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„Trauma“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde, Verletzung“. Neben Pierre Janet, der schon früh den Zusammenhang von Trauma und Dissoziation erkannte und als erster traumatogene Gedächtnisstörungen beschrieb (Janet, 1904) war es v.a. sein Zeitgenosse Sigmund Freud, der sich mit der wissenschaftlichen Erforschung von Traumata befaßte und dessen frühe Psychoanalyse auch als Traumatheorie begann (1893, 1896).
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Gerade in der Psychoanalyse wird jedoch der Trauma-Begriff äußerst uneinheitlich verwendet (zur Begriffsgeschichte in der Psychoanalyse vgl. ausführlich Kap. A.2.1.) Sandler et al. (1988) beschreiben vier Dimensionen des Konzepts „psychisches Trauma“: Trauma als „Wunde“ in Analogie zur Medizin, Trauma als überwältigendes „reales äußeres Ereignis“, Trauma als seelisch nicht verarbeitbares „inneres Erlebnis“, sowie Trauma als „unmittelbare oder langfristige Folgeerkrankung im Sinne einer nosologischen Kategorie“. Die Psychoanalytiker Fischer und Riedesser (1999) haben aus diesen unterschiedlichen Dimensionen ein Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung entwickelt (traumatische Situation – traumatische Reaktion – traumatischer Prozeß, vgl. Kap. A.1.2.). Ihre Definition von „Trauma“, die gerade das dialektische Spannungsverhältnis zwischen Innen- und Außenperspektive, zwischen objektivem Ereignis und subjektivem Erleben einfängt, hat sich inzwischen – auch schulenübergreifend - weitgehend durchgesetzt. In ihrem „Lehrbuch der Psychotraumatologie“ definieren sie „Trauma“ als ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (1999, S. 79) „Trauma“ läßt sich also weder allein objektiv durch die Qualität des Ereignisses noch allein subjektiv durch das individuelle Erleben definieren, sondern nur in Relation von Ereignis und erlebendem Subjekt.
Speziell für Kindheitstraumen hilfreich ist die von Terr (1995) eingeführte Unterscheidung von einmaligem Schock-Trauma (Typ I) und chronischem komplexen Trauma (Typ II). Beispiele für Typ-I-Traumen sind Naturkatastrophen, Unfälle, einmalige schwere Mißhandlung, Mißbrauch, Vergewaltigung, Tod wichtiger Bezugspersonen. Beispiele für Typ-II-Traumen sind chronische heftige familiäre Streitigkeiten, schwere Erkrankungen, Behinderung, wiederholte Mißhandlung und Mißbrauch, massive Vernachlässigung, chronisches Erleben elterlicher Partnergewalt.
Von Bedeutung ist zudem die Unterscheidung von naturbedingten Traumatisierungen (Naturkatastrophen) und sog. man made desasters, die Bürgin (1995) noch einmal in technisch bedingte Katastrophen (Flugzeugabsturz, Eisenbahnunglück), intentionale aggressive Handlungen/Verbrechen (Entführungen, Krieg, Verfolgung, Folter) und familiäre Verhängnisse/ familiäre Gewalt (gewaltsamer Tod eines Elternteils, sexuelle oder körperliche Mißhandlung) unterteilt. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, daß auf Kinder die „man made desasters“, und hier v.a. die familiären Traumatisierungen besonders verhängnisvoll wirken, da „das kindliche Verständnis von der Sicherheit einer Welt, in der es selbst als von mächtigen Elternfiguren beschütztes Wesen wohlbehütet aufwachsen kann“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 255) fundamental erschüttert wird. Für solche Arten innerfamiliärer Traumatisierung hat sich inzwischen der Terminus Beziehungstraumatisi e rung eingebürgert (Schore, 2001 b, 2002; Wöller, 2006).
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Abschließend sei noch auf die Unterscheidung zwischen primärer (direkter) und sekund ä rer (indirekter) Traumatisierung hingewiesen. Letztere liegt vor, wenn nicht das Kind selbst, sondern nahe Angehörige von traumatischen Erfahrungen betroffen sind, die das Kind aber miterleben muß. Wurde diese Traumatisierungsquelle im Bereich familiärer Gewalt früher eher unterbelichtet, zeigen neuere Untersuchungen, daß es für das Kind sogar stärker traumatisierend wirken kann, mitzuerleben, wie der Vater die Mutter mißhandelt, als wenn es selbst vom Vater mißhandelt wird (Lehmann, 1997; Osofsky, 2003). Im Bereich politischer Verfolgung ist sekundäre Traumatisierung v.a. bei Kindern und Enkeln von Holocaust-Opfern unter dem Begriff der intergenerationalen Transmission von Trauma erforscht worden (Kestenberg, 1989; Kogan, 1995). Damit im Zusammenhang steht auch der Begriff der sequentiellen Traumatisierung, der zuerst von Keilson (1979) anhand von Verfolgungswellen durch die deutschen Nazis in Holland beschrieben wurde und der eine über einen längeren Zeitraum verteilte, in sich kohärente Verlaufsgestalt der traumatischen Erfahrung erfaßt.
Angesichts der Vielzahl möglicher Traumatisierungsformen und –konstellationen werde ich mich in der vorliegenden Arbeit auf Fälle sogenannter „früher“, d.h. chronischer, kum u lat i ver und komplexer (Typ II-/Beziehungs-)Traumatisierung beschränken.
