merke, da wirst du ganz sauer auf mich, wenn ich anders male als du …da wünschst du dir, daß ich genauso bin und genauso male wie du … aber ich bin ja jemand ganz anderes, und das ist mein Bild, das will ich malen wie ich will, und das macht dich stinksauer…“ etc. Isabel reagierte darauf, indem sie zunächst überhaupt nicht auf meine Worte achtete, sich dann die Ohren zuhielt und schließlich aufsprang und wieder „hysterisch“ lachend durch den Raum raste. Es war überdeutlich, daß hier etwas gründlich fehlgelaufen war.
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In meiner Not suchte ich Supervision bei einer Kollegin, die sich seit längerer Zeit mit Säuglingsforschung befaßte. Sie verhalf mir zu einem ganz anderen Blick auf die „rasende Isabel“: Sie meinte, daß sich hier ein klassisches „Verfolgen und Ausweichen“ reinszenierte, das möglicherweise aus der Zeit stammte, als eine übererregte traumatisierte Mutter Trost und Beruhigung bei ihrem ebenso übererregten traumatisierten Baby suchte. Dieses Baby, das natürlich noch nicht trösten konnte und der Mutter ihre Zuwendung „nicht dankte“, begann auf sich allein zurückgeworfen, sich durch hypermotorische Eigenstimulation zu regulieren. Die Supervisorin fragte mich, was dazu geführt habe, daß die „rasende Isabel“ sich schließlich am Zeichentisch niedergelassen habe, ob mir irgendeine Veränderung in unserer Beziehung aufgefallen wäre? Leicht beschämt mußte ich zugeben, daß ich mich an nichts erinnern könnte, sondern daß ich einfach nur froh gewesen sei, daß endlich Ruhe einkehrte. So wird es der Mutter sicher auch oft gegangen sein, meinte die Kollegin und ging dann auf die nächste Szene, das „Abmalen“ ein. Sie informierte mich, daß desorganisiert gebundene Kinder im Vorschulalter oft ein „kontrollierendes“ Verhalten entwickelten, um die Verfügbarkeit der Bindungsfigur zu sichern. Deshalb, so die Supervisorin, drückte Isabels Verhalten keinen von destruktiver Aggression getriebenen „omnipotenten Kontrollwunsch“ aus, sondern eine Bindungssehnsucht. Wahrscheinlich verberge sich hinter Isabels Kommandoton der Wunsch, eine Erfahrung von „so wie ich“ mit einem spiegelnden, responsiven mütterlichen Objekt zu erleben, mit der Analytikerin gemeinsam Synchronizität, „attunement“, „fitting together“ zu erleben. Ich könnte in den folgenden Stunden ja schauen, ob mir das weiterhelfen würden.
Und ob es mir weiterhalf! Das Verblüffendste war, daß sich in den folgenden Therapiestunden, die nach ähnlichem Muster abliefen, nicht nur mein Blick auf die „Szene“ und die Patientin verändert hatte, sondern zugleich auch die Gegenübertragung. Obwohl es immer noch „strapaziös“ für mich war, der Patientin alles akribisch nachmalen zu sollen, empfand ich dies nicht mehr als aggressive Kontrolle, sondern konnte die Not dahinter spüren. Als Isabel mir wieder einmal in mein Bild fuhr und empört rief: „Du machst das ganz falsch, Frau Volk!!“ - ich hatte die Strahlen der Sonne zu kurz gemalt -, lehnte ich mich zurück, blickte sie mit leicht geneigtem Kopf an und sagte in gespielter Entrüstung, den Kopf schüttelnd: „Na-na-na… macht die Frau Volk das ganz falsch!“. Isabel schaute mich verdutzt an, lächelte dann und wiederholte leise: „na-na-na“. Ich antwortete lächelnd: „na-na-na“. Daraufhin entspann sich ein präverbaler Lautierungs-Dialog rund um „na-na-na“, der in zahlreichen Variationen auf- und abschwoll und schließlich in gemeinsamem Gelächter endete.
Es war, wie wenn ein Bann gebrochen wäre, wie wenn ich Isabel endlich „verstanden“ hätte! Das „na-na-na“-Spiel wurde von nun an zum zentralen Begrüßungsritual am Stundenanfang, das nach genau festgelegtem Muster ablief: Immer begann es mit einem strengen Blick der Patientin, die mir einen Kopie-Auftrag gab, bei dem sich jedoch mehr und mehr ein Augenzwinkern, ein „Als-ob“ einschlich und die Patientin auch immer flexibler wurde: mal mußte ich nach ihrer Anleitung kleine Knetkügelchen formen, mal Krepp-Papier-Streifen schneiden etc. Irgendwann kam dann der mit Spannung erwartete „Anschiß“, Isabels korrigierender Eingriff. Ich reagierte mit gespielt-empörtem „na-na-na“, und dann ging das „na-na-na“-Spiel los, das manchmal leise und verhalten, manchmal laut und wild wurde und Formen „gemeinsamer Empörung“ annahm, um schließlich in Gelächter zu enden. Nach diesen Momenten der Affektsteigerung stand Isabel dann jedesmal auf, reckte und streckte sich und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. „Heut’ spielen wir …“ murmelte sie, während sie sich entspannt im Kreise drehte. Dort, wo ihr Blick dann hängenblieb, machten wir uns an die Arbeit, natürlich noch immer unter ihrem „strengen Kommando“, das ich aber inzwischen nicht mehr als „omnipotente Kontrolle“ erlebte. Isabel und ich hatten uns gefunden.
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Diskussion
Dieser Fall illustriert den Prozeß des Anknüpfens am Ort früher Entgleisung (Topel, 2004), durch den ein therapeutischer Kontakt hergestellt werden kann. Über Protokonversation, über einen präsymbolischen Lautierungsdialog gelang es, Isabel auf dem Entwicklungsniveau anzusprechen, auf dem sie sich in der Übertragung befand. Neben dem reinen Containing ihrer inneren Getriebenheit, das dazu beitrug, daß sie sich motorisch beruhigte, war es mein durch Supervision veränderter Blick auf die „Szene“, welcher zu einem besseren Verständnis und damit einer interaktiven Regulation der Dyade führte. Über meine markierte Affektspiegelung („gespielte“ Empörung) konnte Isabel die sekundäre Repräsentanz ihres Affekts stärken, über das „Augenzwinkern“, den kontrastierenden Affekt i.S. des Als-ob-Spiels, gelang es uns, diesen Affekt auch zu regulieren. Vor allem aber konnte sich ein „Schema-des-Zusammenseins“ (das „na-na-na“-Spiel) etablieren, das in Zeit, Raum, Affekt und Erregung organisiert war (Beebe & Lachmann) und als charakteristischer, vorhersagbarer und erwartbarer Interaktionsablauf am Beginn der Therapiestunden als eine Art „Begrüßungritual“ stand. Über dieses interaktive Regulierungsmuster als „temporale Gefühlsgestalt“ (Stern) nahm der Prozeß ständiger Regulierung in der analytischen Dyade seinen Anfang. Insbesondere in den Momenten der Affektsteigerung (gemeinsames Gelächter) konnten Patientin wie Analytikerin eine interaktive Transformation ihres Zustands erleben (Beebe & Lachmann).
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Isabels lebensgeschichtlich erworbenes Erwartungsmuster von Fehlregulierung (Verfolgen und Ausweichen), das sich in den ersten Stunden reinszenierte, wurde auf diese Weise wenn nicht „gelöscht“, so doch zumindest ergänzt durch ein neues Erwartungsmuster erfolgreicher interaktiver Regulierung, in den Worten Sterns: durch ein neues intersubjektives Beziehungswissen. In diesem Sinne läßt sich der Moment des ersten „na-na-na-Spiels“ auch als ein M o ment der Begegnung begreifen.
Neben der Arbeit an Bindungssicherheit, an der Symbolisierung nonverbaler Inszenierungen, an der Regulation und Differenzierung von Affekten ist bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder die Arbeit an der Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit wesentlich. In der Kinderanalyse läßt sie sich am besten durch das therapeutische Spiels fördern, erst bei älteren Kindern durch das therapeutische Gespräch.
Aufbauend auf ihren theoretischen Überlegungen zu Genese und Störungen der Mentalisierungsfähigkeit haben die Forscher um Peter Fonagy ein Mentalisierungsgestütztes B e han d lungskonzept (MBT, mentalization based treatment, Bateman & Fonagy, 2004, 2008) entwickelt. Zwar wurde dieses Konzept für die Therapie traumatisierter erwachsener Borderline-Patienten entworfen, doch lassen sich seine Prinzipien durchaus auf die Therapie früh traumatisierter Kinder übertragen, da diese Kinder auch als potentielle Borderline-Persönlichkeiten verstanden werden können (vgl. Kap. A.4.2.).
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Die Analytikerin sollte zunächst eine grundlegende mentalisierende Haltung einnehmen. „Als mentalisierende Haltung bezeichnen wir die Fähigkeit des Therapeuten, kontinuierlich zu überlegen, welche inneren mentalen Zustände des Patienten bzw. seiner selbst das aktuelle Geschehen erklären könnten.“ (Bateman & Fonagy, 2008, S. 305). Damit ist die Erforschung der vorherrschenden Affekte und Emotionen im Hier und Jetzt gemeint, die analog der affektspiegelnden Funktion der Mutter durch eine fortwährende Aufrechterha l tung psychischer Nähe des Therapeuten zum Patienten möglich wird. „Die psychische Nähe zu gewährleisten ähnelt dem Prozeß, durch den die empathische Reaktion der Bezugsperson dem Säugling ein Feedback über seinen emotionalen Zustand vermittelt…“ (ebd., S. 315)
Die Übertragung wird sehr vorsichtig gehandhabt. Nicht nur, daß sie nicht als Wiederholung der Vergangenheit verstanden und gedeutet wird, sondern daß sie zunächst als reales aktuelles Erleben des Patienten anerkannt wird. Direkte Deutungen, so die Autoren, verwirren und überfordern den Patienten. „Komplexe Erläuterungen, die sich auf die ‚Wahrheit’ des Therapeuten stützen, sind unangebracht.“ (ebd., S. 312). Stattdessen sprechen die Autoren von Übertragungsmarkern. „Ihre Funktion besteht darin, den nächtlichen Himmel zu erhellen, den Weg zu weisen, alternative Perspektiven zurückhaltend anzudeuten; sie sollen weder konfrontieren noch in Frage stellen.“ (ebd., S. 312 f.). In dieser Position grenzt sich die „Mentalisierungsgestützte Behandlung“ von Bateman & Fonagy nicht nur von der „Übertragungsfokussierten Behandlung“ Kernbergs (Clarkin et al., 2001) ab, sondern nähert sich im Ergebnis auch psychodynamischen Posititionen an, die einen äußerst vorsichtigen Umgang mit Deutungen bei traumatisierten bzw. strukturschwachen Patienten empfehlen (Fischer, 2000; Reddemann, 2004; Rudolf, 2005; Sachsse 2004; Wöller, 2006).
In der Kindertherapie spielt die sprachlich vermittelte Selbstreflexion innerer Befindlichkeiten des Patienten eine eher untergeordnete Rolle. Entsprechend dem Lebens- und Entwicklungsalter des Kindes werden innere Impulse, Wünsche, Intentionen, Affekte, konflikthafte Selbst- und Objektrepräsentanzen primär durch das Spiel externalisiert. Auf der „Spielbühne“ können Kinder ihre inneren Schreckensbilder aufscheinen lassen, um sie dort in gesicherter Distanz betrachten, kontrolliert wiedererleben und integrieren zu können.
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Fonagy et al. betonen, daß das frühe Als-ob-Spiel zwischen Kind und Bindungsfigur der zentrale Ort ist, an dem das Kind lernt, Äquivalenz-Modus und Als-ob-Modus in den reflektierenden Modus einer reifen Mentalisierungsfähigkeit zu integrieren (vgl. Kap. A.4.1.2.4.). Für diesen Mentalisierung- bzw. Symbolisierungsprozeß „..muß das Kind immer wieder Gelegenheit finden, (a) seine augenblicklichen mentalen Zustände wahrzunehmen, (b) sie im Denken und Fühlen des Objekts repräsentiert zu sehen und (c) den Rahmen wahrzunehmen, den die normalerweise an der äußeren Realität orientierte Perspektive des Erwachsenen repräsentiert (Fonagy et al., 2004, S. 271 f.)
Das therapeutische Spiel ist also ein idealer, wenn nicht der ideale Ort, die Mentalisierungsfähigkeit des früh traumatisierten Kindes zu entwickeln. Dabei werden Affekte, Impulse und Konflikte – so inzwischen der behandlungstechnische Mainstream– nicht direkt auf die Situation des Kindes bezogen, sondern nur analog auf der Spielebene angesprochen und gedeutet (zur Frage der Deutung des kindlichen Spiels vgl. weiter unten Kap. B.2.2.5.6.).
Viele früh traumatisierte Kinder sind jedoch gar nicht fähig, im Als-ob-Spiel die Brücke zur Realität zu halten. Sie sind im Äquivalenz-Modus arretiert, in welchem inneres Erleben und äußere Realität gleichgesetzt werden. Es ist Aufgabe der Analytikerin, Grenzen zw i schen Innen und Außen zu ziehen. Dies geschieht, indem die Analytikerin durch Nachfragen („Spielstop: Wer wärst du jetzt? … Und wer wär ich?“) ständig die unsichere Grenze zwischen „im Spiel“ und „in echt“ markiert bzw. wiederherstellt. Richtet das Kind z.B. die Armbrust mit eingelegtem Pfeil auf die Analytikerin, muß sie zunächst die Grenze ziehen („Halt! Schießen ‚in echt’ nur auf die Schießscheibe!“). Wenn das Kind nicht reagiert, muß sie ihm zunächst den Pfeil wegnehmen, um die Grenze zur Realität zu markieren („hier soll niemand verletzt werden“). Sie kann dann aber versuchen, die Ebene des Als-ob-Spiels anzusteuern, indem sie, nun von der gefahrlosen Armbrust „bedroht“, in gespielter, markierter Angst die Hände hochnimmt und bettelt: „Nein! Bitte nicht schießen! Hilfe!!“. Parallel dazu fragt sie „in echt“ die „Regieanweisung“ ab: „Wärst du jetzt ein ‚Guter’ und ich ein ‚Böse’? Oder wer könnten wir sein, im Spiel?“. Eine andere Möglichkeit wäre, mit „Augenzwinkern“ eine gespielt „empörte“ Mama zu markieren und zu drohen: „Warte, du Schlingel! Gibt sofort die Armbrust her! Wirst du wohl!“, woraus sich eine lustvolle Jagd durch das Therapiezimmer als frühkindliches Fang-mich-Spiel ergeben könnte. „Explicitly introducing pretend thinking can help in dealing with both the reality aspects and the fantasy aspects.“ (Verheugt-Pleiter et al., 2008, S. 136). Dieses Hin-und-Herpendeln zwischen Realität und Phantasie erweitert den „Möglichkeitsraum“ (Winnicott) und befähigt zunehmend, „mit der Realität zu spielen“ (vgl. Kap. A.4.1.).
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Ist ein Als-ob-Spielprozeß in Gang gekommen, geht es im weiteren Verlauf um die Ident i fizierung von Affekten. Die Analytikerin fragt immer wieder nach, welche Gefühle die Protagonisten im oft hektischen posttraumatischen Spiel in der jeweiligen Situation haben, wie es zu diesem Gefühl gekommen ist (Vorläufer des Gefühls) und welche Konsequenzen dies für die Gefühle der anderen Personen der Spielszene hat. Dominierendes Gefühl ist die Aggression und die dahinter liegende Angst. Im Laufe dieses Prozesses „arbeitet der Therapeut die Beziehung zwischen Angst und Aggression deutlich heraus; dabei fokussiert er die Angst und nicht die Aggression als zentrales Problem.“ (Bateman & Fonagy, 2008, S. 353)
Dieser Prozeß der Identifizierung von Affekten nimmt in der Therapie früh traumatisierter Kinder breiten Raum ein. Zunächst sind die Kinder i.d.R. völlig außerstande, die Affekte zu benennen. Sie erleben die Affektstürme als diffuse Erregungszustände. Zudem stehen sie unter so starkem Externalisierungsdruck, daß sie das Reflektierende, Distanzierende einer mentalisierenden Haltung als Fessel erleben und schnell gestreßt reagieren, wenn die Analytikerin zu viel nachfragt („is doch egal, du mußt jetzt schießen!!“). Die Analytikerin bewegt sich hier auf einem schmalen Grat. Einerseits soll sie durch affektives Engagement und „Einschwingen“ auf die Vitalitätsaffekte des Patienten der Ko-Konstruktion der Szene zur Entfaltung verhelfen, andererseits soll sie parallel dazu eine mentalisierende, reflektierende Haltung beibehalten, um dem Patienten eine Repräsentation seiner Affekte zu ermöglichen. Im Eifer des Gefechts einer intensiven Szene ist diese reflektierende Haltung erfahrungsgemäß kaum zu bewahren, sondern sie gelingt erst wieder nach Abschluß der Szene, wenn sich die Wogen des Affekts gelegt haben. Diese affektidentifizierenden, mentalisierungsfördernden Nachfragen sind andererseits geeignet, affektive Überhitzungen des spielerischen Geschehens „abzukühlen“ und dadurch einer Überflutung des Patienten durch traumatisches Material zu begegnen.
Ist der Patient zunehmend in der Lage, Affektzustände zu benennen und eigene Affekte besser unter Kontrolle zu halten, lassen sich die Affekte von Spielfiguren mit mentalen Vorstellungen verknüpfen und somit stabilere Repräsentationssysteme entwickeln. Bateman & Fonagy unterscheiden dabei „die Identifizierung primärer Überzeugungen und deren Verknüpfung mit Affekten …, die Identifizierung und das Verständnis sekundärer Überzeugungszustände (Überzeugungen, die die Überzeugungen anderer Menschen betreffen), die Untersuchung von Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und anderen motivationalen (oder Bedürfnis-)Zuständen.“ (2008, S. 375).
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Übertragen auf die Kindertherapie könnte das z.B. in einer Spielszene am Puppenhaus so aussehen, daß ein „böses“ Puppenkind vom Puppen-Papa zur Strafe in den Keller gesperrt wird. Zunächst gilt es nun, den Affekt des Puppenkindes zu identifizieren (z.B. Angst oder Wut oder Enttäuschung) und mit seinen Selbstüberzeugungen zu verknüpfen (was denkt es von sich? Findet es auch, daß es böse ist? Wie fühlt es sich, wenn es denkt, daß es böse ist?) Als nächstes sind die sekundären Überzeugungen, bezogen auf den Puppen-Papa, zu eruieren (was meinst du, denkt der Papa über das Kind? Findet er, daß das Kind böse ist? Was fühlt er, wenn er meint, daß das Kind böse ist?). Nun können die daraus folgenden Intentionen erkundet werden (sperrt der Papa das Kind ein, weil er ihm Angst einjagen will, oder weil er will, daß das Kind „darüber nachdenkt“, hat er es nur gemacht, weil die böse Mama es wollte oder hat er das Kind aus Versehen im Keller vergessen?). So lassen sich nach und nach Repräsentationen der Affekte etablieren und mit den jeweiligen Motiven und Intentionen der handelnden Personen verknüpfen. Auf diese Weise wird es möglich, motivationale und intentionale Alternativen zu ein und derselben Handlung einer Person (Spielfigur) zu entwickeln.
Das letztgenannte Beispiel ist allerdings insofern eher „idealtypisch“ als es eine bereits durchschnittlich entwickelte Mentalisierungsfähigkeit des Kindes voraussetzt. Über diese verfügen jedoch früh traumatisierte Kinder meist noch nicht, weshalb bei ihnen in viel kleineren Schritten vorgegangen werden muß, um affektive und mentale Zustände zu identifizieren.
Die bereits zitierte kinderanalytische Forschergruppe um Annelies J.E. Verheugt-Pleiter (2008) hat Leitlinien zur mentalisierungsgestützten Kindertherapie entwickelt, in denen diese Kleinschrittigkeit in der Therapie sehr eindrücklich dargestellt wird. Die Autorinnen unterscheiden die Bezugnahme auf mentale Inhalte und auf mentale Prozesse.
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Mentale Inhalte können neben der Als-ob-Ebene („da denkt der Kasper, glaub ich, daß er die Prinzessin gern heiraten möchte …“) auch auf der direkten Gesprächsebene mit dem Kind erforscht werden. Bei mentalen Inhalten des Kindes geht es darum, „to look at the primary experience from a different point of view, and to make different attributions to affect representations.” (ebd.) Erzählt z.B. ein Kind, daß es „so schön ist, am Sonntagmorgen auszuschlafen“ und daß es „immer das Fußballspiel der Nachbarskinder am Sonntagmorgen verpaßt“, könnte man sich im therapeutischen Gespräch zunächst dem affektiven Erleben des Ausschlafens (z.B. lustvoller Geborgenheit) sowie des Spiel-Verpassens (z.B. Gefühl des Ausgeschlossenseins) widmen und anschließend einen veränderten Blick auf die „lustvolle Geborgenheit“ als sekundäre Affektrepräsentanz werfen, um so den Prozeß der sekundären Repräsentanzenbildung zu befördern. Die naheliegende Spontan-Deutung „da bist du im Konflikt, ob du ausschlafen sollst oder lieber früh aufstehen, um das Spiel nicht zu verpassen“ könnte ein mentalisierungsgestörtes Kind bereits überfordern.
In einem nächsten Schritt lassen sich mentale Prozesse beim Kind, also Gedanken, Erinnerungen, Phantasien, Wünsche, Intentionen, erforschen. „Once a certain level of affect regulation and mentalization has been achieved, the child can be challenged to see perspectives different from his own, often rigid, views. ‘Playing with reality’ starts to become an option.” (ebd. S. 163). Auch hier ist noch Vorsicht bei Deutungen geboten. Insbesondere sollte die Analytikerin stets gewahr sein, daß die „rigiden Überzeugungen“ des Patienten i.d.R. als Schutz vor traumatischen Verletzungen entstanden und als solche zunächst anerkannt werden müssen. Nehmen wir an, ein Junge, der zu Tätlichkeiten neigt, erzählt, daß „immer er Ärger kriegt, obwohl es die anderen Kinder sind, die ihn immer provozieren“. Die Deutung, daß die Provokationen der anderen seine eigene projizierte Wut sei oder, noch weiter gehend, die Wut auf seinen mißhandelnden Vater, könnte inhaltlich zwar richtig sein, würde aber den mentalen Zustand des Patienten völlig verfehlen. Angezeigt wäre hier vielmehr, den Ablauf einer derartigen Szene zu rekonstruieren, sie in ihre Einzelteile zu zerlegen und die dazugehörigen Gefühle und die damit verbundenen Gedanken zu erforschen („da hast du dich X gefühlt, und dann haben dieY gemacht, und dann hast du Z gedacht“ etc.). Erst wenn dieser Ablauf klar ist und der Patient sich damit einverstanden erklärt hat, kann in einem zweiten Schritt darangegangen werden, die möglichen Gedanken und Gefühle der anderen Beteiligten aus der Sicht des Patienten zu erforschen. Auch hier sollten die wahrscheinlichen Fehlwahrnehmungen der Motive der anderen zunächst nicht korrigiert werden. Der Patient braucht zunächst einmal die Spiegelung seiner Wahrnehmung, um das System seiner sekundären Affektrepräsentanzen zu stärken. Im Rahmen einer grundlegenden mentalisierenden Haltung (s.o.), die von neugierig-empathischem Interesse an den mentalen Innenwelten des Patienten getragen ist, können dann auch andere Perspektiven, die seiner „Opfer“, spielerisch eingenommen werden, um ihm zu mehr Empathie zu verhelfen.
Es fällt auf, daß sowohl bei der Mentalisierung als auch bei der Affektregulation primär die Identifizierung von Affekten und die Bildung sekundärer Repräsentanzen eben dieser Affekte intendiert wird. Die Grenze zwischen Mentalisierung und Affektregulation ist also fließend, worauf sowohl Verheugt-Pleiter et al. (2008, S. 143) als auch Fonagy et al. (2004, S. 12) hinweisen. Affektregulation und Mentalisierung kann man demnach als zwei Seiten derselben Medaille sehen. Erst dadurch, daß der Patient sekundäre Repräsentanzen seiner Affekte bildet, gewinnt er die nötige selbstreflexive Distanz, um von diesen Affekten nicht überwältigt zu werden und über sie nachdenken zu können. Fonagy et al. bezeichnen diese Fähigkeit als reife „mentalisierte Affektivität“ (ebd.).
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In der klassisch-psychoanalytischen Elternarbeit geht es bekanntlich um die „Verstrickung zwischen der eigenen Geschichte und der Geschichte des Kindes“ (Ahlheim & Eickmann, 1999, S. 381). Neben einer an das Bewußtsein adressierten psychoedukativen Elternaufklärung und Elternberatung handelt es sich auf einer tieferen, psychodynamischen Ebene darum, „die elterlichen Projektionen, Delegationen und Vereinnahmungen aufzudecken und zu bearbeiten.“ (Petersen, 1999, S. 344). Die Verknüpfung zwischen kindlicher und elterlicher Konfliktdynamik „aufzudecken und zu bearbeiten, ist … eine ‚conditio sine qua non’ der analytischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.“ (Diez Grieser, 1996, S. 243). Nur wenn Eltern in der Lage sind, „den Schmerz, die Angst und Verzweiflung ihrer eigenen Kindheit erinnern zu können, nur dann können sie auch Schmerz, Angst und Verzweiflung bei ihren eigenen Kindern wahrnehmen und annehmen.“ (Ahlheim & Eickmann, 1999, S. 388).
Um mit den Eltern erfolgreich therapeutisch arbeiten zu können, müssen bestimmte ich-strukturelle Voraussetzungen i.S. der Fähigkeit zu „reifer Elternschaft“ vorhanden sein. „In der Literatur … besteht Übereinstimmung darüber, daß die Bewältigung früher Ablösungskonflikte, ein untergegangener Ödipuskomplex und stabile Ich-Funktionen günstige Voraussetzungen für die Ausübung reifer Elternschaft darstellen.“ (Windaus, 1999, S. 310)
Eltern früh traumatisierter mentalisierungsgestörter Kinder aus Hoch-Risiko-Milieus bringen diese ich-strukturellen Voraussetzungen für eine reife Elternschaft und eine entsprechende psychoanalytische Elternarbeit nur selten mit. Sie leiden meist selbst unter massiven Mentalisierungsdefiziten, die aus eigenen Traumatisierungen stammen, weshalb eine konfliktorientierte, aufdeckende Elternarbeit sie, ebenso wie ihre Kinder, schnell überfordert. „Interventions aimed at gaining insight, giving meaning and resolving unconscious conflicts are too much for these parents.” (Verheugt-Pleiter et al., 2008, S. 73).
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Im Sinne der weiter oben beschriebenen mentalisierungsgestützten Arbeit sollten stattdessen in der Elternarbeit zunächst die Affekte und Gedanken der Mutter erforscht werden (z.B. „ich würd ihn am liebsten an die Wand klatschen!“), die mit bestimmten Han d lungen des Kindes (z.B. „nie räumt er sein Zimmer auf!“) verbunden sind. Fragen, die in klassischer Elternarbeit gestellt werden (z.B. wie die Mutter selbst sich als Kind gefühlt hat, wenn sie ihr Zimmer aufräumen mußte etc.) verwirren eine mentalisierungsgestörte Mutter nur. Sie fühlt sich wahrscheinlich schnell mißverstanden, überwältigt und angegriffen. „It is then much more effective to focus on the child’s behavioural pattern and see the parents’s point of view on it. This can give the feeling of shared experience.” (ebd., S. 77). Im Fall einer selbst traumatisierten Mutter könnte es z.B. sinnvoll sein, zunächst ihrem eigenen momentanen mentalen Zustand („an die Wand klatschen wollen“) weiter nachzugehen und zu verbalisieren. So könnten ihre Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht und Wut thematisiert werden. Oft erleben Eltern dabei zum ersten Mal, daß jemand diese ihre innere Erfahrung versteht, verbalisiert und validiert, und dies führt zu einer „initial awarenes of being a person with a perception world of your own.“ (ebd., S. 80.)
Allerdings heißt dies, daß die Analytikerin zunächst über weite Strecken die Projektionen, Übertragungen und Delegationen der Mutter, die sie auf ihr Kind richtet, nicht korrigieren darf, sondern geduldig „containen“ muß: „The therapist must often be willing to – consciously or unconsciously – go along with a projected picture with which she does not agree.“ (ebd., S. 79). Im Falle emotionaler oder gar physischer Mißhandlung des Kindes, die durch elterliche „Gespenster im Kinderzimmer“ (Fraiberg et al., 1975) ausgelöst werden, gerät die Analytikerin dabei oft in schwierige Situationen.
Hat die Mutter durch diese Arbeit allmählich ein Gefühl für ihre eigene innere mentale Welt erworben hat, kann vorsichtig damit begonnen werden, die mentale Welt ihres Kindes, zunächst aus der Sicht der Mutter, zu ergründen. Dabei handelt es sich nicht darum, diese meist verzerrte Sicht (z.B. „das macht er nur, um mich zu ärgern!“) zu korrigieren, sondern zunächst ein Gefühl dafür wachsen, daß das Kind, ebenso wie die Mutter, eine eigene mentale Welt besitzt. Das ist ein erster Schritt, die innere Welt der Mutter von der des Kindes zu trennen. Erst danach kann darangegangen werden, spielerisch alternative Sichtweisen der inneren Welt des Kindes einzuführen, um ein Gefühl für unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Handlung des Kindes zu entwickeln. Hier wird erneut die extreme Kleinschrittigkeit des Vorgehens deutlich. Es ist weit entfernt von komplexen Deutungen unbewußter Konflikte, indem es überhaupt erst die Basis dafür schaffen muß, daß die Eltern in späteren Behandlungsphasen von solchen Deutungen profitieren können.
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Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Arbeit im Hier und Jetzt. Diese Empfehlung, die sich in der psychodynamischen Arbeit mit schwer gestörten Patienten inzwischen weitgehend durchgesetzt hat, gilt ganz besonders auch für die Arbeit mit mentalisierungsgestörten Eltern. Denn gerade in der Elternarbeit besteht die Gefahr, durch den Blick in die Vergangenheit nach Zusammenhängen zwischen dem Leiden des Kindes und der leidvollen Biographie der Eltern zu suchen. Dieses Vorgehen, das für die Arbeit mit reif-neurotischen Eltern zielführend ist, ist aber bei mentalisierungsgestörten Eltern wenig hilfreich.
Die Empfehlung, im Hier und Jetzt zu bleiben, umfaßt auch die therapeutische Beziehung. Dies bedeutet, die Beziehung ständig daraufhin zu überprüfen, ob die Analytikerin die „psychische Nähe“ (vgl. Fonagy & Bateman, 2008) zur Mutter aufrechterhalten kann. Diese psychische Nähe ist äußerst sensibel auszutarieren, denn zuviel Nähe, z.B. durch eine affektiv zu „heftige“ Empathie, wirkt ebenso bedrohlich wie zuviel Distanz, etwa durch eine klassisch-abstinente Haltung der Analytikerin. Die Einstimmung der Analytikerin auf das jeweilige Mentalisierungsniveau wird zusätzlich dadurch erschwert, daß die Mentalisierungsfähigkeit der Mutter stark von ihrem aktuellen Stress-Level abhängt. „The more stress a person experiences, the more difficult it becomes to mentalize.“ (Verheugt-Pleiter et al., 2008, S. 85). So ist es unvermeidlich, daß es im therapeutischen Verständnis der mentalen Welt der Mutter immer wieder zu “misattunements” kommt.
„In parent guidance, just as in any other form of treatment, misattunements may occur … if this is the case, it is important that the therapist take the blame for it. For instance, she might say: ‘I think I didn’t react very sensitively. I don’t know why, but that’s just how it went today; let’s go back and see if we can understand it.” (ebd., S. 86) |
So erfährt die Mutter, daß “misattunements” nicht, wie womöglich sonst in ihrem bisherigen Leben, zu Eskalation und Beziehungsabbruch führen müssen, sondern auf mentalisierende Weise bearbeitet werden können.
Diese Vorgehensweise erinnert stark an das in Kap. B.2.2.4.2. beschriebene Prinzip der Unterbrechung und Wiederherstellung (Beebe & Lachmann, 1994), wie auch der Hinweis auf die Notwendigkeit einer „Aufrechterhaltung psychischer Nähe“ zum Patienten/zur Elternfigur dem von denselben Autoren so genannten Prinzip der ständigen Regulierung ähnelt (ebd.). In der Tat scheint sich hier, trotz der unterschiedlichen epistemischen Traditionen, eine Annäherung zwischen zeitgenössisch-freudianisch orientierten Mentalisierungs-Theoretikern (Bateman & Fonagy; Verheugt-Pleiter et al.) und eher selbstpsychologisch orientierten Regulations-Theoretikern (Beebe & Lachmann) zu vollziehen. Diese Annäherung dürfte in der gemeinsam erkannten Notwendigkeit begründet sein, den Bedürfnissen und Besonderheiten strukturschwacher Patienten mit traumabedingten Entwicklungsdefiziten entgegenzukommen.
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Früh traumatisierte Kinder haben oft ihre Spielfähigkeit eingebüßt und sind zunächst auch auf der Ebene des therapeutischen Gesprächs schwer „ansprechbar“. Hier kann es hilfreich sein – ähnlich den in Kap. B.2.2.4.4. beschriebenen Übungen zur „Grammatik der Gefühle“ –, gemeinsame Spiele und Übungen zum „Entziffern“ von Gefühlen und Gedanken zu veranstalten. Beliebt sind vorgefertigte oder selbstgemalte Comic-Szenen mit leeren Sprechblasen, deren Inhalt „ausgehandelt“ und dann hineingeschrieben wird. Geeignet sind auch Bildergeschichten, wie sie z.B. im Deutsch-Unterricht der Schule verwendet werden, wobei weniger die sprachliche Gestaltung der Handlung interessiert als die Erforschung von Affekten und Gedanken der Beteiligten. Im fortgeschrittenen Stadium der Mentalisierung sind auch Bildergeschichten aus dem Bereich des psychosozialen Kompetenztrainings von Nutzen, in denen typische konflikthafte Szenen aus der kindlichen Lebenswelt dargestellt sind und zur mentalisierenden Reflexion einladen. Wenn von seiten des Patienten keine eigenen Ideen kommen, kann die Analytikerin auch kleine Rollenspiele mit verkehrten Rollen vorschlagen (sehr beliebt: Schüler/Lehrer-Rollentausch), in denen die Analytikerin dann die Gefühle und Gedanken (z.B. des „gequälten“ Schülers) verbalisiert.
Fearon et al. (2006) haben ein mentalisierungsgestützes Familientherapie-Kurzzeitpro-gramm entwickelt (Short-term Mentalization and Relational Therapy, SMART), in welchem die Familienmitglieder auf spielerische Weise angeleitet werden, sich gegenseitig für ihre inneren mentalen Welten zu interessieren. Viele der Spiele lassen sich modifiziert auch auf die Einzeltherapie übertragen: so das Gefühle-Raten-Spiel: Eine Person erzählt eine Alltagsgeschichte, unterbricht an affektiv relevanten Stellen und sagt: „… und da hab ich mich wie gefühlt?“. Das Kind muß dann das Gefühl raten und kriegt, wenn es das richtige Gefühl getroffen hat, einen Chip o.ä.. Schwieriger wird es schon beim Indirekten Gefühle-Raten-Spiel: Hier zieht ein Spieler eine Gefühlskarte, und der andere muß durch maximal zehn Fragen herauskriegen, um welches Gefühl es sich handelt. Später kann auch schon die unmittelbare Analytiker-Patient-Beziehung durch das „Was-denkst-du, daß-ich-heute-über-dich-denke-Spiel“ thematisiert werden. Der Phantasie sind hierbei keine Grenzen gesetzt, und in der Tat geht es bei diesen Spielen weniger um „richtig“ oder „falsch“, sondern um die Flexibilität per se, die das Spielerische der mentalen Haltung fördert.
Die bisherigen Ausführungen zu den Mentalisierungsdefiziten früh traumatisierter Kinder legen den Schluß nahe, daß diese jungen Patienten von klassisch-psychoanalytischen Deutungen unbewußter Konflikte nur bedingt profitieren können, weshalb solche Deutungen über weite Strecken der Behandlung eine untergeordnete Rolle spielen.
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Dennoch soll das Thema „Deutung“ an dieser Stelle nicht völlig außer Acht gelassen werden. Denn das Problemfeld „Deutung in der Therapie früh traumatisierter Kinder“ liegt im Schnittpunkt dreier nach wie vor aktueller psychoanalytischer Diskurse: Es handelt sich 1. um die klassische Kontroverse Einsicht oder Beziehung (Cremerius, 1979), 2. um das spannungsreiche Verhältnis von Erwachsenen- und Kinderanalyse (vgl. die Einleitung zu dieser Arbeit) sowie 3. um die Beziehung von Trauma und Konflikt (vgl. Kap. A.2.2.).
Zu 1 : Die Kontroverse Einsicht oder Beziehung durchzieht die Psychoanalyse seit ihren Anfängen. Neben der einsichtsorientierten Psychoanalyse Freuds, die in der Deutung das mutative Agens sieht, etablierte sich schon früh über Ferenczi, Balint, Winnicott und Kohut eine beziehungsorientierte Psychoanalyse, welche die „korrigierende emotionale Erfahrung“ (Alexander & French, 1946) in den Mittelpunkt des Heilungsprozesses stellt (Cremerius, 1979). Auch wenn diese Kontroverse bis heute nicht beigelegt ist, besteht inzwischen doch insoweit Konsens, daß beides, Einsicht in unbewußte Zusammenhänge und neue Beziehungserfahrung zu einer gelingenden Psychoanalyse gehören. Es hängt vom Strukturniveau des Patienten ab, wie die beiden „Variablen“ jeweils zu gewichten sind.
Dennoch läßt sich auch bei der Behandlung reif-neurotischer Patienten, die von Deutungen profitieren, ein Trend der psychoanalytischen Behandlungstechnik in Richtung „weniger Deutung“ und „mehr Beziehung“ nicht übersehen. Dies mag daran liegen, daß die Befunde der Kleinkind-, Emotions-, Gedächtnis- und Psychotherapieprozeßforschung, die den unbewußten nonverbal-impliziten Austausch zwischen Analytiker und Patient erhellt haben, in der klinischen Praxis auch auf die Behandlung höherstrukturierter Patienten ausstrahlen (vgl. Naumann-Lenzen, 2008, S. 60). Ausgehend von der Erkenntnis, daß es schulenübergreifend v.a. die unspezifischen Wirkfaktoren sind, die den Therapieerfolg bedingen (vgl. Einl.-Kap. 2.2.1.2.), resumiert z.B. Berns, daß sich die Deutung als Medium interpretieren läßt, unspezifische Wirkfaktoren zu realisieren, da „kontextbezogenes De u ten … immer auch zum Ziel (hat), eine Störung in der therapeutischen Beziehung zu he i len.“(2004, S. 296).
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Für die Kinderanalyse versucht Sugarman, den Gegensatz zwischen deutungs- und beziehungs- bzw. entwicklungsorientierter Position zu lösen, indem er die von den Klassikern geforderte Einsicht unter Zuhilfenahme des Mentalisierungskonzepts von Fonagy neu definiert. Danach ginge es nicht mehr um Einsicht in konkrete unbewußte Inhalte, sondern allgemein um Förderung von Einsichtsfähigkeit i.S. von Mentalisierung. “This new definition of insightfulness … leads to a shift in our understanding of therapeutic action, (and) the distinction between providing developmental help and providing insight loses much of its relevance.” (2003, S. 337). Für die Erwachsenenanalyse resumiert Mertens: „Es gibt keine scharfe Trennunglinie mehr zwischen Deutung und Beziehung …Diese Gegenüberstellung wird sogar zunehmend als überholt betrachtet.“ (2009, S. 14 f.)
Zu 2 : Mit der Relativierung des Primats der Deutung und der Aufwertung des Faktors „Beziehung/Entwicklung“ verändert sich auch das seit jeher spannungsreiche Verhältnis zw i schen Erwachsenen- und Kinderanalyse. Denn die Fokusverschiebung von der Einsicht zur Beziehung bestätigt zwar die klinische Erfahrung der Kinderanalytikerin, impliziert aber auch eine weitgehende Abkehr von der klassisch-analytischen „Kunst der Deutung“, was zu den in der Einleitung dieser Arbeit erwähnten professionellen Statusängsten der Kinderanalytikerin führen kann. Die Reaktion besteht oft darin, sich mit dem „Aggressor“ zu identifizieren und sich umso stärker am Vorbild der klassischen Analyse zu orientieren, die – zumindest im Über-Ich der Kinderanalytikerin – den Analytiker-Status nach wie vor am fachkundigen Einsatz von Deutungen festmacht.
Kinder drücken sich hauptsächlich durch das Spiel aus, und das kompliziert das Problem der Deutung in der Kinderanalyse. Inzwischen wird zwar das kindliche Spiel einhellig als die „via regia zum Unbewußten des Kindes“ betrachtet (Einolf, 1991), dennoch haftet ihm eine pejorative Konnotation an. Aus orthodoxer Sicht resultiert nämlich „die Notwendigkeit des Gebrauchs von Spiel und Zeichnung (daraus), daß das Kind, solange es nicht seine große pubertäre Neudurcharbeitung vollendet hat, auf der Ebene seiner psychischen Instanzen in einem Zustand der Unreife verbleibt, die keine deutende und durcharbeitende Arbeit gestattet, wie man sie in der Behandlung von Erwachsenen tun könnte.“ (Geissmann, 1996, S. 145).
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Das professionelle Über-Ich der Kinderanalytikerin gebietet deshalb, dann wenigstens das Spiel zu deuten, will man sich nicht dem Vorwurf aussetzen, nur „mitzuagieren“. Nur dann nämlich, wenn man dem Kind den Inhalt seiner Spielhandlungen direkt deutet, so die „Klassiker“, „kann das Kind den Konflikt als seinen eigenen erkennen, ihn bewußt erleben und ihn mit dem Analytiker verarbeiten.“ (Berna, 1976, S. 357)
Die klinische Praxis lehrt jedoch, und das selbst bei höher strukturierten Kinderpatienten, daß das freie Spiel meistens zusammenbricht, wenn man es unmittelbar auf die unbewußten Wünsche und Ängste des Kindes bezieht. „Saying what the play ‚means’ …, even the mere suggestion that the play may ‚mean’ something, is the kiss of death, and may suppress any play for some time afterward.“ (Altman et al., 2002, S. 210). Als Ursachen dafür werden die bei Kindern noch nicht ausreichend entwickelte Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, die instabile Abwehrorganisation und nicht zuletzt die kognitiven Beschränkungen angeführt: „The child’s cognitive limitations also affect the analyst’s ability to use words in his or her interpretations.” (Shugarman, 2003, S. 327). So resumiert auch der Kinderanalytiker Fahrig: „Das Kind ab dem 12. Lebensjahr kann über seine Handlungen und Phantasien reflektierend nac h denken und ist erst ab diesem Alter für analytische Deutungen zugänglich, die ihm Einsichten über sich selbst … vermitteln.“ (1999, S. 696).
Die Erkenntnis, daß das deutungsfreie Kinderspiel an sich therapeutisch und entwicklungsfördernd ist, wird auch durch entwicklungspsychologische Forschungsbefunde bestätigt (Oerter, 1997; West 1996). Sie setzt sich deshalb langsam auch in traditionsbewußten psychoanalytischen Zeitschriften wie dem „International Journal of Psychoanalysis“ oder dem „Psychoanalytic Study of the Child“ durch. So wird dort mittlerweile konzediert, daß „for many children, the very act of playing carries much of the therapeutic work aimed toward facilitating their return to developmentally appropriate and adaptive psychic functioning.“ (Mayes & Cohen, 1993, S. 1235) und daß „the therapeutic and development facilitating effects of unanalyzed play suggest that substantial analytic work goes on unconsciously.“ (Scott, 1998, S. 94).
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Im Mainstream liegt wohl die Position, die zwischen den Anhängern direkter Deutung und denen deutungsfreier Technik vermittelt. Sie wird von Autoren eingenommen, und ich schließe mich ihnen an, die für eine Deutung im Idiom des Spielens (Naumann-Lenzen, 1996), d.h. für eine analoge Deutung plädieren. So geht z.B. Fahrig angesichts der Ergebnisse der Heidelberger Studie „Therapieerfolg analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie“ (Fahrig et al., 1996) davon aus, „daß Kinder in der analytischen Spieltherapie oder im Rollenspiel auf analogen Ebenen ihre intrapsychischen und interpersonellen Konflikte einbringen und dort, im Schutz eines Sicherheitsabstands von der Bewußtheit ihrer Konflikte, diese … verarbeiten, teilweise lösen und später in der Realität umsetzen.“ (Fahrig, 1999, S. 695). Der Autor ist deshalb „davon überzeugt, daß es am günstigsten ist, das Geschehen auf den analogen Ebenen zu deuten.“ (ebd. S. 702). Und auch der Kinderanalytiker Naumann-Lenzen betont: „Explizit-verbale Deutungen sollten größtmögliche Nähe zum Idiom des Spielens, zu seiner ‚analogen’ Sprache wahren. Das heißt, sie sollten sich die im Spiel verwandten Metaphern zueigen machen.“ (1994, S. 263). Denn M e taphern „befähigen das Gehirn, korrespondierende, ursprünglich miteinander verknüpfte und später aus Abwehrgründen dissoziierte Informationen aus beiden Hirnhälften wieder miteinander zu verknüpfen.“ (1996, S. 259). Die Verwendung von Metaphern, die in der Lage sind, eine Brücke zwischen Primär- und Sekundärprozeß zu schlagen, wird angesichts neuerer affektpsychologischer und neurobiologischer Befunde zunehmend auch für die Erwachsenenanalyse empfohlen (Fabregat & Krause, 2008; Mertens, 2009, S. 157 ff.)
Zu 3: Die Problematik der Deutung wird schließlich besonders virulent im Spannungsfeld von Trauma und Konflikt. Dieses Thema wurde bereits in Kap. A.2.2. unter dem Aspekt der defizitären Symbolisierung traumatischen Materials besprochen, weshalb hier nur die behandlungstechnische Frage des Einsatzes von Deutungen diskutiert werden soll.
Daß traumatisierte Patienten am Anfang der Therapie von Deutungen kaum profitieren können, wird von praktisch allen modernen Traumatherapeuten, gerade auch psychoanalytischer Provenienz, vertreten. „Solange die Mentalisierungsfähigkeit unzureichend ausgebildet ist, werden Deutungen unbewußter Konflikte leicht als Überforderung oder als Angriff erlebt.“ (Wöller, 2006, S. 330). Selbst ein eher klassischer Analytiker wie Fonagy konzediert, daß traumatisierte Patienten in den typischen Übererregungszuständen, in die sie leicht geraten, von Deutungen nicht profitieren können. „In diesem Moment werden Übertragungsdeutungen, so präzise sie auch sein mögen, wahrscheinlich die Aufnahmefähigkeit des Patienten übersteigen. Die Reduktion der Erregung muß klinische Priorität sein, so daß der Patient über andere Perspektiven nachdenken (d.h. mentalisieren) kann.“ (2008, S. 140). Am eindringlichsten hat in letzter Zeit Rudolf (2005) auf die Risiken einer deutungsorientierten Therapie bei strukturell gestörten Patienten hingewiesen, die Deutungen leicht als verwirrend, kränkend, überwältigend und beschämend erleben. „Die Deutung des Psychoanalytikers bedroht das fragile Selbst eines strukturell labilen Menschen, weil sie die Macht beansprucht, zu definieren, ‚wer der Patient eigentlich ist und was in ihm vorgeht’.“(ebd., S. 119).
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Es liegt nahe, daß diese Risiken bei früh traumatisierten Kindern noch höher sind als bei erwachsenen Patienten, da diese Kinder schon aufgrund ihrer altersbedingten kognitiven Grenzen Deutungen als nicht bewältigbaren Stress erleben. Krüger & Reddemann (2007) ziehen daraus die Konsequenz: „Wir sind darum bemüht, unseren PatientInnen so wenig Stress wie möglich zu machen. Konfliktarbeit kommt in der Regel sehr viel später.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 65).
Allerdings sollte diese Konfliktarbeit auch nicht zu lange aufgeschoben werden. Denn ist die Bearbeitung von Konflikten, die mit den traumatischen Erfahrungen verbunden sind, ist für eine psychische Gesundung unabdingbar, was Wurmser immer wieder betont (1987, 1998, 2000). Sobald das Arbeitsbündnis gefestigt ist, eine überwiegend sichere Bindung entstanden ist, wenn die Fähigkeit zur Affektregulation und Mentalisierung verbessert ist und sich die Symbolisierungsfunktion entwickelt hat, kann und muß auch damit begonnen werden, an konflikthaftem Erleben zu arbeiten.
Für den sensibel auszutarierenden Übergang von der anfänglichen Stabilisierungsarbeit in der Therapie traumatisierter Patienten zur deutenden konfliktzentrierten Arbeit in der Abschlußphase formuliert der Psychoanalytiker Wöller grundlegende Voraussetzungen und behandlungstechnische Empfehlungen, die analog auch für Kinder Geltung beanspruchen können:
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Trotzdem sollte man in der Arbeit mit früh traumatisierten Kindern, was die Deutung unbewußter Konflikte anbelangt, keine allzu hohen Erwartungen hegen. Angesichts der massiven Defizite in grundlegenden Entwicklungsfunktionen besteht der größte Teil der Therapie darin, an diesen Defiziten zu arbeiten und die Kinder überhaupt erst in die Lage zu versetzen, Konflikte zu erleben.
Eine Erleichterung besteht darin, daß Kinder eben noch in der Entwicklung sind und viele der klassischen Entwicklungskonflikte bei ihnen noch nicht derart chronifiziert sind, daß sie nicht schon durch eine „korrigierende Beziehungserfahrung“ aufzulösen wären. „Gerade weil beim Kind Beziehungsmuster oft noch nicht fest eingeschliffen sind …, hat eine ‚Haltung’ des Therapeuten, die sich von der Haltung der Eltern wesentlich unterscheidet, ja, ihr diametral entgegengesetzt ist, einen starken emotional korrigierenden Einfluß auf ein Kind.“ (Fahrig, 1999, S. 699).
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Außerdem ist bei Kindern das primäre Therapieziel nicht die Umstrukturierung der Persönlichkeit, sondern der Anschluß an ihre altersgemäße Entwicklungsaufgabe (Bürgin, 1996). Wenn sie diesen Anschluß gefunden haben, drängen sie von sich aus auf eine Beendigung der Therapie. Oft bleibt man dann als Analytikerin mit dem Gefühl zurück, daß es noch einiges an unbewältigten Konflikten zu bearbeiten gäbe. Dennoch sollte aus bindungstheoretischer Sicht der Explorationswunsch des Patienten positiv beantwortet werden. Konflikte machen sich eben meist an spezifischen Entwicklungsaufgaben fest, und wenn diese noch nicht anstehen, sind auch die damit verbundenen Konflikte nicht virulent und folglich noch nicht zu bearbeiten. Nicht zuletzt deshalb ist es so wichtig, dem Patienten zu signalisieren, daß die Möglichkeit besteht, „bei erneuter ‚Not und Angst’ zu einem späteren Zeitpunkt auf den Therapeuten zurückgreifen zu können...“(Brisch, 1999, S. 98).
Der 11jährige Paul wird mir im Rahmen einer vor kurzem veranlaßten teilstationären Fremdunterbringung zur Therapie vorgestellt. Die psychisch labile Stiefmutter war mit e i nem Bügeleisen auf den Jungen losgegangen, nachdem dieser im Badezimmer ein „Fe u erchen“ g e macht hatte. Die frühe Kindheit des Jungen, der zunächst bei seiner leiblichen Mutter aufwuchs, einer überforderten alleinerziehenden Jugendlichen, liegt im Dunkeln. Laut Jugendamtsakten ist lediglich bekannt, daß es bereits im Kleinkindalter zu Jugendhi l fe-Maßnahmen gekommen war, u.a. zu einer kurzfristigen Fremdunterbringung in einer Pflegefamilie. Als Paul 9 Jahre alt war, hatte ihn der leibliche Vater, inzwischen verheir a tet, zu sich genommen. Weil die Spannungen zwischen Paul und der Stiefmutter eskalie r ten, wurde er jedoch bald in einem nahegelegenen Kinderheim (mit Wochenend-Heimkehr) untergebracht. In den therapiebegle i tenden Elterngesprächen mit Vater und Stiefmutter zeigte sich früh, daß letztere, selbst Heimkind und multipel traumatisiert, bei heftigen Auseinandersetzungen mit dem Stie f sohn in ihm häufig ihren prügelnden Ex-Ehemann Markus zu erkennen glaubte. Paul besucht die Sonderschule für Lernbehinde r te. Protektive Bindungsfigur ist eine ältere Tante Maria, die ihn ins Herz geschlossen hat und den mageren, ewig hungrigen Paul, wenn er sie besuchen darf, mit „Klöße mit Soße“ ve r wöhnt.
Nach ca. 20 Therapiestunden kommt es zu folgendem Gespräch, das ich als Gedächtni s prot o koll festgehalten habe.