Der Begriff der „frühen“ Traumatisierung wird nicht einheitlich verwendet. In der klinischen Literatur werden aus der Perspektive der Erwachsenentherapie damit oft pauschal Traumatisierungen „im Kindesalter“ bezeichnet, wobei die Altersgrenze völlig offen ist. Auch in der entwicklungspsychopathologischen Literatur zum „early trauma“ wird die Altersgrenze relativ beliebig, je nach Studie, mal < 3, <5, <10, <16 oder <18 Jahre festgesetzt. Trotz intensiver Recherche habe ich bisher keine allgemein akzeptierte Definition „früher“ Traumatisierung finden können.
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Um zu einer eindeutigen Definition zu gelangen, kann der Begriff der „frühen Kindheit“ ein Anhaltspunkt sein. Im entwicklungspsychologischen Klassiker von Oerter & Montada (2002) wird die frühe Kindheit als der „Zeitraum von der Zeugung bis zum Ende des zweiten oder dritten Lebensjahres“ (Rauh, 2002, S. 131) definiert. Diese Zeitspanne koinzidiert weitgehend mit dem Prozeß der frühen Gehirnentwicklung, der sich postnatal bis weit in das dritte Lebensjahr hineinzieht (ebd.). Erkenntnisse von Nachbardisziplinen der Psychoanalyse vorwegnehmend, wie der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie, die in Kap. A.3 ausführlicher diskutiert werden, kann hier bereits festgehalten werden, daß es, abgesehen von pränatalen Schädigungen des Fötus, insbesondere die Zeit von der Geburt bis zum Ende des dritten Lebensjahres ist, in der zentrale Weichenstellungen für die weitere Entwicklung des Kindes erfolgen. Die fundamentale Bedeutung der ersten drei Lebensjahre für die psychosoziale Entwicklung des Kindes, von der die Psychoanalyse seit ihren Anfängen überzeugt war, ist inzwischen durch die Befunde besagter Disziplinen bestätigt worden. Neben genetischen Dispositionen werden wichtige Entwicklungsvoraussetzungen wie sichere Bindung, erfolgreiche Selbst-, Aufmerksamkeits- und Affektregulation sowie Mentalisierungsfähigkeit zentral durch die emotionale Qualität der frühen Mutter-Kind-Beziehung bestimmt. Sie werden in den ersten drei Lebensjahren aufgrund der „neuronalen Plastizität“ (Ciaranello et al., 1995) und „gebrauchsabhängigen“ Gehirnentwicklung (Perry et al., 1998) gewissermaßen organisch festgeschrieben (Nelson & Bloom, 1997). So entwickelt sich in den ersten 18 Lebensmonaten in Abhängigkeit von der mütterlichen Feinfühligkeit (Ainsworth et al., 1978) die Bindung des Kindes, die im günstigen Falle der sicheren Bindung ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Resilienzfaktor ist (Egle & Hoffmann, 2000). Unsichere, v.a. aber desorg a nisierte Bindung beinhaltet dagegen ein erhöhtes Psychopathologierisiko und stellt einen allgemeinen Risikofaktor für maladaptives Verhalten dar (Jacobovitz & Hazen, 1999; Lyons-Ruth et al., 1997).
Mit der bis weit ins dritte Lebenjahr reichenden Dominanz der rechten Gehirnhemisphäre (Chiron et al., 1997), die für das implizite Verständnis sozial-emotionaler Kommunikation bedeutsam ist (Borod et al., 1998) steht die hochgradig störungsanfällige interaktive Entwicklung des kindlichen Stressbewältigungssystems in Zusammenhang. Sie vollzieht sich über rechtshemisphärische „brain-brain-interaction“ (Trevarthen, 1993) zwischen Mutter und Säugling und ist eine grundlegende Voraussetzung für gelingende Aufmerksamkeits-, Selbst- und Affektregulation (Schore, 2001 a, b, 2002). Im ungünstigen Falle chronischen, unbewältigbaren Stresses kommt es zu Zuständen dauerhafter Übererregung sowie hab i tueller Dissoziation, wodurch die traumatischen „states“ zu „traits“ werden (Perry et al., 1998).
Nicht zuletzt wird im Säuglingsalter über markierte und kongruente mütterliche Affektspi e gelung (Gergely & Watson, 1999) die Basis für die Entwicklung psychischer Repräsentanzen von Affekten sowie den Prozeß der Mentalisierung (Fonagy et al., 2004) gelegt, welche die Grundlage für die Entfaltung weiterer psychosozialer Kompetenzen darstellt. Zentrale Bedingungen sind hierfür zum einen die Sprachentwicklung, die in morpho-syntaktischer Hinsicht erst mit dem Ende des dritten bis vierten Lebensjahres abgeschlossen ist (Menyuk, 1988) sowie die Entwicklung einer theory of mind,, die sogar erst mit 4-5 Jahren ihren Abschluß findet (Astington, 2000). Neben biologischen Reifungsfaktoren ist es aber vor allem die Qualität der frühen Interaktion zwischen Pflegeperson und Säugling/Kleinkind, die darüber entscheidet, ob das Kind Sprache als symbolisches Repräsentationsformat dazu nutzen kann, über eigene und fremde intentionale mentale Zustände nachzudenken (Fonagy, et al., 2004). Ist diese Entwicklung beeinträchtigt, kommt es zu Störungen der Mentalisierungsfähigkeit, die nach Fonagy et al. die Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung bahnen können (ebd.). Eine weitere Voraussetzung für die Mentalisierungsfähigkeit ist die Reifung des Gedächtnisses, insbesondere des autobiographischen Gedächtnisses, das erst mit 4-5 Jahren voll entwickelt ist (Perner & Ruffmann, 1995). In ihm werden episodische Ereignisse zeit-, ortsgebunden und kontextualisiert als Teil des bewußten und abrufbaren Selbst- und Identitätserlebens repräsentiert. Traumatische Erfahrungen in dieser Zeit stören nicht nur nachhaltig die Entwicklung der Gedächtnisformate, sondern auch den gesamten Prozeß der Informationsverarbeitung mit entsprechenden Folgen für die kognitive Entwicklung.