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Paul hat sich aus dem Verkleidungsschrank bedient, sich mit Mantel, Zylinder und Zauberstab in einen „Zauberer“ verwandelt und schaukelt ein wenig in der Hängematte. Auf meine Frage, was er denn jetzt gerne zaubern würde, zuckt er die Achseln, lächelt verlegen. Schließlich meint er:
P. (Patient) …daß ich ein liebes Kind bin...
A. (Analytikerin) Ein liebes Kind? Aber du bist doch ein liebes Kind!
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P. Nö.
A. Du glaubst, du bist kein liebes Kind? (ich lege die Betonung auf „du glaubst“, um die Differenz von mentaler Vorstellung und Realität zu markieren). Was glaubst du denn, was du bist?
P. (lächelt verlegen). Ein böses Kind.
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A. (nachdenklich). Du glaubst also, du bist ein böses Kind? …bist du gern ein böses Kind?
P. (schüttelt den Kopf.)
A. Wieso glaubst du denn, daß du ein böses Kind bist?
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P. Weiß nicht.
A. (fühle mich hilflos, will aber seine mentale innere Welt erkunden). Wie ist denn so ein böses Kind? Was macht das denn so Böses?
P. Schlechte Noten.
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A. Es schreibt schlechte Noten?
P. nickt.
A. Hmhm. Aber es hat doch gelernt, das Kind? (ich weiß, daß Paul seine Hausaufgaben meist recht brav macht).
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P. Mmhh.
A. (rede intuitiv von „dem Kind“, wohl um Paul einen schützenden Abstand zu ermöglichen). Also es hat gelernt? Hat sich Mühe gegeben?
P. Hat aber ne schlechte Note gekriegt.
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A. (enttäuscht) Och! Hat sich so angestrengt, so viel Mühe gegeben und gelernt - und dann eine schlechte Note! (versuche, die Differenz zwischen Intention und realem Erge b nis zu betonen und ihm seinen Affekt, vermutlich zunächst Enttäuschung, zu spiegeln).
P. Mmh.
A. (versuche, die Aufmerksamkeit auf den Affekt zu lenken). Wie ist es denn dem Kind gegangen, als es die schlechte Note gekriegt hat?
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P. Scheiße.
A. Mmmh. Versteh ich gut. Ist ihm mies gegangen. War es enttäuscht? Traurig? Oder wütend?
P. Mmmh.
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A. (habe das Gefühl, ihn zu überfordern. Möchte aber den Affekt deutlicher herausb e kommen). Wie hat sich denn das Kind gefühlt? Eher traurig oder eher wütend? Oder hat es Angst gekriegt?
P. So alles.
A. Hmmh (bin entmutigt. Versuche, die Situation zu visualisieren). Also als die Lehrerin ihm die Probe zurückgegeben hat, und gesagt hat: „Eine Fünf!“ War es eine Fünf?
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P. Ne Sechs.
A. Eine Sechs. (überlege kurz, ob ich der Ursache für die Sechs nachgehen soll, verwerfe den Gedanken, will weier auf den Affekt hinaus). Was hat das Kind da gefühlt, als es „eine Sechs“ gehört hat?
P. Scheiße!
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A. Scheiße. (Noch ein Versuch, das diffuse „Scheiße“ zu differenzieren). Angst gekriegt?
Oder stinksauer?
P. Angst … ist doch scheißegal. Scheißschule…(schweigt).
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A. Hm. (warte ab…als er weiter schweigt, Hilflosigkeit. Vom Gefühl her wohl primär die Angst, dann schnell die Abwehr „scheißegal/Scheißschule“. Versuche die (traumat i sche?) Angst kurz zu benennen, dann die Wut als traumaverarbeitenden Affekt zu fokussi e ren.) Also da hat er Angst gekriegt. Angst ist schlimm. Angst haben ist ganz schlimm. Und dann, dann kommt so eine Wut hoch?
P. Scheißwut…Ich hau ihr in die Fresse, da halt ich da so hoch und dusch-dusch-dusch (verliert sich in einen aggressiv aufgeladenen unverständlichen Sprach-Wust, wirkt plöt z lich wie in einer anderen Welt.)
A. (erschrecke über den plötzlichen chaotischen Wutausbruch. Ich, möchte die Wut zwar zulassen, aber auch eingrenzen und symbolisieren, werde jedoch von dem unverständl i chen Wortschwall überflutet. Intuitiv beginne ich, an, Pauls körperlicher Erregung anz u knüpfen, mich auf sie „einzustimmen“ und zu verbalisieren, den Jungen auf einer körpe r nahen Ebene spiegelnd zu modulieren, zu beruhigen) Oochh ! So eine Gemeinheit! (Während P. aufgeregt und wild gestikulierend hervorstößt,, welche Roboter oder Monster er abknallt, versuche ich, die Erregung als Wut auf die Lehrerin/die Note/die enttäuschte Anstrengung zu versprachl i chen). Mann! So ein Mist, so eine Sauerei! Immer diese Fünfer und Sechser! Wo ich so gelernt hab! Wo ich mich so reingehängt habe. Mann, ist das gemein! Mann, bin ich stinksauer! So eine Gemeinheit!
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P./A. langsam beruhigen wir uns beide, kommen zur Ruhe …Verschnaufen.
P. So gemein alles!
A. Mmhh! (bin erleichtert, daß er ein Stück Symbolisiertes aufgreifen kann). So gemein alles. Wo du so gelernt hast!
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P. Das ganze Wochenende gelernt! Ich durfte eigentlich zu Tante Maria gehen, aber ich hab gelernt.
A. (verblüfft ob des plötzlichen Wiederauftauchens des Patienten aus seiner Welt. Ane r kennend) Ehrlich?! Hast du extra gelernt?! Find ich ja toll! Bist du extra nicht zu Tante Maria, nur um zu lernen (mir fallen die leckeren Knödel ein). Obwohl es bei Tante Maria die leckeren Knödel gibt, hmmh! lecker! (spüre in der Identifikation den Konflikt zwischen der Lust auf die leckeren Knödeln und der Überwindung, zu lernen, spüre die Enttäuschung angesichts der Sechs, die dann kommt).
P. Klöße, nicht „Knödel“! Mit Soße. Da kann ich soviele essen, wie ich will. Letztes Mal hab ich drei gegessen!
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A. Mann, drei! Du hast aber einen Appetit! Aber wenn die sooo lecker sind, versteh ich, daß du da reinhaust. Schade, daß im Bauch nicht viel mehr Platz ist für diese tollen leckeren Sachen bei Tante Maria! (freue mich über die Aktivierung eines „guten“ mütterlichen Objekts, fasse wi e der Hoffnung).
P. (Fängt kleinkindhaft zu phantasieren an, wie es wäre, wenn der Bauch ganz groß wäre, daß man da ewig Klöße in sich reinstopfen könnte usw.)
A. (bin etwas irritiert, befürchte, wieder einen chaotischen Wortschwall - diesmal in Ric h tung Regression – ausgelöst zu haben. Ich versuche, den Bogen zum Thema „b ö ses/liebes Kind“ zu schlagen). Die Tante Maria… glaubst du eigentlich, daß die auch findet, daß du ein „böses Kind“ bist?
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P. (erschrickt, wie ertappt). Äh… weiß nicht…
A. Glaubst du, daß die dir all die leckeren Knödel …
P. Klöße!
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A. (irritiert durch seine etwas zwanghafte Korrektur. Überlege kurz, ob ich das als negat i ve Ü bertragungsanspielung aufgreifen soll, verwerfe den Gedanken). Glaubst du, daß die dir all die leckeren Klöße machen würde, wenn sie fände, daß du böse bist?
P. Weiß nicht.
A. (spüre sein Verzagen, „Einbrechen“. Möchte wieder an das „gute Objekt“ anknüpfen, ihn „halten“). Ich glaub, die hat dich sehr lieb, meinst du nicht?
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P. Weiß nicht… Die weiß nicht, daß ich ne Sechs habe.
A. Liebhaben ist liebhaben, egal ob man eine Sechs oder eine Eins kriegt!
P. schweigt.
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A. (habe das Gefühl, den Kampf gegen das „böse Introjekt“ zu verlieren. Verzage, setze dann noch einmal nach. Versuche, die Affekte und mentalen Prozesse im Kopf der Tante und ihr Verständnis seiner Intention zu betonen und von der Realität der Sechs zu tre n nen ) Die Tante Maria ist bestimmt ganz stolz auf dich, daß du so fleißig gelernt hast! Und die versteht bestimmt, daß du wahnsinnig enttäuscht warst, daß es trotzdem eine Sechs wurde ! Dafür kocht die dir zum Trost bestimmt nochmal eine Ladung Extra-Klöße!
P. (lacht plötzlich). Vier Stück, nein, sechs schaff ich. Bestimmt!
A. (erleichtert, Freue mich über die „Sechs“ bei den „guten“ Klößen). Na, siehst du! Die hat dich einfach lieb und deshalb findet die auch, daß du ein liebes Kind bist. Du hast ja dein Bestes versucht! Du hast das ganze Wochenende gelernt! Du hast dich so sehr angestrengt! Und hast sogar auf Tante Marias tolle Klöße verzichtet! Wenn dann am Schluß trotzdem eine Sechs rauskommt, ist das einfach Pech, aber da kann man nichts dafür. Das passiert eben manchmal. Auch den Erwachsenen. Deshalb ist man kein böses Kind. Du bist ein liebes Kind, das Pech gehabt hat!
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P. Mama hat rumgeschrieen. Hausarrest. Vier Wochen.
A. (traue meinen Ohren nicht. Verzage, werde dann wütend.. Nehme mir vor, das Thema im nächsten Elterngespräch zur Sprache zu bringen). Hast du deshalb Angst gekriegt, als die Lehrerin gesagt hat: „eine Sechs“?
P. (platzt heraus) Weil die mir dann immer Hausarrest gibt. Am Wochenende. Dann darf ich vier mal nicht zu Tante Maria! Faule Sau, sagt sie. Faule Drecksau! Ich muß jetzt vier Wochen das Bad alleine putzen! Und die Küche. Und die Treppe und den Flur.
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A. (Ich bekomme einen mächtigen Zorn auf die Eltern, atme tief durch,, beruhige mich mit Mühe. Nehme mir dann vor, dem Jungen die verzerrte Wahrnehmung der Stiefmutter ve r ständlich zu machen, um ihm ein Stück Distanzierung vom „bösen Introjekt“ zu ermögl i chen). Weißt du was, Paul? Die Mama, die tut ihr Bestes, aber die ist manchmal ein bißchen durcheinander im Kopf.
P. Die spinnt einfach!
A. Ich versteh gut, daß du sehr sauer bist auf sie. Aber ich möchte dir erklären, was da in Mamas Kopf abläuft. Die hat bestimmte Gedanken und Gefühle im Kopf, von früher… Weißt du, von ganz früher. Die hatte ja eine schlimme Kindheit…
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P. Die war im Heim. Aber da kann ich doch nichts dafür!
A. Genau, Paul! Da kannst du überhaupt nichts dafür, das war zwar ganz schrecklich für die Mama, aber das ist trotzdem ihr Problem, da kannst du nichts dafür!... Aber weißt du, die Mama ist immer noch voll Wut auf das alles damals. Vor allem auf den Markus, der sie immer verprügelt hat. Auf den hat sie eine Mordswut! Und jetzt, manchmal, wenn sie sich aufregt, dann denkt sie plötzlich, daß du der Markus wärst, weil du auch ein Junge bist und weil sie einfach so sauer ist und irgendwie die Wut auf den Markus loswerden will…
P. Drecksau … Markus.
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A. Drecksau?
P. Ja.
A. (verwirrt) Der Markus?
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P. Nein.
A. Mama ?
P. Ja … Nein! Ich!
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A. (bin völlig durcheinander, weiß nicht, ob es um Pauls Wut auf die Stiefmutter geht oder um eine Erinnerung an ihre Worte). Hat … hat sie das mal zu dir gesagt?
P. Als ich die Sechs hatte!
A. Da hat sie das zu dir gesagt? Siehst du, da verwechselt die dich einfach mit dem Markus. Da kommen ihr alte Bilder von früher in den Kopf, Erinnerungen, dann kriegt sie Angst, und dann Wut, und dann dreht sie durch! Dann beschimpft sie dich und gibt dir Hausarrest und Putzdienst und das ganze Zeug. Aber das ist, weil sie in dem Moment ganz durcheinander im Kopf ist, weißt du? Du bist deshalb kein böses Kind! In Mamas Kopf ist der böse Ma r kus …
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P. (schweigt).
A. Dann will sie es dem Markus so richtig geben, sich rächen für all die Prügel … und dann gibt sie dir den Hausarrest! Verstehst du das?
P. Ich putz nie das Bad, weil der Markus immer geschissen hat …nie runtergespült, und dann stinkt immer das ganze Bad …
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A. (verwirrt. Weiß nicht, wovon er redet) Moment mal. Wer hat nicht gespült? Du?
P. Nein.
A. Oder damals der Markus?
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P. Äh… ich … sagt die Mama. Dabei putz ich jeden Samstag sowieso das Bad. Obwohl ich die ganze Woche nicht da bin und ja nur die da immer alles vollscheißen. Ich bin ja im Heim, und trotzdem muß ich dann das Bad putzen!!
A. (habe Mühe, zu verstehen). Also dann war das so, daß damals der Markus das Bad nicht geputzt und nicht runtergespült hat? Stimmt das so?
P. Ja.
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A. Und jetzt sagt die Mama, du machst immer das Bad dreckig, obwohl du gar nicht da bist unter der Woche.
P. Ja.
A. Da verwechselt die Mama dich doch mit dem Markus, merkst du das?
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P. Ja.
A. Da sieht sie dich, der du ein Junge bist, und da fällt ihr der Markus ein, und dann kommt ihre ganze Wut auf den Markus hoch. Und dann sagt sie dir, daß du nicht runterspülst, obwohl du gar nicht da bist. Das hätte sie damals dem Markus sagen müssen. Aber damals konnte sie das dem Markus nicht sagen, sonst hätte er sie gleich wieder verprügelt.
P. Soll er sie doch verprügeln!
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A. Ja, ich verstehe, daß du sauer auf die Mama bist und denkst: Geschieht ihr recht, die Prügel. Verstehe, daß du eine Mordswut auf die Mama hast! Weil die immer sagt, daß du ein böses Kind bist. Dabei ist das der böse Markus in ihrem Kopf, nicht du!
P. (fängt an, sich hinter der Brille heftig die Augen zu reiben).
A. (bin erschöpft, nach dieser schwierigen Klärung). Mann, das ist echt kompliziert mit der Mama. Ich versteh gut, daß du oft ganz hilflos bist und eine Riesenwut auf sie kriegst …
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P. (reibt sich immer noch heftig die Augen).
A. Aber das Ganze ist auch ganz schön traurig… Liebhaben ist eigentlich viel schöner. Eigentlich wollen alle nur liebhaben. Und deshalb kocht die Tante Maria dir immer die tollen Klöße. Weil sie dich so liebhat.
(Wir schweigen. So klingt die Stunde aus).
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Diskussion
In dieser Stunde habe ich versucht, mit dem Patienten ein Gefühl für die Differenz zwischen eigenen Affekten/mentalen Prozessen/Intentionen und der äußeren Realität zu erarbeiten. An dem Beispiel der schlechten Schulnote ließ sich gut beobachten, wie der Patient im Äquiv a lenz-Modus verharrte (weil draußen eine schlechte Note ist, ist drinnen ein schlechter Mensch mit schlechten Motiven, Gedanken etc.). Die Stiefmutter schien den Patienten auf der Basis ihrer eigenen traumatischen Erfahrungen für die Externalisierung ihres fremden Selbst zu mißbrauchen, womit sich die transgenerationale Weitergabe des „traumatischen Introjekts“, des „bösen Kindes“, vollzog.
An diesem Fall lassen sich die verschiedenen Formen der Mentalisierungsstörung recht gut beobachten (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. A.4.2.4.). Am Anfang der Stunde stand die allgemeine Hemmung der Mentalisierung im Vordergrund, die sich in der Wortkargheit des Patienten sowie seiner undifferenzierten Affektwahrnehmung äußerte („Weiß nicht“, „Scheiße“, „so alles“ etc.). Darin drückte sich auch die Regression auf den teleologischen Modus aus (das Ergebnis der Handlung ist eine schlechte Note, und das allein zählt). Dann kam der plötzliche Wutanfall, in dem der Patientoffenbar in einer fast dissoziativen Weise „abtauchte“, so daß der Kontakt zur Realität kurzfristig verlorenging (ich verstand ihn akustisch wie semantisch nicht mehr).
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Durch eine eher intuitive körpersprachliche Einstimmung gelang es jedoch, wieder in Kontakt zu Paul zu kommen. Wieweit er von meiner Versprachlichung (Wut auf die Lehrerin, die enttäuschte Anstrengung etc.) profitieren konnte, sei dahingestellt. Immerhin konnte er am Ende einen Brocken aufgreifen („so gemein“), woraus sich wieder ein Kontakt herstellte, durch den über die Klöße der Tante Maria eine gute Objekterfahrung aktiviert wurde. Als ich die Verbindung zu seinem Selbst herzustellen versuchte, schien Paul jedoch wieder in den Äquivalenz-Modus zurückzufallen: wenn die Tante von der Sechs wüßte, würde sie keine Klöße kochen, weil die Innenwelt („böses“ Kind) der Außenwelt (schlechte Note/keine Klöße) entsprechen muß. Das „fremde Selbst“ des „bösen Kindes“ und mit ihm die alte Wortkargheit schienen ihn wieder zu ergreifen. In der Gegenübertragung erlebte ich einen schwer erträglichen Kampf zwischen dissoziierten Selbst-Zuständen (oder: Ego-States): einem liebenswerten wahren Selbst des Jungen, das mit der Tante assoziiert ist, und dem von der Stiefmutter eingepflanzten fremden Selbst, in welchem deren traumatische Erfahrungen projektiv-identifikatorisch untergebracht sind.
Ich weiß nicht, wieweit der Junge von meinen mentalisierungsfördernden Interventionen profitieren konnte. Die Verknüpfung von Innenwelt (Lerneifer) und Außenwelt (Notenpech) i.S. von „Du bist ein liebes Kind, das Pech hatte“ mag er noch angenommen haben. Meine anschließende Erklärung der stiefmütterlichen „Gespenster der Vergangenheit“ hat ihn mental womöglich überfordert. Allerdings hat er mit seinem Einfall des „verschmutzten Bades“ anscheinend wenigstens ansatzweise eine Verbindung zum inneren Erleben der Stiefmutter herstellen können. Die wechselseitigen Verständigungsprobleme zeugen von seiner (und reaktiv: meiner) mentalen Desorganisation, welche durch diese projektiven Identifikationsprozesse bewirkt wird.
Es ist immer problematisch, dem Kind die Pathologie seiner Eltern nahezubringen. Dadurch gerät das Kind, das seine traumatisierende Bindungsfigur ja auch liebt, in einen Loyalitätskonflikt. Meine Erfahrung ist jedoch, daß es, eine gewisse Reife des Kindes vorausgesetzt, bei sehr heftigen projektiven Verstrickungen psychisch kranker Eltern mit ihrem Kind durchaus mentalisierungsfördernd wirkt, dem Kind seine eigene Wahrnehmung der Eltern zu validieren. Diese Wahrnehmung einer psychischsen Störung seiner Mutter ist bei Paul zumindest ansatzweise gegeben („Die spinnt einfach!“). Wichtig ist dabei, immer auch die andere Seite (daß das Kind seine Eltern liebt und daß die Eltern das Kind lieben und subjektiv ihr Bestes tun) zu betonen. Ich räume ein, daß diese Seite hier etwas zu kurz gekommen ist.
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Vielleicht lag das daran, daß ich selbst in der Gegenübertragung in Identifikation mit dem Patienten das Gefühl traumatischer Überwältigung durch das stiefmütterliche „fremde Selbst“ in geradezu beklemmender Weise erlebte. Deshalb habe ich den Entschluß, Paul die stiefmütterlichen „Gespenster der Vergangenheit“ zu erklären, als eine Art „Befreiungsschlag“ gefaßt. Insoweit war diese etwas forcierte Interpretation der stiefmütterlichen Projektionsprozesse zum Teil wohl auch eine Folge mangelnden Containings in der Gegenübertragung. Vielleicht wäre es besser gewesen, zunächst die Gefühle der Überwältigung und hilflosen Ohnmacht des Patienten zu artikulieren und gemeinsam „auszuhalten“.
In diesem Punkt unterscheiden sich allerdings auch die Auffassungen einer eher klassisch-psychoanalytischen Traumatherapie (z.B. Ehlert-Balzer, 1996), die auf Aushalten und Durcharbeiten der traumatischen Szene besteht, von denen einer „modernen“ Traumatherapie (Reddemann & Sachsse, 1998), die auf Ressourcen- und Lösungsorientierung setzt. Ein unbegrenztes Aushalten der traumatischen Situation birgt immer das Risiko einer Retraumatisierung. Der Patient erlebt dann die Passivität der Analytikerin so, als ließe sie – wie in der Vergangenheit der „silent partner“ der traumatisierenden Bindungsfigur - die Traumatisierung erneut zu, ohne ihr Einhalt zu gebieten. Deshalb setze ich bei ressourcenarmen Patienten wie Paul auf ein eher ressourcenorientiertes Vorgehen, das an positive Bindungserfahrungen von Schutz, „sicherer Basis“ und „sicherem Ort“ anknüpft. (Zur ausführlichen Diskussion „klassischer“ versus „moderner“ psychoanalytischer Traumatherapie vgl. das nächste Kapitel).
Mit den abschließenden Überlegungen in der Diskussion der Fallvignette Paul zur Kontroverse um die „richtige“ traumaspezifische Behandlungstechnik ist das schwierigste Kapitel psychodynamischer Traumatherapie eröffnet, nämlich der Umgang mit der traumatischen Übertragung. Während die bisher dargestellten behandlungstechnischen Foki die entwicklungs-orientierte Hintergrundhaltung betrafen (vgl. Kap. B.2.1.3.), soll es nun um die traumaorie n tierte Vordergrundhaltung gehen. Denn früh traumatisierte Kinder stehen meist unter einem starken Externalisierungsdruck, der dazu führt, daß sie im posttraumatischen Spiel traumatisches Material reinszenieren, wodurch sich in der Übertragung erneut die Täter-Opfer-Beziehung herstellt. Die Behandlung dieser Übertragungskonstellation stellt hohe Anforderungen an die Analytikerin, denn einerseits muß sie Grenzen setzen, um eine Retraumatisierung des Kindes zu vermeiden, andererseits gilt es, das auftauchende Material für die Rekonstruktion und Intergration der traumatischen Erfahrung zu nutzen. Diese schwierige Gratwanderung ist Gegenstand dieses Kapitels.
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Der Begriff der „traumatischen Übertragung“ geht ursprünglich auf Holderegger (1993) zurück, der allerdings, genau genommen, von traumatisierender Übertragung spricht.
„Es fällt mir immer wieder auf, daß die Patienten ihre frühen Traumatisierungen, d.h. die das Trauma auslösenden gefährlichen Affekte, nur indirekt mitteilen können, indem sie den Analytiker in einer Art Verschmelzung mit dem bedrohlichen Introjekt ‚traumatisieren’. Ich verwende den Begriff ‚traumatisierende’ Übertragung, weil der Analytiker in der Gegenübertragung mindestens partiell dem Trauma ausgesetzt wird, das der Patient als Kind erlebte und das ihn immer wieder zu destabilisieren droht.“ (ebd., S. 23). |
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Auf die z.T. heftigen Gefühle traumabedingter Übertragung in der Therapie früh traumatisierter Kinder, die überwiegend im Wege der projektiven Identifikation erfolgen und deshalb ebenso heftige Gefühle in der Gegenübertragung der Analytikerin auslösen, wurde bereits in Kap. B.2.2.1.3. ausführlich eingegangen.
Entsprechend der intrafamiliären Dynamik des Beziehungstraumas („Drama-Dreieck“, vgl. Karpman, 1968) lassen sich die wichtigsten Typen traumatischer Übertragung in die des Täters, des Opfers und des Retters unterteilen. Entsprechend gelten in der psychodynamischen Kindertraumatherapie als zentrale traumatische Übertragungen Retterübertr a gungen, Opferübertragungen und Täterübertragungen (in welchen der Analytikerin vom Kind jeweils die Rolle des Retters, des Opfers und des Täters zugewiesen wird). Auch Wöller (2006, S. 347) nennt diese Übertragungen an erster Stelle, fügt aber noch weitere Typen hinzu, so die Übertragung von Aspekten der hilflosen, versorgungsbedürftigen Eltern (Parentifizierungsmuster); die Übertragung von Aspekten des wissenden, aber nicht handelnden Elternteils („silent partner“), schließlich als Besonderheit die „Flashback“-Übertragungen, in der von der Analytikerin ausgehende sensorische Reize (Stimme, Kleidung, Parfüm o.ä.) eine traumatische Erinnerung auslösen.
Diese Übertragungsmuster können durchaus auch kombiniert auftauchen, so daß der Patient, oft innerhalb einer einzigen Therapiestunde, zwischen ihnen hin- und herspringt. Wie mit diesen Übertragungen umzugehen ist, wird kontrovers diskutiert. Große Uneinigkeit besteht insbesondere über die Behandlung der negativen Übertragung, also der klassischen traumatischen Übertragung, in der sich die ursprüngliche Täter-Opfer-Beziehung zwischen Analytiker und Patient reinszeniert.
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Die klassische Psychoanalyse behandelt die Täter-Opfer-Übertragung im Sinne der Übe r tragungsanalyse behandelt, d.h als „Wiederholung des Traumas in der Übertragung“ (Jimenez, 1988). Das Trauma muß vom Patienten in der Übertragung und vom Analytiker in der Gegenübertragung „nach und nach und abgeschwächt“ (Hirsch, 2004, S.122) wiedererlebt und vom Analytiker durch Deutung der Übertragung durchgearbeitet werden. „Es kann keine Behandlung von traumatisierten Patienten ohne die konkrete Reaktualisierung des traumatischen Erlebnisses auskommen, und dies erfordert, daß das Trauma in allen Details geschildert wird“, was „eine hochfrequente Behandlung zwingend voraus(setzt), wobei 3 Wochenstunden oft nicht auszureichen scheinen.“ (Ehlert-Balzer, 1996, S. 307).
In der Entfaltung dieser traumatischen Übertragung kommt es häufig zu heftigen Angriffen auf den Analytiker (Holderegger, 1993, S. 43), die in der Gegenübertragung entsprechend schwer auszuhalten sind. „Der Therapeut gerät dabei zwangsläufig sowohl in die Position des sadistischen Verfolgers (des Täters) als auch in die Position der verweigernden Elternfiguren, die ihr Kind im Stich gelassen und es damit dem Täter ausgeliefert haben.“ (Ehlert-Balzer, 1996, S. 308). Diese Übertragungs-Gegenübertragungsprozesse müssen sukzessive gedeutet werden, um insbesondere die Verschmelzung des Selbst des Patienten mit dem traumatischen Täterintrojekt (der frühen „Mutter“) aufzulösen. „Die Deutung der traumatisierenden Übertragung führt zur Belebung des kindlichen Selbst, d.h. zur Integration der abgespaltenen destruktiven Affekte ... Die Integration der Wut, der Angst und des Schuldgefühls ermöglicht schließlich die Trennung von der ‚Mutter’...“ (Holderegger, 1993, S. 35).