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Dieser kurze Überblick über zentrale Entwicklungsprozesse der Säuglings- und Kleinkindzeit macht deutlich, daß es v.a. das Zeitfenster der Vulnerabilität von 0-3 Jahren mit „Ausläufern“ bis ins vierte und fünfte Lebensjahr ist, in welchem sich wegen der neuronalen Plastizität und der gebrauchsabhängigen Gehirnentwicklung schädigende Umweltfaktoren besonders gravierend auswirken. Angesichts der fundamentalen Bedeutung der primären Bindungs- und Bezugsperson(en) für die Entwicklung des Kindes sind es naheliegenderweise v.a. Traumatisierungen durch diese Personen, die nachhaltige Folgen zeitigen, wofür sich, wie erwähnt, der Begriff der Bindungs- und Beziehungstraumatisierung eingebürgert hat (Schore, 2001 b, 2002; Wöller, 2006). Dabei sind es nicht so sehr die einmaligen Schock-Traumen (Typ I) als die chronischen, kumulativen und komplexen Traumen (Typ II), die pathogen wirken. Der auf Khan (1963) zurückgehende Begriff des „kumulativen Traumas“ bezeichnet „eine Abfolge von traumatischen Ereignissen oder Umständen, die jedes für sich subliminal (unterschwellig) bleiben können, in ihrer zeitlichen Abfolge und Häufung jedoch die restitutiven Kräfte des Ich so sehr schwächen, daß insgesamt eine oft sogar schwer traumatische Verlaufsgestalt entsteht.“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 124). „Komplex“ bedeutet , daß sich die Traumatisierung in der gesamten Spannbreite der verschiedenen Entwicklungsbereiche, d.h. im physischen, emotionalen, sexuellen, kognitiven und relationalen Feld niederschlägt, so wie es van der Kolk (2005) in seinem weiter unten beschriebenen Diagnosevorschlag der Developmental Trauma Disorder beschreibt.
Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, daß dieses vulnerable Entwicklungsalter von 0-3 Jahren mit „Ausläufern“ bis ins 4. und 5. Lebensjahr sich weitgehend mit der aus psychoanalytischer Sicht relevanten Altersspanne deckt, in der sich die frühe präödipale und ödipale Ich-Entwicklung vollzieht (vgl. Kernberg, 1985; Mahler et al., 1978; Mertens, 1992 b, 1994a; Tyson & Tyson, 1997).
Als die klassische Trias früher Traumatisierung werden in der Literatur üblicherweise Vernachlässigung, körperliche Mißhandlung und sexueller Mißbrauch genannt (Amman & Wipplinger, 1997 a; Deegener & Körner, 2005; Egle et al, 2000). Am intensivsten erforscht dürfte die körperliche Mißhandlung sein, da diese bereits in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA thematisiert und zu ersten Meilensteinen der Forschung wie den Veröffentlichungen von C.H. Kempe und Mitarbeitern zu Beginn der 60er Jahre führte (Kempe et al., 1962; Kempe & Helfer, 1968). In den späten 70er und 80er Jahren geriet dann im Gefolge der internationalen Frauenbewegung der sexuelle Mißbrauch von Kindern in den Blick der Öffentlichkeit und dominierte lange Zeit den öffentlichen wie den wissenschaftlichen Diskurs. Die Vernachlässigung war ursprünglich eher ein Nebenaspekt des Themas der körperlichen Mißhandlung, dies vor allem, weil sie meist unauffällig geschieht und zumindest zunächst kaum sichtbare Spuren hinterläßt. Sie wurde erst wieder in den 90er Jahren Thema der „Abuse“-Forschung, jetzt ergänzt durch das Wissen um emotionale Formen der Vernachlässigung (für einen historischen Überblick zur Kinderschutzarbeit vgl. Fürniss, 2005).
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Unter zeitlich-entwicklungspsychologischem Gesichtspunkt ist es im ersten Lebensjahr wohl – neben körperlicher Mißhandlung - die physische und emotionale Vernachlässigung, die in einem fundamentalen Mangel an sensorischen Erfahrungen besteht und die „möglicherweise der destruktivste und zugleich am wenigsten verstandene Aspekt der Kindesmißhandlung (ist).“ (Perry et al., 1998, S. 284). Im zweiten und dritten Lebensjahr sind es dann v.a. die körperlichen Mißhandlungen, die traumatisierend wirken. Anders, als man spontan vermuten würde, liegt die höchste Mißhandlungsrate bei Kindern im Alter zwischen 0 und 3 Jahren, und in den USA ist mehr als die Hälfte der Todesfälle in diesem Alter auf Mißhandlungen zurückzuführen (National Center on Child Abuse and Neglect, 2000, zit. nach Schore, 2007, S. 169). Dagegen ist der sexuelle Mißbrauch, sofern er ohne Penetration und physische Gewalteinwirkung erfolgt, im Säuglings- und Kleinkindalter aus meiner Sicht – jenseits moralischer Erwägungen – zumindest was die pathologischen Folgen für das Kind betrifft, als weniger schwerwiegend einzuschätzen. Die mit dieser Form von Mißbrauch zusammenhängenden Vorgänge sind nämlich für das Kind aufgrund seines kognitiven und emotionalen Entwicklungsstands in ihrer Bedeutung nur eingeschränkt erfaßbar und fallen daher tendenziell „mangels kognitiver Wahrnehmungsmöglichkeiten ins ‚affektive Nichts.’“ (Riedesser et al., 2003, S. 12). Sexuelle Übergriffe in späteren Jahren (die Mehrzahl der sexuellen Mißbrauchshandlungen findet zwischen drei und dreizehn Jahren statt, vgl. Wetzels, 1997, S. 156), wenn Generations- und Geschlechtergrenzen sowie moralische Kategorien (Über-Ich) etabliert sind, wenn Schuld- und Schamgefühle, Loyalitäts- und ödipale Konflikte erlebbar sind, wirken meiner klinischen Erfahrung nach wesentlich destruktiver. Hier beweist sich die Abhängigkeit der pathogenen Wirkung eines Traumas vom Lebensalter und dem kognitiv-emotionalen und sozialen Entwicklungsniveau (siehe dazu weiter unten).
Neben diesen drei klassischen Mißhandlungsformen ist in den letzten Jahren das Miterl e ben häuslicher Gewalt (Kindler & Werner, 2005) in den Blickpunkt des Forschungsinteresses gerückt. Ein Stiefkind der „Abuse“-Forschung ist nach wie vor die emotionale und seelische Mißhandlung von Kindern („Niederbrüllen“, „Nicht mit dem Kind reden“ etc., vgl. Bussmann, 2002), dies sicherlich vor allem deshalb, weil hier die Grenze zwischen noch normalem und traumatisierendem Erziehungsverhalten besonders schwer zu ziehen ist (Behl et al., 2003). Ein weiteres Ergebnis jüngerer Forschung ist die wichtige Erkenntnis, „daß das gleichzeitige, überlagernde Auftreten verschiedener Formen der Kindesmißhandllung sehr viel häufiger ist als das Erleiden einer einzigen Mißhandlungsform.“ (Deegener, 2005, S. 52). Vor allem in klinischen Studien wurde immer wieder die multiple Vi k timisierung von kindlichen Mißhandlungsopfern belegt (Mullen, 1997; Silverman et al., 1996; Zanarini et al., 1997).
Bezogen auf das Thema dieser Arbeit, die „frühe“ Traumatisierung von Kindern, ist davon auszugehen, daß v.a. Mißhandlung und Vernachlässigung i.d.R. Hand in Hand gehen (Crittenden 1985, 1988). Neben der physischen lassen sich als emotionale Vernachlässigung im weitesten Sinne auch chronische Formen mangelnder mütterlicher Responsivität und Kontingenz ihrem Säugling gegenüber bezeichnen. Dies läßt sich nicht nur mit der erhöhten Rate desorganisierter Bindung bei Kindern von schwer und chronisch depressiven (Teti et al, 1995) sowie drogen- und alkoholabhängigen Müttern belegen (van Ijzendoorn et al., 1999). Beobachtungsstudien der Bindungsforschung (siehe dazu ausführlich Kap. A.3.2.2.2.) konnten eindrucksvoll nachweisen, daß Mütter mit einem unbewältigtem Trauma im Kontakt mit ihrem Säugling zu dissoziativen Absencen, d.h. zu Beziehungsabbrüchen neigen, die sich als ängs t lich-ängstigendes Beziehungsverhalten (Hesse & Main, 2002; Lyons-Ruth et al., 1999, 2002) beschreiben lassen und beim Säugling – ebenso wie bei mißhandelten Säuglingen und Kleinkindern (Carlson et al., 1989) - zu einer desorgan i sierten Bindung führen. Traumaassoziierte Reize absorbieren die Mutter offenbar derartig, daß sie kurzfristig auf Signale des Kindes nicht mehr reagieren kann und deshalb als ängstlich und/oder ängstigend erlebt wird. „In einem solchen Zustand zeigt der Elternteil möglicherweise ungewöhnliche Formen drohenden, ängstlichen oder eindeutig dissoziierten Verhaltens, und die anscheinende Unerklärbarkeit dieser Verhaltensweisen kann dann, genauso wie offene Drohungen oder Mißhandlungen, bedrohlich für das Kind sein.“ (Hesse & Main, 2002, S. 239; Hervorh. C.V.).
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Zusammenfassend läßt sich „frühe“ Traumatisierung i.S. dieser Dissertation also als chronische, kumulative und komplexe (Typ II-/Beziehungs-)Traumatisierung im besonders vulnerablen Alter von 0-3 (mit „Ausläufern“ bis ins 4. und 5. Lebensjahr) beschreiben. Sie hat als Entstehungsgrund die klassische Trias von Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch, kann aber auch durch weniger schroff scheinende Verhaltensweisen verursacht sein, nämlich durch chronischen Mangel an mütterlicher Responsivität und Kontingenz im affektiven Mutter-Säuglings-Dialog.