Um das Trauma erfolgreich zu bearbeiten, muß der Analytiker, so Ehlert-Balzer, dem Patienten signalisieren, daß er bereit ist, die ganze Wucht des Traumas zu ertragen, was sich nicht zuletzt im Angebot einer hochfrequenten Analyse niederschlägt. „Die enorme Belastung für den Therapeuten, zusammen mit der Erfahrung, daß dann trotzdem noch viele Therapien scheitern“, bietet, so der Autor, keine Rechtfertigung für neuere Überlegungen, die Bearbeitung des Traumas außerhalb der Übertragung zu vollziehen, wie es z.B. mit der EMDR-Methode versucht werde. Denn es stellt sich die Frage, „… wie ein Patient den Glauben wiedergewinnen soll, daß das ihm Widerfahrene letztlich aushaltbar, psychisch überlebbar ist, wenn der Analytiker sogar der doch vergleichsweise harmlosen Erfahrung ausweicht, diese Qualen gemeinsam mit dem Patienten nachzuerleben.“ (1996, S. 308 f.).
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„Wir gehören zu den Leuten, vor denen Ehlert-Balzer gewarnt hat“ halten Luise Reddemann und Ulrich Sachsse nicht ganz ohne Ironie dagegen (1998, S. 292). Sie sind der Meinung, daß die tendenzlose Übertragungsanalyse für traumatisierte Patientinnen nicht das „reine Gold“, sondern das „reine Gift“ sei. Denn posttraumatische Belastungsstörungen seien „Physioneurosen“ (Kardiner), „die verbal oder beziehungszentriert kaum erreichbar“ seien. „Wer diese Störungsbereiche mobilisiert (‚triggert’), ohne Techniken zum Umgang mit Intrusionen, Flash-backs oder dissoziativen Zuständen zu kennen und jederzeit anzuwenden, schadet Patientinnen und Patienten.“ (ebd.). Die „kommunikative Deprivation“ durch Couch-Setting und den schweigenden Analytiker aktiviere traumatische Intrusionen der Verlassenheit und Angst. Die Übertragungsanalyse, die die „verzerrte“ Wahrnehmung des Patienten deutet, lasse diesen wie in der traumatischen Situation an seiner Wahrnehmung zweifeln. Aber auch das beziehungsorientierte Containing-Modell, demzufolge der Analytiker das Unbewußte des Patienten „verdaut“, verstärke die traumabedingte Grenzdiffusion zwischen Selbst und Objekt, was erneute Intrusionen triggere, „und Intrusionen sind per Containment nicht behandelbar.“ (ebd.)
Vor allem die Erfahrung, daß schwer gestörte Patienten nicht in der Lage seien, die A r beitsb e ziehung zum Analytiker kontinuierlich aufrechtzuerhalten, mache es unmöglich, auf einer Meta-Ebene das in den „Container“ des Analytikers projezierte Material gemeinsam zu reflektieren und dem Patienten wieder verfügbar zu machen. Dies führe in der Therapie zu unauflösbaren „Beziehungsfallen“ und einer „Retraumatisierung mit wechselnden Rollen“. Aus den gleichen Gründen steht Sachsse (1996) auch dem Konzept der Nachre i fung in der therapeut i schen Beziehung bei traumatisierten Patienten skeptisch gegenüber, denn hier käme es leicht zu Spontanregressionen, die nicht mehr kontrollierbar seien und damit letztlich wieder retraumatisieren würden.
Statt der klassischen Übertragungsanalyse, die Reddemann und Sachsse für reif-neurotische Patienten nach wie vor empfehlen, favorisieren die Autoren für traumatisierte Patienten deshalb ein sog. Mütterberatungsmodell. Dies bedeutet, daß sich die Therapeuten nicht wie in der klassischen Analyse als elterliche Übertragungfiguren, sondern als „Trainer“, als “Coachs“, eben als „Mütterberater“ für die „schwierigen Inneren Kinder“ der erwachsenen Patienten anbieten. Übertragungswünsche des Patienten werden freundlich, aber bestimmt, zurückgewiesen, um den erwachsenen Ich-Anteil des Patienten zu stärken und unkontrollierbare Spontanregressionen zu vermeiden. „Wir fordern von der Patientin: Zwei Erwachsene, die Therapeutin und die Patientin, kümmern sich um ein geschädigtes Inneres Kind … wir machen Mütterberatung für Mütter mit schwierigen Inneren Kindern.“ (Sachsse, 2004 e, S. 210).
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Diese kritische Einstellung zur klassischen Übertragungsanalyse hat sich in der psychodynamisch orientierten Traumatherapie inzwischen weitgehend durchgesetzt. „Kontraindiziert bei Traumapatienten …ist die Technik der ‚Übertragungsneurose’ … während sie bei neurotischen Patienten weiterhin indiziert ist.“ (Fischer et al., 2003, S. 205). Und auch in der PITT-KID ist man der Überzeugung, „daß es kontraindiziert ist, der Förderung der ‚Übertragungsneurose’ gezielt Vorschub zu leisten.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 87).
Besonders sollten negative Übertragungdeutungen vermieden werden, weil den Patienten zum einen die Mentalisierungsvoraussetzungen fehlen, zwischen Innen und Außen, zwischen Übertragung und Realität zu unterscheiden. Weiter spricht gegen solche Deutungen, daß diese Patienten den emotionalen Stress eines auch nur vorübergehenden aversiven Affekts in der therapeutischen Beziehung schlecht ertragen. Sie laufen Gefahr, dadurch in retraumatisierende Überflutungszustände mit traumaassoziierten Intrusionen oder dissoziative Absencen zu geraten, die das Arbeitsbündnis unterminieren.
Deshalb steht die Förderung der positiven Übertragung im Zentrum der Arbeit. Sie kann durch eine wohlwollende und wertschätzende therapeutische Haltung, reale Präsenz, einen aktiven Interventionsstil, Klarheit und Transparenz sowie supportive Interventionen gewährleistet werden. Treten dennoch negative Übertragungsphänomene auf, „sprechen wir sie umgehend an, damit sie sich nicht ausbreiten und das erwachsene Erleben überlagern.“ (Sachsse, 2004 d, S. 187).
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In der psychodynamischen Traumatherapie von Kindern wird heute ein ähnlicher Umgang mit negativen Übertragungsphänomenen vertreten. Ziel ist stets „die Restitution und der Schutz der grundsätzlich positiven Übertragungsbeziehung: Anhaltender negativer Affekt läßt die mentale Aktivität, welche die Fähigkeit zum Spielen unterfüttert, versiegen.“ (Naumann-Lenzen, 2003, S. 612). Für die Arbeit mit Jugendlichen empfiehlt Streeck-Fischer Ähnliches: „Der Therapeut weist … (negative) Übertragungen zurück oder relativiert sie und erklärt dem Jugendlichen sein Verhalten. Er vermeidet es, als überwältigendes, intrusives verfolgendes Objekt erlebt zu werden und verhandelt mit dem Jugendlichen, wie Arbeit und Gespräch möglich sind.“ (Streeck-Fischer, 2006, S. 221)
In der Kontroverse zwischen „klassischer“ Übertragungsanalyse und „moderner“ psychodynamischer Traumatherapie nehmen Autoren wie Mathias Hirsch, die Gruppe um Gottfried Fischer sowie Wolfgang Wöller eine vermittelnde Position ein.
Für Mathias Hirsch (1994, 2004), dessen Verdienst es u.a. ist, auf die unterschätzte Bedeutung Ferenczis und dessen Betonung der Realtraumatisierung hingewiesen zu haben (vgl. Kap. A.2.1.3.), steht außer Frage, „daß das Trauma in der Übertragung nach und nach und abgeschwächt wiederbelebt werden muß“ (2004, S. 122). Von daher plädiert der Autor in klassischer Tradition für die Bearbeitung des Traumas in der Übertragung. Allerdings integriert er in seine Therapie auch sog. „aktive Elemente“ wie z.B. die Einführung der „Kind-Metapher“, die Personifizierung des „traumatischen Introjekts“ und diverse „psychodramatische Elemente“ (vgl. 2004, S. 146 ff.), die an die „Innere-Kind-Arbeit“ oder die „Täter-Introjekt-Arbeit“ von Reddemann & Sachsse erinnern, ohne daß Hirsch jedoch diesen Bezug herstellt.
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Sachsses „Verweigerung des Containings“, um einer „Traumatisierung des Therapeuten durch Überschreitung seiner Grenzen“ zu entgehen (Reddemann & Sachsse, 1998, S. 292), hält Hirsch entgegen, daß „es erlaubt und sogar geboten (ist), Grenzen des Settings, aber auch Grenzen innerhalb der Beziehung zu setzen“ (2004, S. 125). Sachsses Techniken und Verfahren zur Begrenzung traumaassoziierter Intrusionen und Dissoziationen steht er mit deutlicher Skepsis gegenüber.
„Das Vorschlagen oder gar Anordnen von bestimmten Vorgehensweisen, die nicht vom Patienten initiiert sind, wie Übungen, auch Körperübungen, … solche Parameter sind jedenfalls keine psychoanalytische Therapie mehr, mögen sie auch für bestimmte Patienten indiziert sein. … Ich denke die wichtigste Aufgabe bleibt die der Differenzialindikation, für welche Patienten welches Vorgehen geeignet und optimal ist, und denke auch, daß die Zeiten der stärksten Polarisierung zwischen den verschiedenen ‚Schulen’ auch schon wieder der Vergangenheit angehören.“ (ebd., S. 126) |
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So versöhnlich Hirschs Worte auch klingen, so sehr befremdet doch sein Vorwurf, Sachsses Therapie sei nicht mehr psychoanalytisch. Legt man die begriffliche Systematik von Ermann (2004) zugrunde, so ist Sachsses Methode ohne Zweifel die einer „modifizierten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie“, in der „stabilisierende, strukturfördernde und konfliktzentrierte Techniken eingesetzt und miteinander verbunden werden“ (ebd. S. 309). Der Vorwurf Hirschs erinnert an die unselige Tradition der psychoanalytischen Community, „jenen, die nicht strikt-konservativ-psychoanalytisch sind, zuzurufen: ‚Ist das noch Psychoanalyse?’ (Rudolf, 2005, S. 134). Es sei daran erinnert, daß dieser Vorwurf seinerzeit auch Ferenczi traf, für dessen „Rehabilitierung“ sich Hirsch heute intensiv einsetzt.
Weniger konfrontativ positioniert sich die Gruppe um Gottfried Fischer mit ihrem o.e. Konzept der MPTT (Barwinski, 2001, 2006; Fischer 2000; Fischer et al., 2003; Zurek & Fischer, 2003). Nach dem Grundsatz „Soviel Reform wie nötig, soviel Tradition wie möglich“ empfehlen die Autoren in der Anfangsphase der Behandlung durchaus die Förderung einer spezifischen Übertragungsbeziehung, „in der sich der Therapeut als ‚haltgebendes Objekt’ …zur Verfügung stellt, um die Auflösung der Amnesie zu ermöglichen…“ (Fischer et al., 2003, S. 206f.)
Wenn erste traumatische Erinnerungen auftauchen, folgt der Analytiker jedoch nicht, wie in der klassischen Analyse, den freien Assoziationen der Patientin, sondern stärkt die Abwehr gegen das traumatische Erleben. Dazu sollten „im Unterschied zur klassischen psychoanalytischen Technik Parameter eingeführt werden, indem der Analytiker gezielt ablenkt und gezielt Strategien einsetzt, wie der Patient mit überwältigenden Affekten umgehen kann.“ (ebd., S. 207). Zu diesen Strategien gehören „dissoziative“ Techniken wie die weiter oben erwähnte „Beobachter“- bzw. „Bildschirmtechnik“, die eine Distanzierung vom traumatischen „Film“ ermöglichen. Übertragungsdeutungen sind kontraindiziert.
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„Deutungen sollten sich in dieser Behandlungsphase auf Vorgänge im Objekt beziehen, um die Verwirrung über die Frage, wer Täter und Opfer ist, zu klären. Erst wenn die Fähigkeit zur Selbst-/Objekt-Differenzierung gestärkt ist, …, werden zunehmend Subjektdeutungen möglich und notwendig, um innere Konflikte faßbar werden zu lassen und sie einer Lösung zuzuführen.“ (ebd.). |
Bei Manifestationen negativer Übertragung empfehlen die Autoren ebenfalls keine Übertragungsdeutung, sondern eine zügige, gemeinsame Klärung der Auslöser in der Realität der therapeutischen Situation. „Die Suche nach den ‚Schlüsselreizen’ des Übertragungsschemas … ermöglicht der Patientin ein eigenständiges Differenzierungslernen zwischen traumatischer Beziehungserfahrung und therapeutischer Beziehung.“ (Fischer, 2000, S. 111). Übertragungsdeutungen sind erst in der Mittel-bzw. Endphase der Therapie angezeigt, „wenn ein Integrationsgrad traumatischer Erfahrungen erreicht …(ist), in dem traumatische Affekte ihre ursprüngliche Heftigkeit verloren haben und die Fähigkeit, das Sicherheitsgefühl psychisch regulieren zu können, aufrechterhalten werden kann.“(Barwinski, 2006, S. 360).
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Ähnlich wie die letzte Autorengruppe verbindet auch Wolfgang Wöller (2006) mit seiner psychodynamisch-integrativen Therapie von Persönlichkeitsstörungen eine traum a zentrierte Arbeit in der Anfangsphase mit einer konfliktorientierten Arbeit in der Endphase der Behandlung. Treten in der Anfangsphase negative Übertragungsmanifestationen auf, plädiert er, ähnlich wie Fischer et al., dafür, die Angst oder die Wut des Patienten „in der aktuellen Realität ernst (zu) nehmen und (sie) nicht vorschnell als Wiederbelebung der Vergangenheit (zu) deuten“. Stattdessen gilt es, gezielt nach den Auslösern der Übertragung zu suchen und nach Klärung derselben „Rupturen der Bindungsbeziehung“ zu reparieren, um „durch Ansprache der ‚erwachsenen Person’ die Ausbildung dieser (negativen) Übertragungsmuster zu begrenzen.“ (ebd., S. 350 f.)
Erst nach der Stabilisierungsphase, in der intensiv an der Emotionsregulierung und der Mentalisierungsfähigkeit des Patienten gearbeitet wurde, beginnt Wöller mit der Arbeit an Konflikten und maladaptiven Beziehungsmustern. Dann erst besteht die Möglichkeit, negative Übertragungsmanifestationen zu deuten: „Wir können jetzt Übertragungsanspi e lungen der Patienten aufgreifen … Das Arbeitsbündnis ist so gefestigt, daß auch negative Übertragungsphänomene eine Zeitlang ‚in der Schwebe’ gehalten werden können, um den Patienten Gelegenheit zu bieten, sich mit uns affektiv auseinanderzusetzen.“ (ebd., S. 418 f.)
Im Falle von Täterintrojekten müssen in der Stabilisierungsphase das „gute“ und das „böse“ Objekt lange Zeit getrennt gehalten werden, um retraumatisierende Überflutungen zu verhindern. In der konfliktorientierten Therapiephase kann dem Patienten „die Arbeit mit der Übertragung eine Möglichkeit bieten, die Fähigkeit zum Erleben von Ambivalenz zunächst in der Übertragung auf uns zu entwickeln, bevor sie auch dem Täter gegenüber möglich wird.“ (ebd. S. 419f.). Dennoch plädiert Wöller hier wieder für ein sehr behutsames Vorgehen. Wichtig sei, die Reaktion des Patienten genau zu beobachten, die Deutung nicht als „Wahrheit“, sondern lediglich als einen „Denkanstoß“ anzubieten, den Akzent nicht auf das Dort und Damals, sondern auf das Hier und Jetzt zu setzen und dabei auch zu respektieren, „wenn unsere Patientinnen eine vertiefte Arbeit mit der Übertragung nicht möchten“ (ebd. S. 420).
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Der Meinungsstreit zwischen klassischer Übertragungsanalyse und traumazentrierter Psychotherapie, wie er sich in der z.T. polemisch geführten Kontroverse zwischen Ehlert-Balzer einerseits und Reddemann & Sachsse andererseits niedergeschlagen hat, spielt in der Kinderanalyse nur eine untergeordnete Rolle. Mir scheint jedoch, daß die Unüberbrückbarkeit der Gegensätze, wie so oft in psychoanalytischen Kontroversen, daraus resultiert, daß „Äpfel mit Birnen verglichen“ werden. Unter dem weitgefaßten Trauma-Begriff werden „Patientenpopulationen“ zusammengefaßt, die nicht exakt genug nach Symptomatik, Diagnose und Strukturniveau unterschieden werden.
Es ist sicherlich kein Zufall, daß Ehlert-Balzer seine Behandlungstechnik fast ausschließlich an erwachsenen Vergewaltigungs-Opfern demonstriert, d.h. an Patientinnen mit prämorbid offenbar zumindest ausreichender psychischer „Gesundheit“, die im Erwachs e nenleben ein spätes Mono-(Typ-I-)Trauma erlitten und die im ambulanten Couch-Setting behandelt werden (können). Demgegenüber handelt es sich bei Reddemanns und Sachsses Patientinnen fast ausschließlich um früh und chronisch Typ-II- Traumatisierte mit chronifizierter PTSD-Symp-tomatik, die im stationären Setting behandelt werden (müssen).
Um mit der Metapher des Traumas als „Fremdkörper im Ich“ zu sprechen, haben es Ehlert-Balzers Patientinnen geschafft, den Fremdkörper zu isolieren, abzukapseln und mit ihm, wenn auch eingeschränkt, zu leben, während es im Falle der Patientinnen von Reddemann & Sachsse dem Fremdkörper gelungen zu sein scheint, aufgrund der ich-strukturellen „Immunschwäche“ den gesamten Organismus der Persönlichkeit zu „infizieren“ (vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit).
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Diese unzureichend wahrgenommene Differenz ist Folge der psychoanalytischen Tradition, eine exakte Diagnostik und Bestimmung des Strukturniveaus des Patienten hintanzustellen und sich stattdessen der Psychodynamik des Einzelfalls zu widmen, was die „Argumentationszugänglichkeit“ von Kasuistiken (Körner, 2003) erschwert. Vom Ergebnis her ist daher Hirschs Einschätzung (2004, S. 126) zuzustimmen, daß es wohl eine Frage der Differenzialindikation ist, für welche Patienten welches Verfahren hilfreicher ist. Es wäre allerdings zu wünschen, daß solche Fragen statt jeweils am Einzelfall durch systematische Psychotherapiestudien geklärt würden.
Die weiter oben genannten Empfehlungen von Wöller zu den Voraussetzungen einer übertragungsfokussierten Behandlungstechnik (2006, S. 417) sind in der Arbeit mit früh traumatisierten Kindern analog anzuwenden. Vor einer Bearbeitung negativer Übertragung müssen also eine ausreichende Sicherheit der Bindung sowie eine verbesserte Fähigkeit der Affektregulation und der Mentalisierung erreicht sein.
Wie in Kap. B.2.1.3. ausgeführt, arbeite ich mit einer entwicklungsorientierten Hintergrund- sowie einer traumaorientierten Vordergrundhaltung. Mit der entwicklungsorientierten Hintergrundhaltung bahne und fördere ich durchaus einen regressiven Übertr a gungsprozeß, weil auf diesem Wege an den frühen Entwicklungsdefiziten angesetzt werden kann. Dies gelingt in einer ambulanten Langzeittherapie besser als in einem stationären Kurzzeitsetting, was auch Sachsse konzediert (2004, S. 190).
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Der Gefahr einer Spontanregression mit negativer Übertragungsentwicklung und aversiver Affektüberflutung begegne ich in der Anfangsphase zum einen mit einer sorgfältigen Abwägung des Für und Wider einer zweistündigen vs. einstündigen Frequenz, zum anderen mit Techniken aus dem traumaorientierten Vordergrund, die der emotionalen Stabilisierung und der Klärung der Realität in der therapeutischen Situation dienen (vgl. die Übungen in Kap. B.2.2.4.5.). Bezogen auf die o.g. Kontroverse zwischen Übertragungsanalyse und „Mütterberatungsmodell“ nehme ich also eine vermittelnde Position ein. Ich bin sowohl eine Übertr a gungfigur, was ich allerdings nicht deute, als auch ein Coach oder Trainer, der dem Patienten hilft, mit ängstigenden Affektüberflutungen besser umzugehen. Ich verfolge also, ähnlich der MPTT, eine Strategie der Übertragungsentwicklung, wobei ich darauf achte, daß „eine ‚optimale Differenz’ … zwischen Arbeitsbündnis und Übertragung möglich wird.“ (Barwinski, 2006, S. 362). Im Grunde unterscheidet sich dieses Vorgehen nicht von der intuitiven entwicklungsfördernden Haltung einer Mutter. Sie bietet dem Kind ein basales emotionales mothering (also: sichere Bindung, affektive Resonanz etc.), setzt ihm gleichzeitig aber auch alters- und entwicklungsadäquate Grenzen (z.B. bei einem „Ausraster“), um es zu schützen und ihm i.S. der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski) den Erwerb von Bewältigungskompetenzen zu ermöglichen, die sein Effektanzerleben fördern und sein Selbst stärken.
Wenn sich das Arbeitbündnis gefestigt und eine überwiegend positiv getönte Übertragung etabliert haben, wenn basale Fähigkeiten der Affektregulation und der Mentalisierung im therapeutischen Prozeß entwickelt worden sind, können Manifestationen traumatischer Übertragung auf kindgemäße Weise sehr gut bearbeitet werden. Die Kinderanalyse genießt der Erwachsenenanalyse gegenüber in diesem Zusammehang einen großen Vorteil: sie hat das Medium des Spiels zur Verfügung!
Die kinderanalytische Spezifität des therapeutischen Spiels und der analogen Deutung bietet gerade für die Bearbeitung negativer Übertragung optimale Möglichkeiten, da durch die „Bühne“ des Spiels Übertragung und Realität wesentlich leichter getrennt zu halten sind als in der Erwachsenenanalyse, in der diese Trennung durch sprachlich vermittelte Reflexion des inneren Erlebens hergestellt werden muß. Hierzu bedarf es einer selbst-beobachtenden Funktion, der Fähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung, über die traumatisierte Erwachsene aber meist nur unzureichend verfügen. Traumatisierte Kinder aber wissen im Grunde, daß „im Spiel“ und „in echt“ zwei verschiedene Erlebnisweisen sind.
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Wie in Kap. 2.2.5.2. ausgeführt, kann und muß die Analytikerin beim unmittelbaren Spiel mit dem Kind (z.B. einem „Kampf“ mit Schaumstoffschlägern) die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Übertragung und Realität, durch Innehalten und Nachfragen („Spielstop: Wer wärst du jetzt? … Und wer wär ich?“) immer wiederherstellen, wenn sie in Momenten der Affektsteigerung (Beebe & Lachmann, 1994) verlorenzugehen droht. Durch diese eindeutige Grenze zwischen „im Spiel“ und „in echt“ wird aber einer retraumatisierenden Überflutung mit traumatischem Material, das diese Grenze verwischt, massiv entgegengearbeitet.
Noch stärker abgesichert können negative Übertragungen bearbeitet werden, wenn die Täter-Opfer-Beziehung im Therapiezimmer in definierten Spielsettings inszeniert wird (also z.B. im Puppenhaus, im Sandkasten, in der Ritterburg). Patient und Analytiker führen dann bestimmte Spielfiguren nach der „Regie“-Anweisung des Patienten, allerdings „überwacht“ durch die Analytikerin (vgl. dazu weiter unten), sind dabei „Täter“ und „Opfer“. Durch die Trennung von Person und Spielfigur gewinnen sie aber zusätzliche Distanz zum traumatischen Geschehen, die ziemlich genau den in der PITT-KID (Krüger & Reddemann, 2007) und der Traumazentrierten Psychotherapie von Sachsse (2004) beschriebenen Distanzierungtechniken des „Inneren Beobachters“ und der „Bildschirm-Technik“ entspricht. Durch diese Distanzierung ist ein triangulärer Raum eröffnet, ein „dritter Ort“ etabliert, von dem aus kommentierende Betrachtung und mentalisierende Überlegungen möglich werden.
Dies soll nicht heißen, daß diese Spielszenen eine Garantie dafür bieten, das Trauma in geschützter Distanz mühelos zu verarbeiten, im Gegenteil. Vor allem in der Anfangsphase der Therapie, wenn die Kinder unter einem starken Externalisierungsdruck stehen, aber emotional noch nicht genügend stabilisiert sind, muß die Analytikerin direktiv in das posttraumatische Spiel eingreifen, um traumatische Affektüberflutungen zu verhindern. Manchmal bleibt ihr nichts anderes übrig, als das Spiel einfach von außen zu beenden, um Retraumatisierung zu verhüten (Streeck-Fischer, 1997).
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Dennoch ist die Aktivierung des Trauma-Schemas beim Kind auch eine Chance zur R e konstruktion, die die Analytikerin erkennen und nutzen muß. Diese Aktivierung zeigt sich beim kindlichen Patienten entsprechend dem Übererregungs- und Dissoziationskontinuum (Perry et al., 1998) entweder durch besonders heftige Erregung oder durch dissoziative „Affektabschaltung“. Letztere erkennt man an einer auffälligen Diskrepanz zwischen dramatischem Spielgeschehen und begleitendem Affekt, wenn z.B. im Spiel ein Mensch zu Tode kommt, das Kind dabei aber völlig teilnahmslos bleibt.
Das nun entstehende posttraumatische Spiel ist Risiko und Chance zugleich. Es kann als retraumatisierendes Re-Enactment außer Kontrolle geraten (Streeck-Fischer, 1997) oder es kann als Aufruf zur Hilfe beim Rekonstruktionsprozeß (Krüger & Reddemann, 2007, S. 235) von der Analytikerin „gehört“ und adäquat beantwortet werden. In diesem Fall bietet es die Chance, traumatische Erfahrungen zu reprozessieren, was mit konfrontativen Verfahren, z.B. der „Bildschirmtechnik“, bei Kindern kaum zu erreichen ist. Die meisten traumazentriert arbeitenden Kindertherapeuten teilen nämlich die Erfahrung, daß „Kinder … in der Regel eine frontale Annäherung an traumatische Erfahrungen (vermeiden)“ (Weinberg, 2005, S. 182). Deshalb konzedieren auch Krüger & Reddemann, daß „konfrontative Verfahren …bei kleineren Kindern nicht geplant zum Einsatz kommen können“ (2007, S. 235). Im posttraumatischen Spiel dagegen kann traumaassoziiertes Material verarbeitet werden, weil Kinder dabei nicht wissen (wenn auch vielleicht ahnen), daß es um ihre traumatischen Erfahrungen geht. Ziel dieses Vorgehens ist allerdings keine klassische „Katharsis“, weil diese die Gefahr der Überflutung birgt, sondern eine kontrollierte Verarbeitung i.S. von „Engführung und Überwachung“ des kindlichen Spiels (dazu weiter unten). Entfaltet das Kind solche traumaassoziierten Szenen, „folgen wir seinen Bewegungen in der Szene behutsam, begrenzen Tendenzen, in denen es droht, mit intrusivem Erlebnismaterial zu dicht in Berührung zu kommen und überwältigt zu werden. Wir bieten uns als schützende Begleiter an.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 233)
Hierbei schlagen Krüger & Reddemann die Anwendung des BASK-Modells vor, das auf den Dissoziationsforscher Braun (1988) zurückgeht und sich inzwischen in neurobiologisch fundierten Traumatherapien durchgesetzt hat.
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BASK ( B ehavior/ A ffect/ S ensation/ K ognition) bedeutet, daß das Trauma-Schema immer als ein körperlich fundierter („sensation“), mit bestimmten Gefühls- („affect“) und Denkmustern („kognition“) assoziierter Handlungsablauf („behavior“) mental repräsentiert ist. Ein Beispiel: Ich will weglaufen (B), habe Todesangst (A), spüre diese als Herzrasen in der Brust (S) und denke: „Jetzt muß ich sterben“ (K). Spielt das Kind also eine solche Szene, soll vom Therapeuten das BASK-Modell „abgefragt“ werden, um alle, meist dissoziierten Aspekte des traumatischen Erlebens zu erfassen und entsprechend mental integrieren und reprozessieren zu können. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, daß es sehr kognitionslastig ist und das Kind aus dem Spielfluß herausreißt. In der Praxis beschränke ich mich deshalb darauf, neben dem Affekt lediglich die Körpersensation, bei älteren Kindern ggfs. die negative Kognition abzufragen. Ich halte mich also nicht sklavisch an das BASK-Modell, sondern lasse mich primär vom Spielprozeß führen.
Werden im kindlichen Spiel traumaassoziierte Szenen getriggert, besteht die Gefahr der Retraumatisierung deshalb, weil „in den betroffenen (subliminalen) Traumanetzwerken unter Stress die Unterscheidung zwischen Hier-und-Jetzt (gefahrentlastete Spielsituation) und Dort-und-Damals (reale Gefahr damals) nicht oder nur sehr eingeschränkt geleistet werden kann.“ (Naumann-Lenzen, 2008, S. 73) Denn durch die hippokampale Dysfunktion im Moment der traumatischen Überwältigung ist, wie in Kap. A.3.3.3.2. beschrieben, die raum-zeitliche Zuordnung des traumatischen Geschehens unterblieben. Eine Wiedererinnerung dieses Geschehens wird deshalb so erlebt, „wie wenn das Trauma erneut geschehen würde“. Die Analytikerin muß also im posttraumatischen Spiel durch distanzschaffende Interventionen ständig für eine ressourcenorientierte „Rückkoppelung“ des Patienten im Hier und Jetzt sorgen, jedoch ohne dadurch den Fluß des traumatischen Materials zu unterbrechen.
„Gerade im therapeutischen Spiel, das auf ‚Realphantasien’ beruht, ist … (eine) ‚Engführung’ und ‚Überwachung’ des Spiels deshalb notwendig, da wir das Kind vor der ‚mentalen’ Wiederholung des Geschehens schützen müssen – auch wenn es sich dabei in die aktive Täterposition begibt. Das Signal, daß wir jetzt für Schutz sorgen, ist entscheidend, auch wenn das Kind sich zunächst dagegen stellt.“ (Naumann-Lenzen, 2008, S. 73). |
Die Tatsache, daß das Kind die traumatische Szene in der Rolle des Täters reinszeniert, schützt es nämlich nicht davor, sie erneut in der Rolle des Opfers zu durchleiden. In diesem Zusammenhang sei auf Theorien intersubjektivistischer Autoren verwiesen, welche die gleichzeitige Repräsentation aktiver wie passiver Positionen bei der Aktivierung einer präsymbolisch repräsentierten Interaktionsszene postulieren. So referiert Dornes den norwegischen Entwicklungspsychologen Braten, der sagt, „daß der Säugling von Anfang …in der Lage ist, die Perspektive des Anderen auf die Welt mitzuempfinden. Diese gefühlshafte alterozentrische Partizipation versorgt ihn mit einem Wissen davon, wie der andere sich fühlt, der ihm deshalb unmittelbar vertraut ist…“ (Dornes, 2002, S. 303 f.). Für die Problematik der frühen Traumatisierung ergibt sich daraus die Konsequenz, daß das traumatisierte Kind immer auch die Gefühle des Mißhandlers miterlebt.
„Die vorliegende Theorie erlaubt deshalb die schreckliche Schlußfolgerung, daß der Säugling als Opfer der Mißhandlung zusammen mit dem Mißhandler an der Verletzung teilnimmt … Der Säugling ist nicht einfach das Opfer der Mißhandlung, sondern er ist gezwungen, sich als Teilnehmer der mißhandelnden und verletzenden Aktivität zu fühlen, solange der Mißhandler im Gefährtenraum des Opfers anwesend ist.“ (Braten, 1997, zit. nach Dornes, 2002, S. 319). |
Diese Theorie kann hier nicht weiter diskutiert werden (vgl. dazu Dornes, 2002). Aus neurobiologischer Sicht gewinnt sie insofern an Plausibilität, als mit der Entdeckung der Spi e gelneurone (Gallese, 2001; Rizzolatti et al., 1996) belegt werden konnte, daß die bloße Beobachtung der Handlungen eines Akteurs vom Beobachter auf neuronaler Ebene so nachvollzogen wird, wie wenn er selbst Akteur wäre. Wenn nun im posttraumatischen Spiel des kindlichen Patienten eine traumatische Szene aktiviert wird, können demnach „die erlebten Gefühle nicht mehr sicher dem erleidenden Selbst oder dem traumatisierenden Täter zugeschrieben werden – der Täter kann so vom Innenraum des Opfers Besitz ergreifen und schnürt das Selbst ein.“ (Peichl, 2006, S. 53). Auf diese Weise bilden sich Täterintrojekte. Deshalb muß das kindliche Spiel nicht nur „überwacht“ werden, um die Reorientierung im Hier und Jetzt zu gewährleisten, sondern auch, um die Trennung von Selbst und Objekt, von Opfer und Täter immer wieder herzustellen. Die Tatsache, daß das Kind die traumatische Szene in der Rolle des Täters gemeinsam mit der Analytikerin reinszeniert, darf diese nicht zu dem Trugschluß verleiten, solange sie nur das Opfer sei, sei das Kind psychisch in Sicherheit. Dies ist auch der Grund dafür, daß Autoren wie Krüger & Reddemann einem unbegrenzten Containing kritisch gegenüberstehen und, wie erwähnt, empfehlen, die traumaassoziierten Gefühle (Angst und Schmerz) nur eher anzudeuten und stattdessen die traumaverarbeitenden Gefühle (Wut und Trauer) breit zu entfalten (dazu weiter unten).
Gelingt die „Überwachung“, so können weite Bereiche des Traumanetzwerkes aktiviert und durchprozessiert werden, die anders nicht erreicht würden– schon gar nicht durch externe verbale Deutung. Dies nicht nur wegen der beschriebenen Mentalisierungsdefizite früh traumatisierter Kinder, sondern v.a., weil die traumatischen Erlebnisse dieser Kinder meist entweder aus der präverbalen Phase stammen oder weil durch die Überwältigung in der traumatischen Situation eine Encodierung des Materials in ein sprachlich-symbolisches Repräsentationsformat nur bedingt möglich war.
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„Man kann hier mit Fug und Recht von ‚subliminalem Prozessieren’ der Erfahrungen sprechen, da durch diese Arbeit die subliminalen Traumanetzwerke angesteuert und aktiviert werden; diese ‚wissen’ gleichsam, ‚wovon gespielt wird’. Gerade bei belastungsinduzierten Störungen ist diese Art von aktiv durch den Therapeuten geführtem und überwachtem therapeutischen Spiel ein gutes Mittel der Ansprache und Bearbeitung unbewußten Materials.“ (Naumann-Lenzen, 2008, S. 73). |
Die therapeutische „Überwachung“ posttraumatischen Spiels unterscheidet sich daher entscheidend von der klassisch-analytischen Kindertherapie, in der die Analytikerin lediglich nondirektiv begleitet und die zugewiesenen Spielrollen mehr oder weniger widerspruchslos übernimmt, um der Übertragungs-Szene zur Entfaltung zu verhelfen. Beim posttraumatischen Spiel ist die Analytikerin jedoch nicht nur Begleiterin: „Die Therapeutin hat bei rekonstruktiven Spielsequenzen mehr als sonst die Rolle der ‚Regisseurin’ des therapeutischen Prozesses, die sich das Kind in der Regel auch wünscht. Der Ausweg wird vom Kind ja gerade hilflos gesucht, und da braucht es das Angebot der Therapeutin.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 236
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Deshalb muß die Analytikerin, wo immer es geht, an gute Objekterfahrungen des Patienten anknüpfen und, wo diese fehlen, wie meist bei traumatisierten Kindern, sie im Spiel gezielt entwickeln und „implementieren“. Das hat nichts mit Vermeidung aggressiver Auseinandersetzung zu tun. Ebenso wie in der unmittelbaren Übertragungsbeziehung zwischen Analytikerin und Patient auf die Aufrechterhaltung einer positiven Übertragung zu achten ist (siehe oben), ist auch auf der Spielebene für das Überwiegen der positiven Valenzen von Objekterfahrungen zu sorgen. Dies bedeutet angesichts der katastrophischen Inszenierungen früh traumatisierter Kinder, daß „das Gute“ am Ende unbedingt siegen muß und daß wegen der meist völlig konfusen Gut- und Böse-Vorstellungen dieser Kinder “gute“ und „böse“ Figuren eindeutig benannt und auch im Sinne der Aufrechterhaltung von Spaltung durchgehalten werden müssen. Plötzliche Durchbrüche destruktiver Anteile bei „guten“ Figuren, die Ausdruck der Täterintrojekte des Patienten sind, müssen als solche benannt und im Spielverlauf korrigiert werden. Also z.B.: „Das ist doch der Goldene Ritter, der jetzt das Schweinchen aufspießt, das geht nicht, das muß der andere spielen, der böse Ritter“. In derartigen chaotischen Spielsitutationen wirkt die Anrufung hilfreicher Objekte stabilisierend, am besten eignen sich Sagen- und Märchenfiguren, wie sie auch Reddemann in der Arbeit mit erwachsenen Trauma-Patienten bevorzugt, weil diese in ihren Qualitäten eindeutig definiert sind (Gute Fee vs. Teufel). Die Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Seiten von Menschen und Spielfiguren, die Arbeit an der Integration gespaltener Selbst- und Objektrepräsentanzen mit dem Ziel der Entwicklung reifer Ambivalenz, ist erst einem wesentlich späteren Therapieabschnitt vorbehalten. Diese Vorgehensweise entspricht heute dem Mainstream in der Kindertraumatherapie. So plädiert z.B. auch die bereits erwähnte Kindertraumatherapeutin Weinberg (2005) für den gezielten therapeutischen Aufbau guter innerer Instanzen und die gezielte Arbeit mit Spaltungen. Besonders, wenn sich traumatische Spielszenen zuspitzen und eine Retraumtatisierung droht, ist die Einführung hilfreicher Retterfiguren unabdingbar. Diese sollten im Idealfall vom Kind selbst gefunden werden, was aber nicht immer gelingt.
„Der Weg ist, daß wir zunächst die Kompetenz des Therapiekindes befragen. Wenn es völlig blank ist und sich keine Hilfe oder Rettung vorstellen kann (was bei früh traumatisierten Kindern häufig der Fall ist), ist es unsere Aufgabe, Schutzfiguren und Schutzorte vorzuschlagen und einzuführen. Manches Mal werden wir erleben, daß ein Kind sich gegen Schutzfantasien aufbäumt: Sie passen gar nicht zu dem verinnerlichten Desaster. Nach meiner Erfahrung gelingt es aber doch mit einiger Geduld und Fantasie immer, den richtigen Schutzengel zu finden.“ (2002, S. 16). |
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Auch wenn sich dieser Engführung und Überwachung des kindlichen Spiels (Naumann-Lenzen, 2008) das innere Chaos früh traumatisierter Kinder sukzessive eingrenzen, ordnen und klären läßt, sind Retraumatisierungen durch einen solchen Interventionsstil dennoch nicht gänzlich zu vermeiden. Die Therapie ist eine ständige „Gratwanderung zwischen Wiedererleben des Traumas, das zur entwicklungsfördernden Modifikation führt, und einem Wiedererleben, das die Beziehung gefährdet bzw. gar eine Retraumatisierung bedeutet“ (Hirsch, 2004, S. 124). Und auch Krüger & Reddemann resumieren, daß es sich nicht immer ganz sicher sagen läßt, ob es sich beim posttraumatischen Spiel des Kindes „jeweils um eine retraumatisierende Erinnerungsssequenz oder um einen integrativ wirkenden Konfrontationsprozeß im Sinne des Wunsches nach Rekonstruktion dissoziierter Erlebnisinhalte handelt.“ (2007, S. 234).
Bei der beschriebenen Engführung und Überwachung des kindlichen Spiels ist es hilfreich und manchmal auch nötig, eine zusätzliche Beobachter-Position einzuführen, um die nötige Distanz zum traumatischen Geschehen zu wahren. Wie erwähnt, stellt die „Bühne des Spiels“ in der Kindertherapie zwar von selbst eine Distanz des inneren „Zuschauers“ zum Drama auf der „Bühne“ her. Die Gefahr einer Retraumatisierung verschärft sich jedoch wegen der intensiven Identifikation des Kindes mit den Spielfiguren, vor allem beim unmittelbaren Rollenspiel zwischen Analytikerin und Patient, wenn kaum noch eine triangulierende Distanzierungsmöglichkeit besteht. Hier kann die Integration von Elementen der „Beobachter-Technik“ hilfreich sein.
Die Beobachter-Technik wurde von Reddemann (2001) als Traumakonfrontationstechnik entwickelt. Mit ihr wird die Fähigkeit zur Dissoziation der traumatisierten Patientinnen systematisch genutzt, indem das Erleben der erwachsenen Patientin in verschiedene „Teil-Ichs“ oder „Ego-States“ aufgeteilt wird, deren Umgang miteinander in der anfänglichen Stabilisierungsphase als „Innere-Kind-Arbeit“ geübt wird. Entschließt sich die Patientin zur Traumakonfrontation, werden zunächst alle „Inneren Kinder“, aber auch alle „erlebenden“ Teile des erwachsenen Ich an den „Sicheren Ort“ gebracht. Als unterstützende Ressourcen werden die „Inneren Helfer“ sowie die „Idealen Eltern“ imaginiert, dann wird ein beobachtender Teil kreiert, der „Innere Beobachter“, der mit dem „relativ neutralen Ich“ zusammenarbeitet. „Der beobachtende Teil berichtet dem relativ neutralen Ich von heute, was er beobachtet und zwar sowohl die Erfahrung des Körpers, die Gedanken, die Bilder und die Gefühle (z.B. das Kind wird geschlagen, sein Rücken tut weh, es ist traurig und verzweifelt usw.).“ (ebd., S. 172). Wenn die Therapeutin bei der Patientin Anzeichen von Angst bemerkt, ruft sie die erlebenden Teile wieder zurück an den „Sicheren Ort“. Ist das Trauma durchgearbeitet, hilft sie der Patientin, zu klären, welchen Trost das „verletzte innere Kind“ jetzt von welchem Ego-State braucht. Vor und nach der Konfrontation wird von der Patientin anhand einer Skala der Belastungsgrad der traumatischen Situtation eingeschätzt.
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Es wurde bereits erwähnt, daß Kinder eine solch direkte Konfrontation meist verweigern. Zudem stellt die hochgradige Ausdifferenzierung der Ego States sensu Reddemann eine kognitive Überforderung dar. Weil Kinder, wie erwähnt, ihr Trauma stattdessen im posttraumatischen Spiel „konfrontieren“, können dort Aspekte der Beobachter-Technik integriert werden, um eine Überflutung zu vermeiden. So hat es sich in meiner klinischen Praxis bewährt, dem „Opfer“ der Szene zunächst einen Namen zu geben. Dieses Opfer, das abweichend vom Namen des Kindes z.B. „die Lilly“ heißen soll, wird dann, wenn sich eine traumatische Szene heikel zuspitzt, nach einem kurzen Spielstop an seinen „Sicheren Ort“ gebracht. Eine weitere Möglichkeit, Distanz zu den Schreckensbildern zu schaffen, besteht darin, das Spielgeschehen zu einem Alptraum zu erklären, den man sich nun im weiteren Spielverlauf (aus der Perspektive des „Inneren Beobachters“) zusammen anschaut und froh ist, daß es nur ein „schlimmer Traum“ ist. In der traumatischen Szene spielt dann „ein anderes Kind“ (ein anderer Ego-State des Patienten) den „Traum“ weiter, wobei sich dieser differente Ego-State ohne besondere Erklärung über den leicht verfremdeten Namen des „Opfers“ herstellen läßt, in unserem Fall also z.B. „die Lilja“ oder „die Lisa“. Meist gehen die Patienten ohne weiteres auf diese Verfremdung ein, wenn denn nur gesichert ist, daß die Trauma-Szene weitergespielt wird. Sobald nämlich das Traumanetzwerk aktiviert ist, besteht ein intensiver Externalisierungsdruck, dem unmittelbar Raum gegeben werden muß. Allzulange „Regie-Verhandlungen“ stören diesen Prozeß oder bringen ihn sogar ganz zum Erliegen. Wenn beim Therapiekind noch eine ausreichende Bereitschaft spürbar ist, lasse ich es den Sicheren Ort der „Lilly“ sensorisch ausphantaisieren, um den Ressourcenpol zu stärken und frage bei „Lisa“ summarisch das BASK-Modell ab – dies jedoch nur solange die Patientin mitmacht, sonst muß schleunigst weitergespielt werden!
Eine weitere Distanzierungsmöglichkeit i.S. der Beobachter-Technik ist die von vielen, auch nicht-psychodynamischen Kindertrauma-Therapeuten (z.B. Weinberg, 2002, 2005) gewählte Variante, heikle Rollen von einer Puppen- oder Tierfigur als Stellvertreter übernehmen zu lassen. Typischer Fall ist die direkte Täter-Opfer-Übertragung, in der das Kind das Opfer spielen will und der Analytikerin die Täter-Rolle zuweist. Durch diese direkte Parallele zur ursprünglichen Trauma-Szene ist die Gefahr einer Retraumatisierung besonders groß. Um ihr zu begegnen, lasse ich sowohl meine eigene als auch die Rolle des Kindes z.B. durch einen großen und einen kleinen Teddybären spielen. Auf diese Weise entsteht eine Distanz zwischen Beobachter und Spielfigur, die der Verankerung des Patienten im gefahrlosen Hier und Jetzt dient (ausführlicher weiter unten).
Der Umgang mit heftiger, z.T. sadistischer Aggression des Kindes im posttraumatischen Spiel ist umstritten. Die Klassiker vertreten die Katharsis-These, nach der sich, wie die Märchen zeigten, die reinigende Wirkung für die Kinderseele in oft bestialischer Brutalität vollziehe. Traumatheoretisch argumentieren diese Autoren mit der completion tendency, der „Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung unterbrochener Handlungen“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 93). Wiederaufgenommen werden sollen Kampf- und Fluchtimpulse, die in der traumatischen Situation nicht vollendet werden konnten und nun, im posttraumatischen Spiel aktiviert, nach Entladung drängten. So meinen z.B. die klientenzentrierten Kindertraumatherapeuten Weinberg & Hensel: „Das Böse darf dann durch und durch böse sein, es darf gequält und getötet werden, und dadurch kann es auf einer unbewußten seelischen Schicht tatsächlich zu einer kathartischen Wirkung kommen.“( 2008, S. 132).
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Dem widersprechen, zumindest für die Erwachsenen-Therapie, psychodynamische Traumatherapeuten wie Sachsse (2004, S. 263), die feststellen, daß gerade niederstrukturierte Patienten von heftigen Abreaktionen wenig profitieren. Die Erfahrung zeige, „daß eine Überlastung des Stressverarbeitungssystems durch und während einer Trauma-Exposition …die posttraumatische Symptomatik sogar verschlimmern kann“, weshalb versucht werde, „die Techniken der Trauma-Exposition immer schonender zu gestalten, ohne daß dieses Vorgehen an Wirksamkeit verliert.“ (ebd. S. 265). Die Tendenz in der Trauma-Therapie gehe deshalb inzwischen eher in Richtung Trauma-Synthese, d.h.einer „gesteuerten Synthese aus Wort, Bild, Affekt und Körpersensation …so daß ein Gesamtgeschehen als ganze Gestalt erlebt wird …Therapie-Ziel ist heute also nicht die Abreaktion zur Katharsis, sondern die Trauma-Synthese zur Integration.“ (ebd. S. 264 f.). Wohl aus diesem Grund hat sich das o.e. BASK-Modell, das eben dieser Integration dient, so erfolgreich durchgesetzt.
Eine zusätzliche Erschwernis ergibt sich für früh traumatisierte Kinder darin, daß sie meist unter Beziehungstraumatisierungen leiden, deren Täter, z.B. eine prügelnde Mutter, gleichzeitig Bindungsfigur ist. In der sadistischen Rache am Täter im posttraumatischen Spiel wird deshalb auf einer unbewußten Ebene immer zugleich auch die geliebte Bindungsfigur attackiert. Wenn das Täterintrojekt im Spiel, z.B. die „böse Hexe“, qualvoll stirbt, stirbt auch die überlebenswichtige Bindungsfigur, die in der negativen Übertragung verborgene positive Mutter-Imago. Das kann zu heftigen Verlassenheitsängsten, sekundär zu schweren Schuldgefühlen, führen und sich in einer Verschlechterung der Symptomatik bis hin zu psychischer Dekompensation niederschlagen.
Luise Reddemann (2001) hat für den traumatherapeutischen Umgang mit diesen Täterintrojekten das sog. Drachentöter-Modell entwickelt. Analog zu den Mythen und Märchen handelt es sich darum, dem Täterintrojekt zunächst eine Gestalt zu geben (also z.B. den Drachen), dann Helfer im Kampf gegen die böse Gestalt zu finden, um die böse Gestalt unschädlich zu machen und anschließend den Schatz der bösen Gestalt zu finden und sich anzueignen (ebd., S. 171). Ziel ist dabei weniger, die böse Gestalt zu vernichten als ihre zerstörerische Kraft unter Kontrolle zu bekommen, was, so Reddemann, auch durch Gefangennahme, Verbannung, „Auf-den-Mond-Schießen“, Versteinerung oder Verwandlung in einen Helfer bewirkt werden könne. Wenn es zum Kampf mit dem Drachen komme, solle die Therapeutin darauf achten, daß genügend hilfreiche Wesen („gute“ Objekte) auf der „Spielbühne“ vorhanden seien, „gegebenenfalls ‚ideale Versorger’ oder Wesen mit guten elterlichen Eigenschaften“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 194). Wichtiger als die Tötung des Drachens sei, so die zuletzt genannten Autoren, „der Schatz und dessen Auswirkung auf das alltägliche Leben“ (ebd., S. 196). Die Auswirkungen dieses Schatzes (der „guten“ Objektanteile der Bindungsfigur) sollten möglichst intensiv ausphantasiert werden, um die positiven Ressourcen des Kindes zu stärken.
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Was meine eigene klinische Praxis anbelangt, so verfolge ich auch hier einen Mittelweg. Ich achte darauf, daß bei aggressiven Rache-Aktionen gegen Täterfiguren immer auch ein „gutes“ Objekt mit im Spiel ist, das zumindest am Ende die Oberhand behält. Oft hilft die Figur einer Guten Fee, die zur Hilfe bereitsteht und bei Bedarf zur Verstärkung herbeigerufen werden kann. Dennoch muß auch die Wut auf den Täter ihren Platz bekommen. Die Erfahrungen früh traumatisierter Kinder sind körpernah gespeichert, weshalb der Körper primäres Ausdrucksmittel im posttraumatischen Spiel ist. Dabei erleben vernachlässigte, affektentleerte Kinder oft zum ersten Mal heftige, intensive Affekte von Wut und Trauer. Bei mißhandelten, eher zur Übererregung neigenden Kindern ist dagegen in der Tat darauf zu achten, daß sie durch zu heftiges Abreagieren nicht völlig die Kontrolle verlieren und retraumatisiert werden. Was schließlich den Schatz des Drachens betrifft, so ist dies zwar eine tiefgründige Metapher, doch es bietet sich nicht in jeder Spielsequenz ein passendes Äquivalent dafür an. Es ist schon viel gewonnen, wenn im posttraumatischen Spiel ein Teil des traumatischen Materials prozessiert werden kann und schließlich eine „glückliche Wendung“ ermöglicht wird, in welcher der gute Objektanteil des Täterintrojekts siegt.
In diesem Kapitel sollen entsprechend den für Beziehungstraumatisierung typischen Rollen des „Drama-Dreiecks“ (Karpman, 1968) die drei zentralen Übertragungsposititonen des Täters, des Opfers und des Retters beschrieben werden, die der Kinderanalytikerin von früh traumatisierten Patienten in der Regel zugewiesen werden.
Die behandlungstechnischen Überlegungen sollen anonymisierte Fallvignetten aus meiner klinischen Praxis anschaulich machen. Diese Fallvignetten beschreiben jeweils eine Spielsequenz in einer einzelnen Stunde, an der mein Umgang mit der Übertragungskonstellation sichtbar wird. In diesen Szenen wird selbstverständlich nicht das Trauma in seiner Gesamtheit, sondern nur jeweils ein Teil des traumatischen Materials bearbeitet. In Fällen chronisch-kumulativer Traumatisierung handelt es sich um eine Vielzahl von Szenen, die nur nach und nach über eine lange Dauer prozessiert werden können.
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Die Analytikerin als Retterin ist vor allem zu Beginn einer Traumatherapie die klassische Übertragungsposition, in welche das Kind die Analytikerin manövriert. Auf die Gefahren, die diese Übertragungsposition birgt, wurde in Kap. B.2.2.1.3. ausführlich hingewiesen. Gegen das Problem einer Rivalität mit den Eltern hilft die Gute-Großmutter-Übertragung (vgl. Stern, 1998 a). Ich biete mich damit als „sichere Basis“ für Kind und Mutter an, was besonders von dieser als sehr hilfreich erlebt wird.