Aus den Überlegungen zum Begriff des Traumas ergeben sich entsprechende objektive Kriterien für eine Typologie der traumatischen Situation. So lassen sich traumatische Situationen nach dem Schweregrad, nach der Häufung traumatischer Ereignisse (Typ I/II), nach der Art der Betroffenheit (direkt/indirekt), nach der Verursachung („man made desaster“) und nach dem Verhältnis zwischen Täter und Opfer („Beziehungstrauma“) klassifizieren (Fischer & Riedesser S. 122). Subjektive Kriterien sind zum einen das Lebensalter bzw. der kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand des Kindes, individuell vorhandene Risiko- und Schutzfaktoren (s. Kap. B.1.2.2.1.), sowie eine durch antezedente Faktoren (v.a. vorangegangene Traumatisierungen) gegebene besondere Stress-Vulnerabilität (vgl. Kap. A.3.3.2.). Zum ersten dieser Kriterien bemerken Riedesser et al.:
„Was für ein Kleinkind traumatisierend sein kann, zum Beispiel eine abrupte, längerfristige Trennung von den zentralen Bezugspersonen, ist für einen Adoleszenten zu bewältigen; war für einen Jugendlichen traumatisierend sein kann, zum Beispiel Zeuge eines Massakers zu werden, ist für einen Säugling nicht belastend, sondern fällt mangels kognitiver Wahrnehmungsmöglichkeiten ins ‚affektive Nichts’, sofern die engsten Bezugspersonen psychisch kompensiert bleiben und dem Kind, das auf positives ‚social referencing’ angewiesen ist, keine lang dauernde Depression oder Panikzustände vermitteln.“ (2003, S. 12). |
Damit sind bereits die protektiven Faktoren angesprochen, von denen es abhängt, ob ein objektiv belastendes Ereignis subjektiv traumatisierend wirkt. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist – neben weiteren Schutzfaktoren, vgl. Kap. B.1.2.2.1. – v.a. eine emotional verfügbare, sichere Bindungsfigur der wichtigste protektive Faktor. Im Gegenzug verschärfen psychosoziale Risikofaktoren, z.B. soziale Stressoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, beengte Wohnverhältnisse, v.a. aber auch psychische Erkrankung der Eltern, Substanzmißbrauch, Dissozialität, die traumatisierende Wirkung belastender Ereignisse, weil diese Stressoren die emotionale Responsivität der Bindungsfigur deutlich einschränken. Aus diesem Grund gehören v.a. auch vorangegangene traumatische Erfahrungen zu den antezedenten Faktoren, die die belastende Wirkung einer traumatischen Situation verstärken. Mildernd wirken dagegen positive postexpositorische Einflüsse, hier wieder allem voran das Vorhandensein tröstender und Sicherheit spendender Bezugspersonen nach der Traumatisierung (so erwies sich z.B. bei sexuellem Mißbrauch mütterliche Unterstützung nach Aufdeckung des Mißbrauchs als zentraler protektiver Faktor, vgl. Elliot & Carnes, 2001; Tiefensee, 1997, S. 213).
Als differenzierte Beschreibung der („normalen“) traumatischen Reaktion hat sich das Modell von Horowitz (1976), die sog. „Horowitz-Kaskade“, durchgesetzt. Danach führt ein traumatisches Ereignis zu einem Wechsel von Intrusion (Eindringen) und Verleugnung der traumatischen Bilder, die dann sukzessive durchgearbeitet werden, bis sie in die Persönlichkeit integriert sind (ich beziehe mich im Folgenden auf die Darstellung bei Sachsse, 2004 c).
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Zunächst reagiert der traumatisierte Mensch mit einem „Aufschrei“, mit Angst, Wut, Trauer und Verzweiflung. Die pathologische Reaktion ist völlige Überwältigung durch das traumatische Geschehen, Verwirrung, Orientierungsverlust, „hysterisches“ Verhalten, Panik bis zur Erschöpfung. Auf diese erste Phase der Trauma-Exposition folgt normalerweise, wie zum seelischen Schutz, eine zweite Phase der Verleugnung. Die Betroffenen schalten ab, wehren sich gegen traumatische Erinnerungen, weigern sich, darüber zu sprechen. Oft steigert sich dieses Verleugnungsverhalten in pathologischer Form zu Medikamenten- und Drogenmißbrauch, um den Schmerz und die Erinnerungen zu betäuben. In einer dri t ten Phase der Intrusion dringen diese Erinnerungen und Bilder dann wieder machtvoll in das Bewußtsein. Die pathologische Variante besteht dann in ständigem gedanklichen Kreisen um die traumatische Situation, wiederkehrender Überflutung durch „flash backs“, die sich z.T. als minutiöse Erinnerungen (Hypermnesien) darstellen können. Daran schließt sich im Normalfall eine vierte Phase des Durcharbeitens, in der sich die Betroffenen i.d.R. im kommunikativen Austausch mit wichtigen Bezugspersonen mit den Ereignissen und ihrer persönlichen Reaktion darauf intensiv auseinandersetzen, um die Erlebnisse in ihre Persönlichkeit und ihre Biographie integrieren und wieder zu einem ganzheitlichen Körpererleben zurückkehren zu können. Im pathologischen Fall mißlingt dieses Durcharbeiten, und es kommt wieder zu Überschwemmungen durch die Bilder, die sich auch als „Körper-Flashbacks“, d.h. als körperliches Wiedererleben der traumatischen Situation, manifestieren. Daraus können sich im weiteren Verlauf Somatisierungs- und Persönlichkeitsstörungen entwickeln. Als fünfte Phase des Abschlusses gelingt dann im Optimalfall die Bewältigung der traumatischen Situation, die sich daran bemißt, ob der Betroffene wieder zum Alltag zurückkehren kann, sich aber auch an die traumatische Situation in den wichtigsten Bestandteilen erinnern kann, ohne zwanghaft daran denken zu müssen und ohne die ursprünglichen Gefühle der Panik, Wut und Verzweiflung in der ursprünglichen Heftigkeit wiederzuerleben.