In der konkreten Spieltherapie weise ich idealisierende Übertragungen (z.B. Mutter-Kind-Spiele) nicht zurück, versuche aber, sie in Richtung des Als-ob-Spiels zu steuern, z.B. durch Verlagerung der Beziehung ins Tierreich oder in die Puppenwelt, um die Symbolisierungsfähigkeit des Kindes zu fördern. Wenn es beim posttraumatischen Spiel zu traumatischen Szenen kommt, wenn ein Retter gebraucht wird und das Kind keine eigenen Einfälle dazu hat, schlage ich entsprechende Retterfiguren vor, die ich bei Bedarf auch spiele. Dabei bevorzuge ich symbolische Elternfiguren, also entsprechend der konkreten Spielszene etwa „die Bäckersfrau“, „den Schuldirektor“ etc. Besonders beliebt ist– wie im Kasperltheater – der Polizist, der neben seiner Vater-Konnotation auch Recht und Gesetz repräsentiert. Magische Retterfiguren wie die Gute Fee, den Goldenen Ritter, den Zauberer, spiele ich nicht selbst, sondern lasse sie, weil dadurch unbesiegbar, als imaginierte Figuren erscheinen.
Wenn die Analytikerin sich des Risikos der idealisierenden Übertragung bewußt ist, kann diese als durchaus hilfreich zugelassen werden. In diesem Sinne äußert sich auch Wöller: „Oft kann eine Beziehung nur über Idealisierungen hergestellt werden. Wir bemühen uns, die ich-stärkenden Aspekte positiver Übertragungen zu erhalten, achten aber darauf, daß die Idealisierungen nicht zu sehr in den Dienst des Widerstandes treten.“ (2006, S. 355)
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Die Täter-Übertragung kann auf zwei Wegen erfolgen: als Flash-back-Übertragung und als negative Übertragung im posttraumatischen Spiel, wobei beide Formen sich in Einzelfällen auch überlappen können.
Auf die Flash-back-Übertragung wurde bereits hingewiesen. Es handelt sich um Intrusionen des Kindes, die durch spezifische, nicht immer rekonstruierbare Reize (ein s Kleidungsstück, ein Parfüm, eine Tonlage der Analytikerin etc.) ausgelöst werden und die primäre Reaktionen (Fight/Flight/Freeze) auslösen, also „Ausraster“ oder dissoziative Zustände.
Hier sind keine Deutungen angebracht, sondern rasches Handeln i.S. der Reorientierung in Zeit und Raum. Also klar, deutlich, direkt ansprechen: „Du bist jetzt in Sicherheit, Markus, es passiert dir nichts! Du bist total sicher. Ich bin die Frau Volk. Jetzt ist Dienstag nachmittag, du bist wie immer in der Therapiestunde. Schau mal, draußen scheint die Sonne. Es ist alles gut.“ Um dem Kind seinen Übererregungs- oder Dissoziationszustand zu erklären, sind Metaphern hilfreich: „Das ist ein alter Film, in dem du jetzt bist. Der ist vorbei. Du hast aller hinter dir. Du bist in Sicherheit.“ Reagiert das Kind darauf an, können auch Techniken der schnellen Affektberuhigung eingesetzt werden (tief durchatmen, bis zehn zählen, an was Schönes denken).
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Bei andauernden dissoziativen Zuständen sind sensorische Außenreize hilfreich, d.h. eine Umfokussierung der Aufmerksamkeit, wie sie in den Achtsamkeitsübungen der Anfangsphase bereits eingeübt wurde: den Boden unter den Füßen spüren, genau sagen, was man hört, sieht, riecht, die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken. Noch stärkere Außenreize (Igelball, Eiswürfel in die Hand, Ammoniakfläschen zum Riechen, vgl. Wöller, 2006, S. 235 ff.) bzw. weitergehende Dissoziationsstop-Techniken („Pacing“ und „Leading“, „Filmrücklauf“, Konfusionstechnik, vgl. Sachsse, 2004 g, S. 243 ff.), wie sie in der stationären Erwachsenentherapie empfohlen werden, sind im Rahmen meiner ambulanten Kindertherapie bisher nicht nötig gewesen.
Von körperlichen Berührungen ist in solchen Situationen eher abzuraten. Sie können zwar grundsätzlich hilfreich sein i.S. von Holding und Trost, sind aber bei Mißhandlungs- und Mißbrauchsopfern auch mit dem Risiko verbunden, den traumatischen „Film“ noch weiter zu steigern. Eine Berührung ist unbedingt vorher anzukündigen, um Überwältigungsgefühlen zu begegnen. Falls das Kind ansprechbar ist, kann man es auch auffordern, sich selbst zu berühren: sich mit den Händen kräftig auf die Oberarme, die Oberschenkel zu klopfen, auch Kniebeugen zu machen, um den „numbing“- Zustand zu beenden. Falls das Kind bei einem „Ausraster“ mit Gegenständen wirft, bleibt jedoch leider nichts anderes übrig, als es festzuhalten, bis es sich beruhigt hat (vgl. auch Krüger & Reddemann, 2007, S. 241).
Im Anschluß daran ist es wichtig, dem Kind seinen durchlittenen Zustand in aller Ruhe zu erklären („alter Film“), es zu trösten, von Schuldgefühlen zu entlasten und nach dem Auslöser der Intrusion/Dissoziation zu suchen. Wenn dies möglich ist, können mit älteren Kindern auch „Übungen für Notfälle“ besprochen werden (vgl. Kap. B.2.2.4.4.), um mit entsprechenden Situationen künftig kompetenter umzugehen. Darüber hinaus ist die Information der Eltern wichtig, damit sie sich nach einer solchen Stunde besonders tröstend um ihr Kind kümmern. Eventuell ist auch eine Absprache mit Lehrern sinnvoll (vgl. Kap. B.1.1.2.).
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Diese Übertragungsposition, in der das Kind das Opfer spielen will und der Analytikerin die Täter-Rolle zuweist, ist für die Analytikerin die heikelste. Zum Glück kommt sie eher selten vor. Wie erwähnt, entsteht durch diese direkte Parallele zur ursprünglichen Trauma-Szene ein besonders hohes Retraumatisierungs-Risiko. Deshalb baue ich hier gleich mehrere distanzierende „Notbremsen“ ein, um den Kontakt des Patienten zum Hier und Jetzt der Therapiestunde nie abreißen zu lassen.
Zunächst frage ich i.S. der adaptierten „Beobachter-Technik“ von Reddemann, wie das Opfer im Spiel heißen würde und bringe es bereits vor Spielbeginn an den Sicheren Ort. Wenn das Therapiekind sich dagegen wehrt, verschiebe ich dies auf später, wenn sich die Lage zuspitzt. Hierauf erkläre ich, wie erwähnt, das Spielgeschehen zu einem „schlimmen Traum“, um eine weitere Distanzierungsmöglichkeit zu geben. Schließlich schlage ich vor, die Szene nicht direkt zu spielen, sondern beide Rollen, Täter wie Opfer durch einen Stellvertreter zu ersetzen, wobei mir das Therapiekind, das die Opfer-Figur führt, jede meiner Handlungen akribisch vorschreiben muß. Ich entwickle in diesem Spiel keinerlei Eigeninitiative. Auf diese Weise ist gewährleistet, daß das Kind in jedem Moment der Spielsituation die Kontrolle über die Szene behält. Dadurch soll einer retraumatisierenden Überflutung vorgebeugt werden. Oft sind die Kinder nicht auf Anhieb bereit, diese Regeln auszumachen, wie auch Weinberg bestätigt, von der ich diese Vorgehensweise übernommen habe:
„Wenn das Kind das nicht akzeptiert, gebe ich eine deutliche ‚Ich-Botschaft’: Ich möchte dich nicht verletzen/quälen. In Wirklichkeit nicht, aber auch nicht im Spiel. Ich nehme mir deswegen einen Stellvertreter und du gibst mir genaue Anweisungen, was der machen soll.’ Durch Körperhaltung, Stimme, Spielstops mit der Bitte nach genauen Regieanweisungen mache ich den Unterschied von mir als Therapeutin und dem Spiel-Täter klar.“ (2002, S. 14) |
Neben meiner durch den Patienten streng „reglementierten“ Täter-Aktivität kann ich durch diese distanzierenden „Notbremsen“ eine Beobachter-Rolle einnehmen, die über mentalisierende Kommentierung eine andere Perspektive auf das Geschehen ermöglicht: Wut und Auflehnung gegen den Peiniger. Die Analytikerin sollte hier durchaus i.S. des Containing-Konzeptes die für den Patienten unerträglichen Affekte von Ohnmacht, Angst und Schmerz artikulieren, die dieser bei ihr „deponiert“. Allerdings besteht aus neurobiologischer Sicht an dieser Stelle eine deutliche Differenz zwischen traumazentrierter Psychotherapie und klassischem Containing: Um eine Überflutung mit traumatischem Material zu vermeiden, sollte die Verbalisierung der traumaassoziierten Affekte, also vor allem Angst und Panik, die das Traumaschema aktivieren, eher „knapp gehalten“ bzw. aus einer „neutralen Beobachterperspektive“ wahrgenommen werden. Die traumaverarbeitenden Affekte, also vor allem Wut und Trauer, die das Bewältigungssystem des Patienten stärken, sind dagegen eher „breit“ auszuführen: „Wenn traumaverarbeitende Gefühle wie Trauer und Wut auftauchen, erfolgt automatisch eine Assoziation von erlebenden mit beobachtenden Teilen. Das sollte man nicht unterbrechen …Traumaassoziierte Gefühle hingegen sind extrem belastend und sollten daher immer mithilfe des beobachtenden Teiles wahrgenommen werden, während die erlebenden Teile in Sicherheit sind.“ (Krüger & Reddemann, 2007, S. 228). Außerdem darf die Analytikerin sich nicht wie im klassischen Containing einfach dem Prozeß überlassen, sondern muß i.S. ressourcen- und lösungsorientierter Intervention eine „glückliche Fügung“ des traumatischen Schreckens herbeiführen helfen. „Damit wird nach unserem Verständnis die damals unterbrochene Handlung zu einem ‚guten Ende’ gebracht. Und das ist für die Heilung wichtig.“ (ebd.). Bezogen auf die posttraumatische Spielszene heißt das: „Wer könnte dem Kind jetzt helfen?“ Allerdings ist in Übertragungskonstellationen, in denen das Therapiekind extrem mit der Opferseite identifiziert ist, mit einer Rettung aus seiner Phantasiewelt nur selten zu rechnen, eine Erfahrung, die auch Weinberg teilt. Wenn also von der Seite des Kindes kein Vorschlag kommt, artikuliere ich meine Wut auf den Täter und
„.. sage auch, was ich am liebsten mit ihm anstellen würde. Im Allgemeinen springen die Kinder spätestens jetzt auf den Zug auf, der sie aus der Opferposition rausholt. Sie geben mir zu verstehen, daß ich genau das mal machen soll. Und nachdem sie mir eine Weile staunend beim Verprügeln zu geschaut haben, schließen sie sich mit Feuereifer an.“ (Weinberg, 2002, S. 14). |
Die 5jährige Anna wird mir von ihren Pflegeeltern wegen heftiger Angstanfälle und schw e rer Alpträume vorgestellt. Anamnestisch ergeben sich eine frühe Vernachlässigung durch eine a l koholabhängige alleinerziehende Mutter und ein länger andauernder sexueller Mißbrauch durch den jugendlichen Sohn eines Nachbarn, dem die Mutter ihre Tochter zum abendlichen Babysitten anvertraute. Neben den Pflegeeltern ist auch die Pflege-Oma eine wichtige Bi n dungsfigur.
Nach anfänglicher extremer Ängstlichkeit ist Anna in der Therapie so weit erstarkt, daß sie sich immer mehr zutraut. Als im Kindergarten für Halloween Kürbisse zurechtgemacht werden, erzählt sie mir aufgeregt davon, und so fangen Anna und ich an, Gespenst zu spielen, indem wir uns Bettlaken über den Kopf ziehen und „Huhu!“ machen. Dabei darf aber das Laken mein Gesicht nicht verdecken, sonst bekommt Anna Angst. Bald ensteht unter großem Gekicher eine spielerische Jagd durch das Therapiezimmer, bei der ich Anna fangen muß. Wegen der Vernachlässigung Annas denke ich zunächst an ein frühkindliches „Fang-mich!“-Spiel, in dem es um Trennung und Wiedervereinigung geht. Nach einer Weile hält sie jedoch inne und gibt mir folgende Spielanweisung: „Ich würde jetzt im Bett liegen und schlafen, und dann würde ein Monster kommen. Du bist das Monster!“ Mir fallen Annas Alpträume ein. In der Gegenübertragung fühle ich mich etwas beklommen, ahne Schlimmes, und so frage ich nach, was dann passieren würde. Das weiß Anna aber selbst noch nicht. Also gehe ich zunächst auf die Vorgabe ein. Als sich Anna auf den Boden legt, fällt mir auf, daß sie die Beine zusammenpreßt und den Blick starr an die Zimmerdecke gerichtet hält. Ich denke sofort an den sexuellen Mißbrauch, von dem zu sprechen sich Anna bisher standhaft geweigert hat. Nach einem ersten zaghaften „Huhu!“ meinerseits verstärkt sich Annas Verkrampfung. Darauf lege ich einen Spielstop ein, um ihre Realitätsorientierung zu überprüfen. Ich spreche sie als „Anna“ an, betone den Spielcharakter, frage nach, was ich jetzt im Spiel machen müsse, und Anna teilt mir mit, ohne den Blick von der Decke zu wenden, daß ich sie „mit einer Säge zerhacken“ solle. An dieser Stelle beschließe ich, zunächst eine Pause einzulegen, da ich das Abgleiten Annas in einen dissoziativen Zustand befürchte. Auf meine Bitte, aufzustehen, reagiert Anna auch nur sehr verlangsamt. Ich spreche sie deutlich an, orientiere sie in Zeit und Raum, und als sie wieder ganz präsent zu sein scheint, frage ich, wie das Mädchen in dem Bett denn heiße. Sie zuckt die Achseln. Ich mache ihr eine Vorschlag: „Sandra“? Sie nickt. Ich sage „Die Sandra hat gerade ganz schön Angst bekommen, vielleicht weil sie einen schlimmen Traum gehabt hat“ und will Sandra mit Annas Einverständnis an einen „Sicheren Ort“ bringen. Wo der denn wäre? „Auch in einem Baumhaus“ (Annas „Sicherer Ort“ ist, so hatten wir es am Anfang der Therapie erarbeitet, „im Baumhaus in Omas Garten“). Ich lasse Anna Sandras Baumhaus ausphantasieren (bunte, selbstgemalte Bilder an der Wand, weiches Bett, viele Kuscheltiere, die Vögel zwitschern, es riecht nach Parfüm, Sandra hat von der Pflege-Oma ein altes Parfümfläschchen bekommen). Die Grenzen zwischen Annas und Sandras „Sicherem Ort“ verschwimmen, aber das macht nichts. Anna lächelt, sie ist gut im Ressourcenpol verankert. Dann schlage ich vor, an ihrer Stelle eine Puppe in Sandras Bett zu legen, und sie entscheidet sich für die Baby-Born-Puppe. Wie würde die Puppe heißen? „Sandra“. „Das geht nicht, die Sandra ist ja im Baumhaus“ kläre ich die Grenze. „Der Sandra geht’s gut, und die ist in absoluter Sicherheit, die ist froh, daß das alles nur ein schlimmer Traum ist.“ „Dann heißt sie …Nicole“. Gut. Ich erkläre Anna nun, daß jetzt nicht mehr ich das Monster spiele, sondern mir einen Stellvertreter suche, und dann würden „wir uns beide hier in Sicherheit anschauen, was da in dem schlimmen Traum passiert“. Anna ist einverstanden, sie tastet nach meiner Hand, um sich zusätzlich Sicherheit zu verschaffen. Ich nehme meinen Riesenteddy mit der „bösen“ schwarzen Augenmaske, werfe ihm das Laken über und führe ihn an Nicoles Bett. „Was würde das Monster jetzt machen?“ Anna starrt verkrampft auf das Baby. „Aua“ sagt sie tonlos. „Aua.“ „Wo denn?“ „Da!“ Anna zeigt auf ihren Schoß. Ich halte inne. „Wie geht’s denn jetzt der Nicole?“ „Die schläft.“ „Merkt die nicht, daß das Monster da ist?“ „Nein.“ Ich frage mich, ob ich das Mißbrauchs-Spiel wirklich weiter entfalten soll. „Wacht die denn nicht auf?“ „Noch nicht.“ Aha, es soll also weitergehen. Ich nähere den Teddy der Puppe, beobachte dabei aufmerksam Annas Reaktion, bereit, jederzeit abzubrechen. Sie ist verspannt, starrt auf das Baby. In der Gegenübertragung fühle ich mich äußerst unwohl. Sollte ich nicht spätestens jetzt abbrechen? Ich versuche, auf der sprachlichen Ebene mit Anna im Kontakt zu bleiben. „Wie geht’s jetzt der Nicole?“ „Die schläft noch.“ „Soll das Monster jetzt die Nicole an ihrem Pipi anfassen?“ Sie nickt. Vorsichtig, mit einem sehr unguten Gefühl, lasse ich den Bären Nicoles Schoß berühren. Anna zuckt zusammen, klammert sich an mich. „Jetzt ist sie aufgewacht!“ „Und wie geht’s ihr jetzt?“ „Sie hat ganz doll Angst“. Immer noch an mich geklammert, auf das Baby starrend, erzählt Anna atemlos, daß es Nicole „am Pipi ganz doll brennt“ und daß Nicole „denkt, daß das Monster sie totmacht“ (BASK-Modell). Jetzt, da der Bann gebrochen ist, verspüre ich einen gewaltigen Zorn. „Dieses Schwein!“ stoße ich hervor, nehme mich schnell zurück, als Anna mich erschrocken anschaut. „Ich find das so gemein, daß das Monster der Nicole so weh tut!“ Anna schaut mich immer noch fassungslos an. Ich habe das Gefühl, viel zu intensiv zu sein. Ich denke an Annas Verlassenheit in der Babysitting-Situation ihrer frühen Jahre. „Könnte jetzt jemand kommen und Nicole helfen?“ Anna schüttelt den Kopf. „Eine Gute Fee vielleicht?“ frage ich. Wieder Kopfschütteln. Fast bin ich erleichtert. Dann kann ich das Monster ja endlich verprügeln. „Du gemeines Monster!“ rufe ich empört und haue den Teddy mit der Faust ins Laken-Gesicht. „Laß sofort die Nicole in Ruhe! Hör sofort auf, du Schwein! Der Nicole so weh zu tun!“ Wieder schlage ich zu und beobachte Annas Reaktion. Sie schaut zu, gespannt. „Soll ich das Monster weiter hauen?“ Sie nickt heftig. Ich schlage weiter und beschimpfe das Monster, artikuliere die traumaverabeitenden Gefühle von Wut, Verachtung und Ekel. Dann besinne ich mich und suche nach einer symbolisierteren Form, lasse den Monster-Teddy fallen und hole mir einen Schaumstoffschläger (Batakas). „Na warte, du böses Monster, jetzt hol ich mir ein Schwert!“ – und Anna läuft sofort mit! Sie schnappt sich den zweiten Schläger - wir haben damit schon etliche „Ritterkämpfe“ ausgefochten -, und gemeinsam schlagen wir nun auf den Teddy ein. So habe ich Anna noch nicht erlebt! „Schwein! Schwein!“ schreit sie wie wild, wirft schließlich den Schläger weg und tritt wütend auf den Teddy ein. Sie hört erst auf, als ihr die Luft ausgeht. Erschöpft setzen wir uns auf den Boden und verschnaufen. Anna rückt dicht neben mich. „Puh! Das war schwer!“ sage ich.
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Gemeinsam betrachten wir den Teddy, der eigenartig „hilflos“ vor uns liegt. Das Laken und die Maske sind verrutscht, es zeigt sich das harmlose Gesicht. Ich überlege, ob ich einen verbalen Bezug zu Annas Mißbrauch herstellen soll, befürchte aber, damit die Abwehr wieder zu verstärken. So überlasse ich mich meinen Gegenübertragungsgefühlen und sage traurig zum Teddy, wie wenn er der Mißbraucher wäre: „Da haben wir immer so schön gespielt miteinander! Ich hab gedacht, du wärst mein Freund… Du hast mich verraten! Du bist gemein! Hast mir so wehgetan! Ich bin so traurig! Du bist nicht mehr mein Freund!“ Anna dreht sich zu mir und schaut mich mit großen Augen an.
Diskussion
Diese Stunde habe ich als „Ritt auf dem Tiger“ erlebt, eben weil die Analytikerin in der Rolle des Täters so schnell eine Retraumatisierung heraufbeschwören kann. Es war für mich ein heikles Oszillieren zwischen Trauma-Assoziation und Trauma-Dissoziation. Immer wieder mußte ich Anna helfen, Distanz zum traumatischen Geschehen zu schaffen, am Ressourcenpol wieder gute Objekterfahrungen zu „tanken“ und sich in der Realität zu „erden“. Beeindruckend war, wie Anna mich wiederholt durch nonverbale Signale „geführt“ hat. So kündigte sich das Thema Sexueller Missbrauch, das in der Therapie bisher tabu war, über eine Körpererinnerung (zusammengepreßte Beine, starrer Blick an die Decke) an. Auch die Frage, wie weit ich in meiner „Rolle“ jeweils gehen sollte, hat Anna über nonverbale Signale – Körperspannung, Erregungsniveau, Blickverhalten, stummes Nicken oder Kopfschütteln– beantwortet.
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Aufgrund des hohen Retraumatisierungsrisikos mußte ich in dieser Stunde den Spielverlauf sehr stark steuern (vgl. Kap. B.2.3.2.4.5.). Diese aktive Rolle der Analytikerin birgt die Gefahr, daß der eigene Gegenübertragungsanteil in der Ko-Konstruktion der Szene die Oberhand gewinnt und damit das Erleben des Kindes zu sehr zurückgedrängt wird. Daß ich in dieser Stunde davor nicht gefeit, äußerte sich in dem starken Gegenübertragungswunsch, auf das Monster einzuschlagen. Dennoch kann dieses Agieren nicht völlig ohne Bezug zu Annas Erleben gewesen sein, sonst hätte sie sich schließlich nicht – bei aller Macht der Suggestion – so begeistert mit mir auf das Monster gestürzt. Nicht zuletzt kann auch ein unvollständiges Containing, wie in Kap. B.2.2.1.4. ausgeführt, eine positive therapeutische Wirkung entfalten, wenn der Patient erfährt, daß er den Analytiker erreichen, starke Affekte in ihm wachrufen und miterleben kann, wie dieser mit diesen Affekten umgeht (Mertens, 1991 b, S. 66).
Der Angstpatientin Anna gelang es in dieser Szene zum ersten Mal, einen Teil ihrer Wut und Enttäuschung auf den Mißbraucher zu entladen. Man mag einwenden, daß ich am Schluß der Szene einen deutenden Bezug zur Mißbrauchserfahrung hätte herstellen sollen. Meiner Erfahrung nach verstärkt dieser kognitive Zugang jedoch eher die Abwehr, zumindest in Fällen wie diesem, in denen das Thema Mißbrauch aus Angst und Scham noch nicht angesprochen werden konnte. Stattdessen gelang es, auf der Basis meiner Gegenübertragung einen indirekten Bezug zum Mißbraucher auf der analogen Ebene des Spiels herzustellen. Trauer über den Verrat des Freundes konnte auf diese Weise spürbar werden, ein Gefühl, das bei der Traumarekonstruktion in Kindertherapien sonst oft zu kurz kommt, weil es im aggressiven „Rachegetümmel“ untergeht. So konnte ein erster Weg in Richtung Ambivalenzerleben gebahnt werden.
Diese Konstellation ist die typische in der Kindertraumatherapie. Im Schutze der Passiv-Aktiv-Verkehrung nähert sich der Patient seinen traumatischen Erfahrungen, wobei er die Rolle des gequälten Opfers der Analytikerin zuweist, die in projektiver Identifikation die unaussprechlichen, unerträglichen Gefühle des traumatisierten Kindes „containen“ und durchleiden muß. Dieses Vorgehen ist für die Analytikerin mit schwer erträglichen Gegenübertragungsgefühlen verbunden. Darauf weist auch Weinberg hin, die sich deshalb auch das Recht vorbehält, bei Bedarf „auszusteigen“. „Wenn mir, der Therapeutin, eine zugewiesene Rolle mulmig wird (z.B. als Opfer einer kannibalistischen Szene), dann darf ich sie guten Gewissens verlassen.“ (Weinberg, 2002, S. 13). Weil aber auch Weinberg weiß, daß das Kind „diese Szene braucht“, sucht sie sich einen Stellvertreter für die Opfer-Rolle und sorgt so dafür, „daß das Kind guten Gewissens die Szene weiterspielen kann.“ (ebd.). Dieses „Aussteigen“ aus der Szene hat jedoch zur Folge, daß der Patient wichtige Erfahrungen eben nicht bei der Analytikerin deponieren kann, was seine Entwicklungsmöglichkeiten beschneidet. Die Opfer-Rolle der Analytikerin bietet m.E. dem Patienten besonders gute Möglichkeiten, seinen „Trauma-Film“ wie in Zeitlupe aus gesicherter Distanz zu betrachten. Die damit verbundenen somatosensorischen Erregungszustände des Patienten können von der Analytikerin als Gefühle der Angst, Wut und Trauer verbalisiert und somit als symbolisierte Affektrepräsentanzen verinnerlicht werden (klassisches Containing). Aus traumazentrierter Perspektive sollte die Analytikerin allerdings auch hier wieder die traumaverarbeitenden Gefühle breit entfalten und die traumaassoziierten Gefühle eher knapp halten. Da die Analytikerin die Affekte in diesem Szenario stellvertretend für den Patienten erlebt, muß sie durch aufmerksame Beobachtung der affektiven Gestimmtheit des Patienten, insbesondere seines Erregungsgrades, fühlen, wieviel Trauma-Assoziation er noch ertragen kann. Wann spätestens die Trauma-Verarbeitung i.S. von Auflehnung und Wut gegen den Täter mit Einführung imaginativer Rettergestalten angezeigt ist, sollte weniger von der Stress-Toleranz der Analytikerin als der des Patienten abhängen. Zur Verankerung des Patienten im Hier und Jetzt sollte sie durch wiederholten Spielstop mit Regieabfrage die Grenze zwischen Realität und Als-ob-Ebene des Spiels immer wieder neu ziehen, nicht zuletzt, um sicherzustellen, daß der Patient sie nicht physisch verletzt.
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Die 8j. Franzi wird mir von den Pflegeeltern wegen „Ausrastern“ in Familie und Schule, Selbstverletzung (Nägelbeißen bis aufs Blut, Kopfschlagen an die Bettkante) und Att a cken auf Gleichaltrige in der Schule vorgestellt. Anamnestisch ergeben sich eine frühe Verwahrl o sung und körperliche Mißhandlung durch die alkoholabhängige Mutter sowie ein Verdacht auf sexuellen Mißbrauch durch einen ehemaligen Partner der Mutter. Der leibl i che Vater, ein LKW-Fahrer, kümmert sich nicht um die Tochter. Laut Akten des Jugen d amtes ist u.a. belegt, daß die Mutter Franzi einen ganzen Tag lang im Waschkeller des Mietshauses „verge s sen“ hat... Nach kurzem Heimaufenthalt kam Franzi schließlich in der jetzigen Pflegefamilie u n ter.
Ausgangspunkt des Spiels mit Franzi ist ein zunächst harmlos erscheinendes „Schule-Spiel“, bei dem Franzi die Lehrerin ist und ich das Schulkind („Ella“). Auf Nachfrage erfahre ich, daß ich ein „dummes Kind“ sei, das ständig Fehler mache, falsch rechne etc., und schon bald eskaliert die Szene in eine sadomasochistische Täter-Opfer-Beziehung, die mir in der Gegenübertragung wahre Qualen bereitet. Ich werde wegen meiner Fehler von der hämisch grinsenden Lehrerin verspottet und gedemütigt, schließlich hetzt sie die ganze Klasse gegen mich auf: Ich werde in die Ecke gestellt, von allen Kindern bespuckt, als ich davonzurennen versuche, schließlich von der johlenden Menge durchs Schulhaus gejagt. Während dieser Szenen frage ich Franzi, ob „die Ella“ jemand retten könne, was Franzi jedes Mal höhnisch lachend verneint. Schließlich soll ich in den Keller der Schule gesperrt werden, weil ich meine „Hausaufgaben nicht gemacht“ habe. Neben den Schulproblemen der Patientin ist mir in dieser Situation die Waschkeller-Szene gegenwärtig. Ich schwanke, ob ich sofort einen Retter einführen soll, um Franzis Stressverarbeitungssystem nicht zu überlasten, oder die Szene doch weiterlaufen lassen soll, um möglichst viel von Franzis Traumanetzwerk zu prozessieren. Ich versuche, einer Überforderung Franzis gegenzusteuern, indem ich weniger Angst und Panik als Wut und Haß auf meine Peiniger artikuliere. Franzi scheint ihre Überlegenheit sadistisch zu genießen. Irgendwann rufe ich aus Verzweiflung nach „meiner Mama“. Zu spät wird mir klar, daß in Franzis Fall die Mama alles andere als eine Retterin ist. „Die Mama von der Ella“ kommt auch prompt. Ich bin zunächst erleichtert, erschrecke aber dann, als sich „die Mama“ mit der Lehrerin solidarisiert und ebenfalls über mich „Dreckstück“ herzuziehen beginnt. Ich fühle mich am Boden zerstört, während Franzi einen eigenartig verstörten Gesichtsausdruck annimmt und in hysterisches Gelächter ausbricht. Ich befürchte einen flash back und breche sofort ab. „Spielstop!“ rufe ich, atme tief durch und frage sie, „was die Ella jetzt fühlt“ (BASK-Modell). Franzi wirkt jetzt verängstigt, nennt „Angst“, die „die Ella im Kopf hat“. Ella hat „Angst, daß sie jetzt sterben muß“. Jetzt frage ich noch einmal nach einem Retter. Franzi schaut mich hilflos an, sie weiß keinen. „Könnte jetzt der Schuldirektor kommen?“ frage ich. „So ein ganz großer starker Mann, der alles wieder gut macht?“ „Jaaa!“ (Franzi idealisiert ihren fernen leiblichen Vater). „Und würde der Direktor die Ella an ihren ‚Sicheren Ort’ bringen?“ „Ja!“ „Wo wäre der denn?“ Franzi überlegt. „Im Auto von ihrem Papa!“ (Franzis „Sicherer Ort“ ist die Fahrkabine des väterlichen LKW). „Gut, dann ist die Ella jetzt in Sicherheit?“ „Ja.“ Ich spare mir das BASK-Modell, weil ich befürchte, daß der Rest der Szene verloren geht und spiele nun den Direktor, der mit sonorer Stimme fragt, „was hier eigentlich los“ sei. Franzi berichtet mir, dem Direktor, ganz aufgeregt, daß „die alle die Ella gehauen und in den Keller gesperrt“ haben. Franzi ist nun auf der Seite des Opfers. „Was? In den Keller gesperrt?! So eine Gemeinheit!“ donnere ich empört los. „Na ein Glück, daß die Ella jetzt in Sicherheit ist! Wo ist denn die Lehrerin?“ rufe ich und stelle die imaginierte Lehrerin zur Rede: „Sie sind ja eine ganz böse Lehrerin!“ poltere ich los. „Sie müssen doch auf Ihre Schulkinder aufpassen!“ Ich suche nach einem Bild, das Täterintrojekt in „gut“ und „böse“ zu trennen. „Ja, jetzt seh ich’s ja erst … du bist ja eine Hexe!! Eine ganz böse Hexe !! Schleichst dich in die Schule ein, um unsere Kinder zu quälen…Na, warte, du böse Hexe!“ rufe ich empört und beginne die imaginierte Hexe zu hauen. Franzi macht begeistert mit. Ich drehe die „Bühne“ ein wenig in Richtung des Sandsacks („das wär jetzt die Hexe“), und schließlich schlagen wir gemeinsam auf die Hexe (den Sandsack) ein. Franzi ist jetzt mit Eifer dabei. Voller Lust phantasiert sie diverse Qualen, die sie der Hexe zufügt (Augen ausstechen, Nase abschneiden, anzünden, Besen in das Geschlecht bohren, bis sie „tot, tot, tot!“ ist). Ich erlebe in der Gegenübertragung zunächst erleichtert die Entladung von Franzis traumatischer Wut auf die Täterin, auch wenn mir ihr Sadismus etwas Sorgen bereitet. Dabei überlege ich, wie wir mit der „Mama“ umgehen sollen, die ja auch noch „im Raum“ ist. Ich frage Franzi. Sie überlegt, dann hat sie eine Idee: „Die wär von der Hexe verzaubert worden!“ „Dann wäre sie jetzt wieder frei?“ „Nein, die Hexe hält sie immer noch fest!“ „Ich dachte, die Hexe ist tot?“ „Ja … nein, ist wieder lebendig!“ „Los, laß die Mama los, du gemeine Hexe!“ schimpfe ich. Wieder schlagen wir auf die Hexe ein. Vergeblich. Sie läßt die Mama nicht los. „Wir müssen die Gute Fee herholen!“ rufe ich, lasse sie herbeifliegen und einen Zauberspruch gegen den Fluch der Hexe richten, den Franzi mit Phantasieworten weiter ausschmückt. Das scheint zu wirken. „Juchhu!“ jubelt Franzi. „Die Mama ist frei! Sie ist wieder frei!“. Franzi lehnt sich ermattet an den Sandsack, schwankt ein wenig, als er wegpendelt, hält sich an ihm fest und bleibt so stehen – als umarme sie ihre „geliebte Mama“. „So gut, daß die Mama wieder da ist“, sage ich leise.
Doch was ist mit der Hexe? Ist sie jetzt doch tot? Ich frage Franzi. „Sie ist abgehauen!“ ruft sie. „Sie ist weggeflogen, auf ihrem Besen!“ Was tun? Um das „böse Introjekt“ besser unter Kontrolle zu bekommen, schlage ich vor, die Hexe einzufangen und „ins Gefängnis zu werfen“. Doch Franzi geht darauf nicht ein: „Die ist weg, die kriegen wir nicht mehr!“ „Na, dann sind wir sie ja endlich los, die böse Hexe!“ schließe ich mich Franzi an. „Dann können wir ja endlich feiern, daß wir die liebe Mama wiederhaben!“ „McDonalds!“ ruft Franzi wie aus der Pistole geschossen (in ihrer Pflegefamilie werden freudige Ereignisse wie gute Schulzeugnisse etc. mit McDonalds-Besuchen belohnt). So packen wir das Puppengeschirr aus und genießen in vollen Zügen Big Macs, Pommes mit Ketchup und Milchshakes (BASK-Modell).
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Diskussion
Diese Fallvignette spiegelt einiges von dem Chaos wider, das in posttraumatischen Spielszenen abläuft und von dem die Analytikerin mit erfaßt wird.
Zunächst ist kritisch zu fragen, ob es nicht bereits retraumatisierend war, die anfänglichen Opfer-Szenen von Ella so lang und breit auszuspielen, ob es nicht sensu Reddemann besser gewesen wäre, Ella sofort an einen „Sicheren Ort“ zu bringen und mit einem Stellvertreter weiterzuspielen. Gegen mein Vorgehen könnte man einwenden, daß die traumatischen Szenen, auch wenn sie in der Täter-Opfer-Umkehr inszeniert werden, von der Patientin, vermittelt über die Spiegelneurone, auf der Opfer-Ebene miterlitten werden und somit retraumatisieren.
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In der konkreten Szene bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, mir einen Stellvertreter zu holen. Ich handelte im Sinne des klassischen Containings, demgemäß Franzis unerträgliche Affekte bei mir deponiert seien, die ich nun zu metabolisieren und zu symbolisieren hätte. Hier kann ich auch dem Modell Reddemanns nicht zustimmen, da bei diesem m.E. die Gefahr besteht, daß man sich zu sehr auf Ressourcenorientierung und Stabilisierung konzentriert und deshalb nicht mehr zur Traumakonfrontation kommt. Durch die „Bühne“ des Spiels und durch die Abwehr der Täter-Opfer-Umkehr war aus meiner Sicht genügend sichernde Distanz gegeben, um die Konfrontation mit dem traumatischen Material zu riskieren. In diesem Punkt besteht auch eine wesentliche Differenz zum „Anna“-Fall (s.o.), da dort die Patientin unmitte l bar in der Opfer-Rolle war und bereits Ansätze von Dissoziation zeigte. Unterstützt habe ich bei Franzi die sichernde Distanz, indem ich mich – hier folge ich Reddemann – mehr auf die traumaverarbeitenden Affekte, also Wut und Trauer, als auf die traumaassoziiierten Affekte Angst und Schmerz konzentriert habe.
Wie sehr ich in der Gegenübertragung mit dem Opfer identifiziert war, wird an meinem Impuls erkennbar, im schlimmsten Moment nach der „Mama“ zu rufen, auch wenn diese, wie erwähnt, eine ungeeignete „Retterin“ war. Franzis Inszenierung, daß sich die Bindungsfigur Mama als Täterin erweist, spiegelt ihre maligne Bindungserfahrung wider. Sie hat zu dem sadistischen Täterintrojekt geführt, das nun den weiteren Spielverlauf dominiert.
Dieser Moment der existentiellen Verlassenheit (die „Mama“ entpuppt sich als Täterin) markiert vielleicht auch den Wendepunkt in Franzis Täter-Identifikation. Denn als ich das Spiel unterbreche und nach „Ellas“ Gefühlen frage, kann sie diese nicht nur benennen, sondern scheint nun auch vom Übererregungs-Modus in einen ängstlichen Dissoziations-Modus zu wechseln und ihre Opfer-Gefühle zu spüren. Dieser Angstmoment wiederum ermöglicht jetzt auch die Einführung eines Retters, den Franzi zuvor abgelehnt hatte. Ich habe dafür intuitiv den triangulierenden Vater gewählt, den Direktor. Zur weiteren Distanzierung konnte Ella nun auch an den „Sicheren Ort“ gebracht werden.
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Die Einführung der Imago der Hexe kam nicht von Franzi, sondern von mir. „Engführung und Überwachung“ (s. Kap. B.2.3.2.4.5.) des posttraumatischen Spiels bedeutet nicht nur, „gute“ Objekte in Notsituationen als Helferfiguren einzuführen, sondern auch für „böse“ Introjekte entsprechende Figuren vorzuschlagen, um dem Patienten zu helfen, seine chaotische innere Objektwelt zu ordnen. Hierin besteht ein deutlicher Unterschied zur nondirektiven Kinderanalyse.
Die anschließende Rache an der Hexe trug deutlich sadistische, auch sexuell-sadistische Züge, die sich aber für mein Erleben noch im konstruktiven Katharsis-Bereich und noch nicht im destruktiven Retraumatisierungs-Bereich bewegten. Ein wesentlich schwierigeres Problem war der Umgang mit der hochambivalenten Mutter-Imago, ein Problem, für das Franzi jedoch eine überraschend kreative Lösung fand: Durch die Befreiung der von der „bösen“ Hexe verhexten „guten“ Mama konnte die Macht des Täterintrojekts deutlich geschwächt werden, indem es in die Anteile der „bösen“ Hexe und der „lieben“ Mama gespalten wurde. Hier zeigt sich, daß die Patientin meinen direktiven Vorschlag der Hexen-Imago aufgreifen und konstruktiv weiterentwickeln konnte.
Meine Anregung, die „böse“ Hexe durch Gefangennahme noch besser unter Kontrolle zu bekommen, wurde von Franzi nicht aufgegriffen. Angesichts der noch labilen Trennung von „böser“ Hexe und „lieber“ Mama befürchtete Franzi womöglich unbewußt, das „Böse“ der Hexe könnte wieder von der „lieben“ Mama Besitz ergreifen, wenn man die Hexe zu nahe ans sie heran ließe. Immerhin konnte sie die Hexe wegfliegen lassen und mußte sie nicht totschlagen, was vielleicht ein erster zaghafter Schritt in Richtung Ambivalenzerleben ist.
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In fortgeschrittenen Therapiephasen beginnt sich das traumatische Material zunehmend mit konflikthaftem Material zu verschränken. Dabei entfalten sich konflikthafte Szenen, deren affektiver Spannungszustand zunehmend länger aufrechterhalten und in der Schwebe gelassen werden kann, bis im Spielverlauf Lösungen gefunden werden. Hier nähert sich die Arbeit mehr und mehr dem klassisch-kinderanalytischen Vorgehen an. Aber auch hier gilt das Primat einer traumazentrierten Orientierung: sobald traumatisches Material „einbricht“ – was angesichts der affektiven Spannungszustände oft geschieht – müssen wieder Ressourcen aktiviert und stabilisierende Lösungen herbeigeführt werden, um Überflutungen zu vermeiden.
Der „hyperaktive“ Tobias wird mir im Alter von 7 Jahren wegen häuslicher und schulischer Auffälligkeiten vorgestellt, die eine PTSD-Symptomatik widerspiegeln. Anamnestisch e r geben sich eine frühe Vernachlässigung durch eine depressive Mutter sowie eine chron i sche Traumatisierung durch das Miterleben körperlicher Gewalt gegen die Mutter durch deren wec h selnde Partner.
Tobias` anfängliche chaotische Katastrophenszenarios haben sich im Therapieverlauf durch kontinuierliche emotionale Stabilisierungsarbeit in klarer strukturierte, konsistente Spielnarrative verwandelt, in die jedoch immer wieder traumatisches Material „eindringt“. Psychodynamisch ist ein parentifizierender, selbstobjekthafter Beziehungsmodus der narzißtisch bedürftigen und selbst multipel traumatisierten, überwiegend alleinerziehenden Mutter zu ihrem Jungen zu vermuten. Im unbewußten Erleben des Patienten dürfte deshalb eine präödipal-symbiotische Verschmelzung mit der „frühen“ Mutter persistieren, die sich mit altergemäßen ödipalen Impulsen verdichtet, die von der Mutter auch gefördert werden. So stellte mir die Mutter ihren Sohn im Erstgespräch mit den Worten vor: „Und das ist Tobias, mein kleiner Mann“.
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Die folgende Szene aus einer Spielstunde zeigt das Zusammenspiel von traumatischem und konflikthaftem Material auf. Behandlungstechnisch beantworte ich Tobias’ Vorgaben, wie beschrieben, mit einer grundlegenden entwicklungsorientierten Hintergrundhaltung empathischen Holdings sowie einer traumaorientierten Vordergrundhaltung, die durch Einsatz von distanzierenden Techniken eine Überflutung mit traumatischem Material verhindern soll. Auf psychodynamischer Ebene spiele ich i.S. gemeinsamer Ko-Konstruktion der „Szene“, so wie es der Kinderanalytiker Fahrig als eine Form analytischer Behandlungstechnik formuliert:
„Der Therapeut kann sich innerlich einstellen auf den Fokus des zentralen unbewußten Konflikts des Patienten. Nun kann er, weitgehend unbewußt, sich dem überlassen, was ihm beim Sprechen gerade einfällt. Ich habe dieses Vorgehen an anderer Stelle … als assoziative Gesprächsführung beschrieben, wobei sich der Therapeut, ohne viel nachzudenken, vom Patienten führen läßt und assoziativ, d.h. geleitet vom eigenen Unbewußten, auf das antwortet, was der Patient sagt. Bei diesem Vorgehen kommt es zu besonders lebhaften, weil ganz spontanen Spielhandlungen und starken Affekten.“ (Fahrig, 1999, S. 704). |
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So spielt Tobias mit mir am Puppenhaus zunächst den Alltagablauf einer „Bilderbuch“-Familie (Kinder kommen aus der Schule, Mittagessen, Hausaufgaben, Fernsehen, Abendbrot, Schlafengehen). Doch die Ruhe trügt. Tobias wird auf einmal unruhig. Und dann sagt Tobias wie nebenbei: „Das Baby ist aus dem Fenster gefallen. Ist tot.“ Nach einem ersten Schrecken in der Gegenübertragung artikuliere ich aus der objektalen „Mutter“-Übertragung heraus meine Angst um das Kind („Ja, um Himmels willen, das Baby!“). Aus der Perspektive des projezierten Selbst-Anteils des Patienten verbalisiere ich die Gefühle der Angst, des Schmerzes und der Verzweiflung, die das Baby empfinden mußte (Containing). Da ich die Szene jedoch angesichts Tobias’ affektiver Apathie als tendenziell retraumatisierendes Re-Enact-ment erlebe, komme ich zu der Überzeugung, daß ich es bei einem Containing des Schreckens allein nicht belassen darf. Ich frage Tobias, ob es jemanden gäbe, der das Baby noch retten könne. Als Tobias den Kopf schüttelt, lasse ich einen Schutzengel herbeifliegen („Alle Babys haben Schutzengel!“), der dem fallenden Baby einen Heuhaufen unterschiebt, so daß es „weich gelandet wäre“. Tobias erklärt sich nach einigem Zögern mit der Rettung des Babys einverstanden. Nun lasse ich die Puppenfigur der Oma als „gute“ Mutter auftreten, die das Baby findet, aufnimmt und tröstet. Nach dem BASK-Modell kann Tobias den Affekt des Babys („ganz große Angst“ und „alles tut weh“) benennen. Die Trennung des psychischen Affekts und des somatischen Schmerzes gelingt mir nicht, geschweige denn die Erfassung der Kognition, da ich merke, daß der hyperaktive Tobias unaufmerksam wird und der Spielfluß abzubrechen droht. Wir bringen nun das Baby gemeinsam an seinen „Sicheren Ort“, den Tobias „in Omas Bett“ phantasiert. (Er selbst hat seinen Sicheren Ort „in Mamas Bett“.) Dort bei der Oma wird die Ressource verankert, Tobias malt die sensorischen Qualitäten aus (riecht gut wie Oma, warm, kuschelig, dunkel, Karamelbonbon). Das Baby ist in Sicherheit.
Nachdem die Gefahr gebannt ist, werde ich in der Gegenübertragung wütend auf die Mama, woraus ich schließe, daß es hier offenbar auch um die Wut auf die vernachlässigende „böse“ Mutter geht. Da ich Tobias’ Konfliktfähigkeit inzwischen für ausreichend entwickelt erachte, wage ich die Konfrontation: Ich lasse die Oma-Figur ins Schlafzimmer der Mutter stapfen, um sie aufzuwecken und auszuschimpfen. Aber Tobias kommt mir zuvor. Er wirft die Kinderfigur (Schulmädchen) aus dem Puppenhaus-Fenster. Wieder kriege ich Angst, verbunden mit Zweifeln an der stabilisierenden Wirkung der „Baby-Rettung“. Habe ich durch ein zu hastiges „happy end“ vermeiden wollen, die schwer erträglichen Gefühle auszuhalten? Zu meiner Erleichterung erfahre ich jedoch von Tobias, daß das Mädchen in einem Baum gelandet sei. Es habe sich sehr wehgetan, habe sich aber „an den Ästen festgehalten“. Tobias hat also eine erste eigenständige Lösung gefunden. Wieder kommt die Oma, wir gehen in Ansätzen das BASK-Modell durch (das Mädchen hat Angst und denkt, daß es sterben muß). Wir versorgen die Wunden und trösten ausgiebig, dann kommt das Mädchen ebenfalls „in Omas Bett“. Noch einmal artikuliere ich die schreckliche Angst und den Schmerz, den das Baby und das Mädchen ausgestanden haben und wie erleichtert sie sind und wie gut sie sich fühlen, daß sie nun endlich wieder bei der Oma „in Sicherheit“ sind. Verschnaufpause.
Aus meiner Gegenübertragung heraus mache ich nun einen zweiten Anlauf, die Wut auf die vernachlässigende Mutter zu aktivieren. Wieder gehe ich als „Oma“ ins Schlafzimmer der Mutter, stauche sie zusammen, weil sie auf ihr Kind nicht aufpaßt. Tobias wendet sich nun empört gegen die Oma und verteidigt die Mutter („Die Mama hat doch geschlafen! Die hat das doch nicht gemerkt! Das Baby ist einfach aus dem Bett raus, obwohl’s die Mama verboten hat!“ etc.). Es entwickelt sich nun ein Disput darüber, ob Kinder an ihren Katastrophen schuld sein können, und ich kläre Tobias als „Oma“ darüber auf, daß Kinder nicht schuld sind, wenn ihnen was Schlimmes passiert, sondern immer die Erwachsenen, die nicht genug aufpassen. Diese Psychoedukation erscheint mir zur Über-Ich-Entlastung wichtig, obwohl mir bewußt ist, daß sie Tobias’ unbewußte Täteridentifikation nicht auflösen kann. Er braucht die Mutter als Bindungsfigur noch so sehr, daß er sie schützen muß. Die Oma als „gute“ Mutter reicht offenbar nicht aus, um eine Konfrontation mit der „bösen“ Mutter zu riskieren.
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Tobias wendet sich nun vom Puppenhaus ab und schlendert zum Sandkasten, wo er mit Playmo-Cowboys eine Lagerfeuer-Szene „in der Wüste“ aufbaut. Ich setze mich neben den Sandkasten, schaue zu, denke noch über die Puppenhaus-Szene nach, bin ein wenig unzufrieden über deren Verlauf, betreibe „rêverie“. Auf meine Nachfrage erfahre ich, daß das keine „bösen“, sondern „liebe“ Cowboys seien, die am Lagerfeuer ein Spanferkel braten und Bier trinken - eine kernige Männerrunde. Frauen, so erfahre ich, hätten da „nix zu suchen“. Ich sehe das sofort ein, „richtige Männer eben“, frage dann aber vorsichtig, „ob vielleicht ein kleiner Junge mit dabei sei?“ Tobias strahlt mich an, nickt heftig, sucht sich einen kleinen Playmo-Jungen aus, setze ihn dazu. Nun phantasiert Tobias mit meiner affektiven Begleitung die Szene aus: der Junge ist bei seinem Papa zu Besuch, und der hat ihn auf eine aufregende Nachtwanderung mitgenommen (Der Patient Tobias hat einen idealisierten „fernen Vater“, der sich jedoch nicht um ihn kümmert). Ich spiegele Tobias nun ausgiebig seine ideale Vater-Identifikation, lasse en passent nach dem BASK-Modell – diesmal geht es viel leichter - positive Gefühle und Kognitionen des Jungen „durchfließen“, und gemeinsam genießen wir die wunderbare Papa-Welt.
Gestärkt durch diese Ressource versuche ich nun erneut, Tobias mit seiner Wut auf die vernachlässigende Mutter zu konfrontieren. Ich nehme die Mutter-Figur aus dem Puppenhaus und lasse sie am Lagerfeuer aufkreuzen („So, Jungchen, jetzt is aber Schluß mit Lagerfeuer. Jetzt geht’s ab ins Bett!“). Tobias wehrt sich zunächst vehement gegen diese Intervention („Nee, nee, die würde nicht mitspielen!“). Ich zögere, frage mich, ob die positive Vater-Repräsentanz, die wunderbare Papa-Welt, noch zu fragil ist, um sie der Belastung durch eine „böse“ Mama auszusetzen. Oder ist es doch die Abwehr der Wut, um die es geht?
„Haben die Cowboys Angst, daß die Mama schimpft?“ frage ich mitfühlend. Tobias runzelt die Stirn, läßt dann seinen Blick über die Cowboy-Runde schweifen. „Nö!“ entfährt es ihm dann spontan. Ich greife seinen Elan auf und „empöre“ mich als Mama auf der Spielebene. „Was?! Die haben keine Angst vor mir?!“ beschwere ich mich. „So ein Mist! Die werden mich doch nicht einfach wieder nach Hause schicken?!“ Mit dieser – leicht suggestiven - Replik versuche ich, eine Auseinandersetzung zu provozieren, was im Handumdrehen dazu führt, daß sich die Cowboys gegen die Mutter auflehnen. In kürzester Zeit ergießt sich ein Schwall von Schimpfwörtern über sie. Ich reagiere als „Mama“ entsprechend empört und ziehe mich schließlich beleidigt zurück, was Tobias sichtlich begeistert registriert. Dies bestärkt mich darin, daß in der Szene nicht nur meine Suggestion wirksam war, sondern daß es Tobias gelungen ist, ein Stück seiner Wut zu artikulieren. Die Cowboys lehnen sich daraufhin mit großem Hallo lässig zurück und genießen ihren „Sieg“.
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Doch dann bricht plötzlich ein „Flammeninferno“ aus. Tobias aufgeregt: „Das Lagerfeuer! Es brennt!!! Jetzt brennt alles!!!“ Wieder spüre ich in der Gegenübertragung Angst. Ich: „Wir müssen das Feuer löschen!“ Tobias (aufgeregt): „Geht nicht mehr, brennt schon alles, die ganze Wüste!“ Ich fürchte, daß die Szene entgleist und Retraumatisierung droht. An dieser Stelle mache ich einen Spielstop, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen und bei Tobias die Grenze zwischen Realität und Phantasie zu stärken. Ich erkläre Tobias, daß sich ein Feuer so schnell nicht ausbreiten könne, das Feuer sei nur etwas außer Kontrolle geraten. Außerdem seien Cowboys sehr erfahren im Umgang mit Lagerfeuern, die hätten das im Griff. Gestützt durch diese positive Vater-Ressource kann sich Tobias etwas beruhigen, und wir überlegen, was zu tun ist. Da hat Tobias einen Einfall: „Ne Mauer rumbauen!“ Ich bin von seiner Idee begeistert. Hier kann Tobias an hilfreiche Therapie-Erfahrungen anknüpfen: Schon beim „Familie-in-Tieren“-Test am Therapiebeginn war der Leoparden-Junge, mit dem sich Tobias identifizierte, aus heiterem Himmel von Feuer bedroht worden.Wir hatten das Feuer damals durch Einzäunung unter Kontrolle gebracht. So bauen wir auch jetzt schnell aus Lego-Steinen eine Mauer rund um das Feuer im Sandkasten. Daraus entsteht schließlich ein mächtiger Ofen.