Aus der Beschreibung wird deutlich, daß dieser idealtypische Selbstheilungsprozeß in erster Linie für Typ-I-Traumen gilt, d.h. für einmalige schreckliche Erfahrungen, die das Individuum meist im Erwachsenenalter treffen. Es liegt auf der Hand, daß diese Verlaufsbeschreibung die in dieser Arbeit thematisierte chronische Typ-II-Traumatisierung im Kindesalter nur sehr bedingt erfaßt. Zusätzlich erfolgt die Bewältigung in der vierten Phase des Durcharbeitens ja im intensiven affektiven und sprachlichen Austausch mit wichtigen Bezugspersonen, für die das „Sich-Ausweinen an der Brust des/der Geliebten“ paradigmatisch stehen mag. Genau diese tröstende, empathische, „haltende“ Bindungsfigur steht aber im Falle früher Bindungs- und Beziehungstraumatisierung im Kleinkindalter gerade nicht zur Verfügung. Zudem findet frühe Traumatisierung bereits im präverbalen Alter statt, in welchem ein sprachlich-symbolisches Repräsentationsformat noch nicht oder nur bedingt entwickelt ist.
Gelingt die Verarbeitung nicht, kommt es nach Fischer & Riedesser (1999) im weiteren Verlauf zum traumatischen Prozeß. „Dieser ist gekennzeichnet durch den paradoxen Versuch, sich an eine unerträgliche Erfahrung anzupassen, mit ihr zu leben, ohne sich mit ihr wirklich konfrontieren zu müssen.“ (ebd., S. 117) Dabei kann es dem Individuum zwar gelingen, den traumatischen Erfahrungskomplex (das Traumaschema, ebd. S. 97) soweit unter Kontrolle zu bringen, daß kein Symptombild, v.a. keine Intrusionen mehr auftreten. Dies geschieht jedoch um den Preis weitgehender psychischer Strukturveränderungen, die bis hin zu einer Erstarrung der Persönlichkeit mit Verlust jeglicher emotionaler Spontaneität führen können. Wichtigste Kontrollstrategie ist dabei das traumakompensator i sche Schema. „Es beruht auf einer ‚naiven Traumatheorie‘, die bei Kindern z.B. durch die jeweilige kognitive Entwicklungsstufe mitbestimmt ist, aber auch durch Zufälligkeiten der traumatischen Situation.“ (ebd., S. 98). Das traumakompensatorische Schema enthält drei Aspekte: einen ätiologischen Aspekt („Wäre ich braver gewesen, hätten mich meine Eltern nicht geschlagen“), einen rep a rativen Aspekt („Wenn meine Eltern mich geschlagen, hab ich’s verdient“) sowie einen präventiven Aspekt („Sei immer brav, dann passiert dir nichts!“)
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Bedeutsam ist hier jeweils die Verkehrung der passiv-hilflosen in eine aktiv-kontrollierende Position, die der Abwehr der traumatischen Ohnmachtserfahrung dient und psychoanalytisch als „Identifikation mit dem Aggressor“ (A. Freud, 1936) bzw. als „Identifikation mit dem Täter-Introjekt“ (Hirsch, 1998 a) bekannt ist.
Entstehen im weiteren Entwicklungsverlauf doch noch spezifische Symptome, so sind diese nach Fischer und Riedesser analog dem Freudschen Konzept des neurotischen Symptoms als Kompromiß zwischen Wunsch und Abwehr als Kompromiß zwischen Traumaschema und traumakompensatorischem Schema zu verstehen. Dabei dient die Symptombildung als min i males kontrolliertes Darstellungs- oder Handlungsfeld (Fischer & Riedesser 1999, S. 100), in dem sich einerseits die traumatische Erfahrung mit ihrem überwältigenden Affekt (Traumaschema) manifestiert, andererseits die Kontrolle über die traumatische Situation symbolisch wiederhergestellt wird (traumakompensatorisches Schema). „Wird z.B. bei der Magersucht das Eßverhalten als Darstellungsfeld eines Beziehungstraumas gewählt, so kann über die Kontrolle der Nahrungsaufnahme eine minimale, zumindest symbolische Kontrolle über die traumatische Erfahrung erreicht werden.“ (ebd., S. 100).