Tobias (begeistert) „Jetzt haben wir `nen richtigen Ofen!!“
Ich: (ebenso begeistert). „Klasse! Nachts in der Wüste, da ist es saukalt! Da ist es toll, wenn man einen Ofen hat. Wie schön warm der ist, mmhh!“ (Gemeinsam setzen wir die Cowboys und den Jungen um den Ofen und lassen sie die Wärme genießen.)
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Ich (als Cowboy-Papa): „Bin wirklich stolz auf dich, Junge, daß du die Idee mit dem Ofen hattest. Und dann hast du noch so toll mitgeholfen beim Bauen. Du bist wirklich ein starker Junge! Bin mächtig stolz auf dich! Und das mit der Mama … daß wir die ein bißchen zusammengestaucht haben … das hält sie schon aus. Vielleicht hast du deshalb ein schlechtes Gewissen … vielleicht ist ja auch deshalb das mit dem Feuer passiert … aber du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, Mamas halten so was aus …“
Abschließend lasse ich noch die Oma vom Puppenhaus rüberschauen („Schau nur, was die Jungs für einen Super-Ofen gebaut haben!“). Und auch die Mama, obwohl noch etwas beleidigt, gibt anerkennend zu: „Ja, das muß man den Jungs lassen, Ofen bauen, das können sie ...“
Diskussion
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Diese Fallvignette zeigt, wie traumatisches Material immer wieder in episodisch repräsentiertes Spielmaterial „einbricht“. Die Auslöser sind unmittelbar meist nicht zu erkennen, sondern, wenn überhaupt, erst nachträglich zu rekonstruieren. Der „Fenstersturz“ des Babys dürfte durch das Schlafengehen und damit assoziierte nächtliche Gewaltexzesse der Partner der Mutter ausgelöst worden sein, die Tobias von seinem Kinderbett aus miterleben mußte. Das „Flammeninferno“ in der nächtlichen Wüste dürfte auf traumaassoziierte Verlassenheitsäng- ste und Schuldgefühle zurückzuführen sein, als Tobias auf der Spielebene, unterstützt durch die triangulierende Vater-Figur des Cowboys, zum ersten Mal seine Wut auf die vernachlässigende Mutter vorsichtig zu artikulieren gewagt hatte.
Bezeichnend ist, daß das Trauma-Thema des „Fenstersturzes“ („den Boden verlieren“) nicht mit einem einzigen Durchgang erledigt ist, sondern einen zweiten erfordert. Die Verfrachtung des verletzten Kindes an den „Sicheren Ort“ (vgl. auch Krüger & Reddemann, 2007, S. 240) ist mir bei solchen Inszenierungen als ressourcenorientierte Intervention wichtig. Manchmal führt sie jedoch dazu, daß das Kind die traumatische Szene wiederholt, als würde durch die Rettung des Kindes sein traumatisches Leiden nicht genügend „anerkannt“, weshalb es mir dies als Enactment ein zweites Mal mitteilen müsse. In diesem Fall geschah dies durch den „Fenstersturz“ des Mädchens, der jedoch wesentlich glimpflicher ausging als der Sturz des Babys. Dieses „gute Ende“ konnte Tobias aus eigenen Ressourcen entwickeln, was die Methode der Ressourcenstärkung bestätigt.
Man kann nun einwenden, daß die Rettung des Babys etwas zu hastig erfolgte. Auch wenn ich hier einen Anteil von Gegenübertragungsagieren nicht ausschließen will, halte ich die zügige Intervention doch nach wie vor für angebracht. Denn der Tod eines Babys ist eine beispielhafte Trauma-Metapher, die Symbolisierung einer existientiellen Todesangst in absoluter Hilflosigkeit. Entsprechend dem Containing-Konzept soll dem Patienten zwar immer signalisiert werden, daß die Analytikerin das traumatische Geschehen aushalten kann. Hier ist jedoch m.E. eher Krüger & Reddemann zu folgen, die empfehlen, den Patienten mit den traumaassoziierten Affekten nicht zu lange allein zu lassen, um keine Überlastung des Stressver- arbeitungssytems zu riskieren. Stattdessen sind verstärkt traumaverarbeitende Affekte zu entfalten, auch um einer weiteren Gefahr zu begegnen, nämlich daß die Analytikerin in die Übertragungsposition des „silent partner“ gerät, der der Mißhandlung des Babys tatenlos zuschaut. Dadurch würde sich für den Patienten die traumatische Erfahrung der existentiellen Verlassenheit wiederholen.
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Zur Klarstellung: Ganz anders wäre bei einem reif neurotischen Kind zu intervenieren, das nicht traumatisch untersozialisiert, sondern konfliktpathologisch übersozialisiert und mit heftiger Abwehr, Trieb- und Affektunterdrückung ausgestattet ist. Auch bei diesen höherstrukturierten Kindern können ähnliche Szenen vorkommen, in denen das Baby, etwa auf dem Hintergrund einer Geschwister-Rivalität, im Puppenhaus zu Schaden kommt. (Erfahrungsgemäß würde ein reif neurotisches Kind das Geschehen weit weniger drastisch darstellen, sondern deutlich abwehrgesteuert: Das Baby würde, statt aus dem Fenster, „aus Versehen“ vom Stuhl fallen o.ä.). Hier wäre durchaus im Sinne von Katharsis die abgewehrte Wut des Patienten auf sein jüngeres Geschwisterkind herauszufordern und analog zu deuten. Die Analytikerin könnte sich etwa als weiteres Puppen-Kind über das „nervige Geschrei des Babys“ beschweren und behaupten, daß es „ohne Baby zuhause doch viel schöner wäre“ etc. Aggression des Therapiekindes gegen das Baby, auch gespielte körperliche Attacken, würden in diesem Fall toleriert und empathisch begleitet.
Um wieder auf den Fall von Tobias zurückzukommen: Bei konfliktorientierter Betrachtung wird an dieser Vignette deutlich, daß das Konflikt-Thema der Separation und der Trennungsaggression durch die Tatsache noch kompliziert wird, daß der Junge in seinem bisherigen Leben männliche Aggression gegen die Mutter als besonders traumatisierend erlebt hat. Die Aktivierung eigener Separationsimpulse ist daher mit dieser traumatischen Angst verknüpft, so daß die Entwicklung einer individuierten, von der Mutter abgegrenzten männlichen Identität fortwährend torpediert und die unbewuße Ungetrenntheit von der frühen Mutter perpetuiert wird. Möglicherweise ist auch die Wahl des Mädchens als Identifikationsfigur im Puppenhaus Ausdruck dieser unsicheren männlichen Geschlechtsidentität. So ist psychodynamisch der Weg vom mütterlichen Puppenhaus, in welchem die frühe Traumatisierung inszeniert wurde, zur väterlichen Cowboyrunde in der Wüste als Weg der männlichen Individuation zu verstehen, bei der aber ein phantasierter idealer Vater triangulierend zur Seite stehen muß. Nach der konflikthaften Auseinandersetzung mit einer infantilisierenden Mutter („ab ins Bett…“) brechen die Schuldgefühle ein, die jedoch wie das Feuer unter Kontrolle gebracht werden konnten. Eine vorsichtige Deutung dieser Schuldgefühle des Jungen aus dem Munde des Vaters war mir wichtig, jedoch eingebettet in eine ressourcenstärkende Anerkennung seiner Männlichkeit. Ebenso ließ ich die Mutter, wenn auch „noch etwas beleidigt“, diese Anerkennung affirmieren, um bei Tobias möglichen Ängsten vor mütterlicher Vergeltung vorzubeugen.
Nun könnte man die gesamte Szene auch klassisch-psychoanalytisch, d.h. konflikttheoretisch, deuten. So wäre etwa der „Fenstersturz“ unter dem Gesichtspunkt des Autonomie-Abhängigkeitskonflikts als reif-neurotische Symbolisierung (Loslösungswünsche müssen tödlich enden) zu deuten. Ebenso wäre das „Flammeninferno“ auch als ödipales Begehren des Jungen interpretierbar, das beim Auftritt der Mutter vor den Männern „auflodert“ und gleichzeitig die Vater-Welt i.S. ödipaler Rivalität zu zerstören trachtet. Nicht zuletzt könnte die mütterliche Aufforderung „Ab ins Bett“ ja nicht nur als Infantilisierung, sondern auch also ödipale Versuchungssituation verstanden werden.
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Gegen eine solche Interpretation spricht m.E. jedoch die noch immer labile Ich-Struktur des Patienten, bei der ein inneres Konflikterleben erst in Ansätzen erkennbar ist (vgl. Kap.A.2.2.). Der von Tobias unbewußt gewählte Selbstausdruck des Babys läßt in mir kein Bild eines männlichen Loslösungkonflikts entstehen. Auch ist Tobias` Triangulierungsfähigkeit als Voraussetzung, ödipale Konfliktspannungen auszuhalten, erst schwach entwickelt (vgl. seine anfängliche Weigerung, die Mutter am Lagerfeuer „mitspielen“ zu lassen). Sicherlich ist bei Tobias die präödipal-symbiotische Nähe zur Mutter auch mit altersgemäßen ödipalen Impulsen verquickt. Das wiederholte traumatische Erleben destruktiver Aggression von Männern gegen seine Mutter dürfte Tobias jedoch daran gehindert haben, Trennungs-Aggression gegen die Mutter als konstruktiv zu erleben und eine positiv konnotierte männliche Geschlechtsidentität zu entwickeln (vgl. auch die Wahl des Mädchens im Spiel). Gerade weil ein positiv konnotiertes Vaterbild bei Tobias noch so schwach repräsentiert ist, geht es behandlungstechnisch zunächst um eine triangulierende Besetzung eines idealisierten Vaters, um erste Separationsschritte von einer vereinnahmenden Mutter möglich zu machen. Erst wenn lustvolle aggressive Auseinandersetzungen mit dieser Vater-Imago verinnerlicht werden, könnte in einem nächsten Schritt die Triade auch erotisch „aufgeladen“ werden. Im Rahmen solcher Erotisierung wären dann „Feuersbrünste“ auch als ödipale Inszenierungen auf der analogen Spielebene deutbar. In diesem Sinne könnte das „Flammeninferno“ in der oben beschriebenen Spielszene allenfalls ein Wetterleuchten am Horziont künftiger Entwicklung sein…
Im vorangegangenen Kapitel wurde der Umgang mit der traumatischen Übertragung behandelt. Zunächst wurde die Phänomenologie typischer traumatischer Übertragungspositionen beschrieben, allen voran die Retter-, Täter- und Opferübertragung (Kap. B.2.3.1.). Anschließend wurden in Kap. B.2.3.2. verschiedene theoretische wie behandlungstechnische Positionen des Umgang mit diesen Übertragungformen referiert.
Die klassisch- psychoanalytische Behandlungstechnik (Kap. B.2.3.2.1.) setzt auf die traditionelle Übertragungsanalyse, d.h. die gewollte Reinszenierung der traumatischen Täter-Opfer-Beziehung in der Übertragung, die dann sukzessive via Deutung durchgearbeitet wird (Ehlert-Balzer, Holderegger, Jimenez). Diesen Ansatz kritisieren psychoanalytische Autoren einer traumazentrierten psychodynamischen Therapie (Kap. B.2.3.2.2., Reddemann, Sachsse), weil die „Essentials“ dieses klassischen Übertragungsmodells für schwer traumatisierte, persönlichkeitsgestörte Patientinnen kontraindiziert seien. Die Reinszenierung des Traumas triggere Intrusionen, die mithilfe von Deutungen und Containing nicht behandelbar seien. Stattdessen favorisieren die Verfechter der traumazentrierten psychodynamischen Therapie ein sog. Mütterberatungsmodell. Nach diesem Modell soll die erwachsene Patientin als „Mutter“ ihres traumatisierten Inneren Kindes vom Therapeuten lernen, mittels Stabilisierungstechniken mit diesem „Inneren Kind“ liebevoller und sorgsamer umzugehen. Der Therapeut versteht sich dabei nicht als Übertragungsfigur, sondern als Coach oder Trainer. Negative Übertragungsdeutungen sind kontraindiziert, zur Stärkung des Arbeitsbündnisses soll auf die Aufrechterhaltung einer überwiegend positiven Übertragung geachtet werden, die nicht gedeutet wird.
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In Kap. B.2.3.2.3. wurden Autoren vorgestellt, die zwischen diesen beiden Extrempositionen vermitteln. Mathias Hirsch votiert zwar für ein, wenn auch abgeschwächtes Wiedererleben des Traumas in der Übertragung, plädiert dabei aber wie Sachsse für dessen Eindämmung und die Einbeziehung „aktiver Elemente“. Die Gruppe um Gottfried Fischer wendet sich ebenfalls gegen eine klassische Übertragungsanalyse, befürwortet jedoch die Förderung einer positiv getönten „haltenden“ Übertragungsbeziehung. Sobald Manifestationen negativer traumatischer Übertragung auftauchen, ist durch Einsatz dissoziativer Techniken die positive Übertragung wiederherzustellen. Wolfgang Wöller schließlich integriert die emotionale Stabilisierungsarbeit traumazentrierter Psychotherapie in der Anfangsphase mit einer behutsam geführten konfliktorientierten Behandlungstechnik in fortgeschrittenen Phasen der Therapie.
Nach einer kritischen Würdigung der genannten Positionen wurde in Kap. B.2.3.2.4. die eigene Position der Autorin bestimmt. Ausgehend von der Kombination einer entwicklungsorientierten Hintergrund- und einer traumazentrierten Vordergrundhaltung (s. Kap. B.2.1.3.1.) verbinde ich die Förderung einer positiven, auf emotionale Nachreifung zielende Übertragungsentwicklung mit bewältigungsorientierten Übungen zur emotionalen St a bilisierung und zur Affektkontrolle. Manifestationen traumatischer Übertragung bearbeite ich auf der „Bühne“ des therapeutischen Spiels, die sich für die Bearbeitung traumatischen Materials in idealer Weise anbietet. Dabei bin ich mir durchaus der Gefahr bewußt, daß das posttraumatische Spiel als retraumatisierendes Re-Enactment außer Kontrolle geraten kann (Streeck-Fischer). Um den kindlichen Aufruf zur Hilfe beim Rekonstruktionsprozeß (Krüger & Reddemann) adäquat zu beantworten, müssen deshalb i.S. der Engführung und Überwachung des kindlichen Spiels (Naumann-Lenzen) bestimmte Techniken angewandt werden, um die Aktivierung des Traumanetzwerkes zu fördern, gleichzeitig aber eine überflutende Retraumatisierung zu verhindern. Es sind dies neben dem BASK-Modell die von Reddemann entwickelte Beobachter-Technik sowie das Dr a chentöter-Modell, die ich jedoch nicht unmittelbar, sondern analog anwende und in den spontanen Spielfluß einwebe.
In Kap. B.2.3.3. wurde dann die klassische Täter-Opfer-Retter-Trias thematisiert, die sich als idealisierende Ü bertragung (Kap. B.2.3.3.1.), als unmittelbare Trauma-Reinszenierung (Kap. B.2.3.3.2.) sowie als Identifikation mit dem Täter-Introjekt (Kap. B.2.3.3.3.) beschreiben läßt. Neben den nicht ganz auszuschließenden Flash-back-Übertragungen, auf die mit zügiger Reorientierung in Raum und Zeit reagiert werden muß, ist es die Position der Täter-Übertragung, die das höchste Risiko einer Retraumatisierung für den Patienten birgt. Jede Übertragungsposition wurde mit einer klinischen Fallvignette illustriert und anschließend diskutiert. Eine letzte Fallvignette aus einem fortgeschrittenen Therapieverlauf veranschaulichte die Verschrä n kung von Trauma- und Konfliktdynamik (Kap. B.2.3.3.4.).
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Die vorliegende Arbeit entwirft einen entwicklungsorientierten psychodynamischen Therapieansatz für früh traumatisierte Kinder. Dieser Ansatz zielt darauf, die theoretisch-konzeptionellen und behandlungstechnischen Defizite des aktuellen kinderanalytischen State-of-the-Art im Bereich der Frühtrauma-Folgestörungen auf innovative Weise zu beheben.
Bereits seit geraumer Zeit haben Erkenntnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie die destruktiven Wirkungen insbesondere früher Traumatisierung durch Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch, aber auch durch chronische dissoziationsbedingte Beziehungsabbrüche im Blickkontakt auf das noch in der Entwicklung befindliche Gehirn und die Psyche des Säuglings und Kleinkinds belegt. Wie im Einleitungskapitel dargestellt, erfolgte die Rezeption des neuen interdisziplinären psychotraumatologischen Wissens in der Kinderanalyse, anders als in der Erwachsenenanalyse, bis heute nur schleppend und bruchstückhaft. Vor allem aber wurde verkannt, daß diese Befunde für die Therapie früh traumatisierter Kinder wesentliche b e handlungstechnische Modifikationen erfordern.
Dieses neue Wissen stellt insofern eine Herausforderung dar, als es aus Nachbarwissenschaften stammt, die sich in ihren epistemischen Grundannahmen sowie daraus folgenden Forschungslogiken von denen der Psychoanalyse grundlegend unterscheiden. Trotz dieser erkenntnistheoretischen Differenzen, die eine unmittelbare Integration in den Wissenscorpus der Psychoanalyse verbieten, hat dieses „neue Wissen“ jedoch, wie in der Einleitung ausführlich begründet, eine zumindest indirekte Relevanz für die Psychoanalyse. Denn die Psychoanalyse muß die interne narrative Kohärenz ihrer Deutungen durch externe Kohärenz mit dem allgemein akzeptierten Wissenstand ergänzen (Strenger, 1991), will sie nicht riskieren, für die restliche intellektuelle Kultur an Bedeutung zu verlieren (Stern, 2000).
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In der Aufarbeitung des theoretischen Forschungsstandes zum Thema der frühen Traumatisierung (Teil A) wurden deshalb ausgewählte Befunde der Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurobiologie referiert. Diese belegen, daß früh traumatisierte Kinder unter massiven Störungen der Selbst- und Affektregulation, der Mentalisierung, unsicherer bzw. desorganisierter Bindung sowie unter verminderter Stresstoleranz und einer Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung mit den Folgen von Übererregung, Dissoziation und Amnesie leiden. Diese Störungen schlagen sich in tiefgreifenden Defiziten der physischen, emotionalen, sexuellen, kognitiven und sozialen Entwicklung nieder, die mit den gängigen posttraumatischen Diagnosen des aktuellen ICD-10/DSM-IV nur unzureichend erfaßt werden. Erst der jüngste Diagnosevorschlag der Developmental Trauma D i sorder (vgl. Kap. A.1.3.2.4.) wird dem klinischen Erscheinungsbild dieser kleinen Patienten gerecht.
Eine traditionelle Kinderanalyse, die „frühe Traumatisierung“ in erster Linie unter dem Aspekt verdrängter konflikthafter Impulse konzipiert, läßt nicht nur die umfassende destruktive Wirkung der Traumatisierung für die genannten Entwicklungslinien außer acht, sondern sie differenziert auch nicht hinreichend zwischen Trauma- und Konfliktpathologie. Der entscheidende Unterschied besteht nämlich darin, daß im Gegensatz zum symbolisch repräsentierten, aber verdrängten Konflikt das Trauma im Falle früher Traumatisierung, d.h. chronischer, kumulativer und komplexer Beziehungstraumatisierung im vulnerablen Zeitfenster der ersten Lebensjahre, nicht symbolisch, sondern nur präsymbolisch bzw. implizit-prozedural als Körper-Engramm repräsentiert ist. Dies hat drei Ursachen: zum einen die lediglich fragmentierte neuronale Encodierung im „hyperarousal“ der traumatischen Situation, zum zweiten das Fehlen eines sprachlich-symbolischen Repräsentationsformats in der präverbalen Phase, zum dritten eine durch fortwährende Beziehungstraumatisierung fundamental beschädigte Symbolisierungsfähigkeit des früh traumatisierten Kindes. Diese beschädigte Symbolisierungsfähigkeit ist es, die selbst eine nachträgliche symbolisch-phantasmatische Überarbeitung der traumatischen Erfahrung verhindert, wie sie in Fällen „später“ Traumatisierung bei ausreichend entwickelter Symbolisierungsfähigkeit möglich ist.
Ein derart verändertes Konzept von „früher Traumatisierung“ führt zwingend zu grundlegenden Modifikationen der Behandlungstechnik, die in Teil B dieser Dissertation entfaltet wurden.
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Eine konfliktorientierte psychoanalytische Technik, die dem Deutungsparadigma verpflichtet ist, stößt im Falle früher Traumatisierung schnell an Grenzen. Da dem Kind jegliche Mentalisierungsvoraussetzungen fehlen, um von einer Deutung zu profitieren, wird es durch eine konfliktorientierte Behandlung überfordert, verwirrt und damit tendenziell erneuter Beziehungstraumatisierung aussetzt. Aber auch eine beziehungsorientierte psychoanalytische Haltung, die traditionell auf „Holding“ und „Containing“ setzt, reicht nicht aus. Denn ein klassisch-nondirektiver Umgang insbesondere mit posttraumatischem Spiel des Patienten übersieht die Tatsache, daß wegen der fehlenden raum-zeitlichen Kontextualisierung des traumatischen Materials der kleine Patient im Moment der Aktualisierung dieses Materials von den traumaassoziierten Affekten überflutet wird und sie erlebt, als geschähe das Trauma erneut. Eine therapeutische Haltung, die die Entfaltung der traumatischen Übertragung gezielt fördert, in der Hoffnung, sie durch „Holding“ und „Containing“ zu heilen, trägt damit ungewollt zu ständigen Retraumatisierungen des kindlichen Patienten bei.
Der in dieser Dissertation vorgestellte Behandlungsansatz vermeidet diese Gefahren, indem er eine entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung mit einer traumazentrierten Vordergrundhaltung verbindet (Teil B.2).
Entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung bedeutet, daß angesichts der genannten fundamentalen Entwicklungsdefizite früh traumatisierter Kinder spezifische entwicklungsorientierte Behandlungsziele verfolgt werden, die durch die in Teil A dieser Dissertation dargestellten Befunde der Nachbarwissenschaften angeregt werden. Es handelt sich um die Behandlungsziele Bindungssicherheit, „Beantwortung“ nonverbaler Inszenierungen und deren sukzessive Versprachlichung, Spiegelung und Regulation von Affekten sowie Förderung der Mentalisierungsfähigkeit des Patienten und seiner Eltern.
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Traumazentrierte Vordergrundhaltung ist die psychotraumatologisch „informierte“ Haltung, die traumaassoziierte Phänomene (Übererregungszustände, Intrusionen und Dissoziationen) rechtzeitig erkennt und durch Einsatz distanzierender und stabilisierender Techniken (traumatherapeutische Imaginationsübungen, Dissoziationsstops) eindämmt. Insbesondere im posttraumatischen Spiel, in dem sich traumaassoziiertes Material in der „traumatischen Übertragung“ reinszeniert, kann auf diese Weise eine Retraumatisierung des Patienten verhindert werden. Gleichzeitig gilt es jedoch, die Übertragungsangebote des Patienten anzunehmen und in posttraumatischen Spielszenen (wenn auch „kontrolliert“ und „überwacht“ durch Grenzsetzung, Einführung sicherer Orte, hilfreicher Objekte etc.) gemeinsam mit dem Patienten zu entfalten. Auf diese Weise bietet sich dem Kind die Chance, traumatische Szenen subliminal zu prozessieren, zu rekonstruieren und zu integrieren und auf diesem Weg langsam vom Trauma zu genesen.
In dem in dieser Dissertation vorgestellten Therapieansatz wird auch das familiäre und soziale Umfeld des früh traumatisierten Patienten in viel radikalerer Weise mit in die Behandlungsplanung einbezogen (Teil B.1.), als dies die auf den analytischen Raum beschränkte klassische Kinderanalyse tut. Angesichts des komplexen Störungsbildes des Patienten (physisch, psychisch, kognitiv, sozial) sowie des risikobelasteten und ressourcenarmen Mileus, aus dem früh traumatisierte Kinder i.d.R. stammen, ist es für die Analytikerin unerläßlich, mit medizinischen und (sozial-)pädagogischen Fachkräften multiprofessionell und multimodal zusammenzuarbeiten. Oft schaffen erst die familienentlastenden Maßnahmen der Jugendhilfe die Voraussetzung dafür, daß der Therapieprozeß überhaupt aufrechterhalten werden kann. Dieses Vorgehen, das die Grenzen zwischen psychoanalytisch-deutenden und pädagogisch- entwicklungsfördernden Interventionen als fließend betrachtet, geht über das Behandlungsverständnis der klassischen Kinderanalyse weit hinaus. Sie belegt eine solche Kooperation leider noch allzuoft mit dem Stigma des „Agierens“ und des „Unanalytischen“. Auch die Integration verfahrensfremder, z.B. übender Elemente in die psychodynamische Traumatherapie, die angesichts der basalen Entwicklungsdefizite früh traumatisierter Patienten unabdingbar ist (vgl. auch Reddemann, 2004; Sachsse, 2004; Wöller, 2006), wird aus klassisch-kinderanalytischer Sicht nach wie vor mit Mißtrauen beäugt.
Die vorliegende Dissertation leistet einen innovativen Beitrag zur interdisziplinären psychoanalytischen Konzeptforschung, indem sie den Begriff der „frühen Traumatisierung“ im Kindesalter auf dem Hintergrund von Forschungsbefunden aus Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurobiologie neu konzipiert. Darüber hinaus entwickelt sie eine traumabezogene modifizierte tiefenpsychologisch fundierte Behandlungsmethode weiter, indem auf der Basis dieses neuen, interdisziplinär gewonnenen Konzepts „früher Traumatisierung“ entwicklungsorientierte mit traumazentrierten Interventionen verbunden werden. Durch diese grundlegenden Modifikationen der Behandlungstechnik kann die Kinderanalyse mit ihrer hundertjährigen Tradition auch bei früh traumatisierten Kindern ihr heilendes Potential entfalten.
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DiML DTD Version 4.0 | Zertifizierter Dokumentenserver der Humboldt-Universität zu Berlin | HTML-Version erstellt am: 15.12.2014 |