Aus der Beschreibung des traumatischen Prozesses wird deutlich, daß es sich hier um einen psychodynamischen Prozeß handelt, d.h. eine sekundäre symbolische Überarbeitung einer Überwältigungserfahrung, auf die zunächst rein somatopsychisch mit Übererregung, intrusivem Erleben und Vermeidung reagiert wurde. Unter Vorwegnahme der Diskussionsergebnisse des Kap. A.2.2. sei hier jedoch bereits darauf verwiesen, daß die Entwicklung eines traumakompensatorischen Schemas an ein sprachlich-symbolisches Repräsentationsformat gebunden ist, welches im Falle früher Traumatisierung noch nicht oder nur sehr rudimentär vorliegt. Zudem wird durch die Beziehungstraumatisierung der gesamte Prozeß der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit beim Kleinkind systematisch beschädigt. Eine sekundäre symbolische Überarbeitung des Traumas i.S. einer „Anpassung an die unerträgliche Erfahrung“ ist im Falle früher Traumatisierung daher so gut wie nicht möglich. Der traumatische Prozeß manifestiert sich bei früh traumatisierten Kindern deshalb – ähnlich wie bei Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen, die im Erwachsenenalter traumatisiert werden - als chronifizie r te traumatische Reaktion, worauf auch Fischer & Riedesser hinweisen: „Bei genereller Schwäche der Kontrollfunktionen entwickelt sich ein chronisches posttraumatisches Belastungssyndrom mit intrusiver Symptomatik.“ (1999, S. 117). Die klinischen Erscheinungsformen dieses posttraumatischen Belastungssyndroms sollen im folgenden Kapitel ausführlicher dargestellt und diskutiert werden.
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Die klinische Diagnostik psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter, die nach den beiden wichtigsten nosologischen Klassifikationsmanualen, der Internationalen Klassifik a tion Psychischer Störungen (ICD-10) der WHO (1993) und dem Diagnostischen und St a tistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) der APA (1996) erfolgt, orientiert sich zum einen an spezifischen Symptomen, zum anderen an funktionellen Beeinträchtigungen des kindlichen Patienten in verschiedenen psychosozialen Bereichen (Familie, Schule etc.). Ausgehend von diesem funktionellen Störungsbegriff wird eine kindliche psychische Erkrankung als ein „Zustand unwillkürlich gestörter Lebensfunktionen“ bezeichnet, „der durch Beginn, Verlauf und gegebenenfalls auch Ende eine zeitliche Dimension aufweist und ein Kind oder einen Jugendlichen entscheidend daran hindert, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und diese zu bewältigen.“ (Remschmidt, 1995, zit. nach Resch et al., 1999, S. 43). Diese rein deskriptiv-phänomenologische Diagnostik wird aus klinisch-kinderpsychiatrischer Sicht damit begründet, daß aufgrund der unterschiedlichen epistemologischen Traditionen und Diskurse in der klinischen Entwicklungspsychologie eine Einigung auf ein gemeinsames ätiologisch orientiertes Störungskonzept nicht zu erzielen sei (Nathan & Langenbucher, 1999; Vollmoeller, 1998).
Psychoanalytikern war diese Reduktion komplexer unbewußter Prozesse auf deskriptive, einem medizinisch-pharmakologischen Paradigma verpflichtete „Oberflächen“erscheinungen seit jeher ein Dorn im Auge (Schneider & Freyberger, 1994; Studt & Petzold, 1999, S. 29). Denn mit den genannten Diagnosesystemen „wird nicht nur das Neurosenkonzept aufgegeben, sondern darüber hinaus überwiegend an phänomenologischen und biologischen Konzepten festgehalten, die die Validität diagnostischer Kriterien gegenüber der Reliabilität vernachlässigen.“ (Arbeitskreis OPD, 1998, S. 14). Die Symptomatik und psychische Be-einträchtigung „erfahren eine immer stärkere Gleichsetzung, psychosoziale Faktoren rücken zunehmend in den Hintergrund …Eine Trivialisierung der seelischen Situation schwieriger Kinder ist die unvermeidliche Folge.“ (Ahrbeck, 2006, S. 19).
Andererseits wird auch von Psychoanalytikern immer wieder die Vieldeutigkeit psychoanalytischer Begrifflichkeit und die daraus resultierende Unschärfe in der Diagnostik beklagt (z.B. Kaplan, 1981). Aus diesem Grunde wurde mit der Operationalisierten Psych o dynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD, 1998) der Versuch unternommen, anhand von vier Achsen (1.Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, 2.Beziehung, 3. Konflikt, 4. Struktur) die für das psychoanalytische Verständnis relevanten unbewußten Prozesse zu operationalisieren, um auch in der psychoanalytischen Diagnostik zu „akzeptierten und kommunizierbaren Standards“ zu gelangen (ebd., S. 8). Die „Kinderversion“ der OPD, die OPD-KJ (Arbeitskreis OPD-KJ, 2001) hat sich im psychodynamisch orientierten stationären Bereich heute als Ergänzung des historisch älteren und eingeführten Multiaxialen Klassifikationsschemas für psychische Störungen des Kindes- und Jugenda l ters nach ICD- 10 (Remschmidt et al., 2002) durchgesetzt.
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Ein weiteres Problem von ICD-10 und DSM-IV besteht in der grundlegenden Differenz zwischen Erwachsenen- und Kinder-Diagnosen. Bei der Klassifikation psychischer Störungen lassen sich nämlich grundsätzlich zwei Ansätze unterscheiden (Döpfner & Lehmkuhl, 1997): die kategoriale Klassifikation, die in der medizinischen Tradition steht, versucht, klar voneinander abgrenzbare nosologische Entitäten zu definieren, wie es in den beiden genannten klinischen Systemen ihren Ausdruck gefunden hat. Die dimensionale Klassifikation versucht hingegen, psychische Auffälligkeiten anhand kontinuierlich verteilter Merkmale auf verschiedenen Dimensionen zu ordnen. Hier ist die Grenze zwischen „Gesundheit“ und „Krankheit“ fließend. Es liegt nahe, daß im Kindesalter eine dimensionale Diagnostik angemessener ist, denn in Feldstudien erweist sich, daß die meisten kindlichen Störungen nicht in den Bereich klar abgrenzbarer diagnostischer Kriterien fallen, sondern sich im subklinischen Bereich bewegen. Dort aber treten sie um ein Vielfaches häufiger auf als bei definierten klinischen Vollbildern, ohne deshalb zwingend Vorstadien dieser Vollbilder zu sein (vgl. Resch, 1998). Zudem bestehen zwischen unterschiedlichen kindlichen Störungen oft hohe Komorbidität und Interkorrelation: eine depressive Störung geht i.d.R. auch mit einer Angststörung sowie psychosomatischen Beschwerden einher, eine aggressive Störung meist mit einer Störung des Sozialverhaltens und/oder Hyperaktivität etc. (vgl. McConaughy & Achenbach, 1994), so daß sich die dimensionalen Diagnosen internalisierende und externalisierende Störung eher anbieten (Achenbach, 1991). Schließlich werden dimensionale Diagnosen viel eher dem Entwicklungsaspekt kindlicher Störungen gerecht (Achenbach, 1995): im Alter von zwei, drei Jahren sind z.B. Trennungsängste und/oder Trotzreaktionen altersgerechte Entwicklungsmanifestationen, während sie in späteren Jahren Ausdruck einer (beginnenden) depressiven Störung/Angststörung bzw. einer oppositionellen Störung des Sozialverhaltens sein können. Nicht zuletzt sind kindliche Störungen oft umgebungsabhängig, treten z.B. nur in der Schule oder nur zuhause auf, was die Exploration der Sozialbeziehungen und des Kontexts erforderlich macht (Jensen & Hoagwood, 1997; Nathan & Langenbucher, 1999). Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer mehrdimensionalen Betrachtung des Störungsbildes, um der Komplexität des kindlichen Entwicklungszusammenhanges gerecht zu werden (vgl. Resch et al., 1999, S. 59).
Dies trifft ganz besonders auf früh traumatisierte Kinder zu. Denn frühe Traumatisierung schädigt das Kind in einer so umfassenden, alle Entwicklungs- und Funktionsbereiche durchziehenden Weise, daß die kategorialen Diagnosen des ICD-10 bzw. DSM-IV im Bereich posttraumatischer Belastungssyndrome, die für erwachsene Patienten gelten (s. dazu weiter unten), einerseits nicht ausreichen, um alle kindlichen Störungsbereiche abzudecken, andererseits aber auch zu restriktiv definiert sind. Viele nachweislich traumatisierte Kinder erfüllen deshalb die genannten Störungskriterien zumindest nicht im geforderten Maße (Scheeringa et al., 1995, Cook et al., 2005). Diese besondere Problematik soll in der folgenden Darstellung der gängigen posttraumatischen Belastungssyndrome jeweils eingehender behandelt werden.
Die posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder, PTSD) läßt sich als symptomatologische Fixierung von Intrusion und Vermeidung aus der traumatischen Reaktion beschreiben und ist durch die Trias Wiedererleben (B), Vermeidung (C), Erregung (D) charakterisiert. Nach dem DSM-IV müssen für diese Diagnose bestimmte Kriterien erfüllt sein, die in Tab. 1 aufgeführt sind. (Im ICD-10, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO (1993), findet sich unter F.43.1 eine analoge Klassifikation).
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Tab. 1: Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-IV
A |
Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren: |
|
1) |
Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten |
|
2) |
Die Reaktion der Person umfaßte intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen. Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agitiertes Verhalten äußern. |
|
B |
Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt: |
|
1) |
Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden. |
|
2) |
Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis. Beachte: Bei Kinder können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten. |
|
3) |
Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Epidoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten). Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten. |
|
4) |
Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern |
|
5) |
Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern |
|
C |
Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor: |
|
1) |
Bewußtes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, |
|
2) |
bewußtes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen, |
|
3) |
Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern, |
|
4) |
deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten, |
|
5) |
Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen, |
|
6) |
eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden), |
|
7) |
Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben). |
|
D |
Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor: |
|
1) |
Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen, |
|
2) |
Reizbarkeit oder Wutausbrüche |
|
3) |
Konzentrationsschwierigkeiten, |
|
4) |
übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz) |
|
5) |
übertriebene Schreckreaktion. |
|
E |
Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat. |
|
F |
Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. |
|
Bestimme, ob |
||
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern. |
||
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern. |
||
Bestimme, ob |
||
Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor liegt. |
Bei Kindern wird die PTSD bis heute unterdiagnostiziert (Davies & Flannery, 1998; Pfefferbaum, 1997), was, so die Autoren, daran liegen könnte, daß Eltern die Symptome ihrer Kinder bagatellisieren. Eine weitere Erklärung könnte sich daraus ergeben, daß posttraumatische Symptome bei Kindern umso unspezifischer sind, je jünger die Kinder sind (Heemann et al., 1998). Scheeringa et al. (1995) beobachteten z. B. bei nachweislich traumatisierten Säuglingen und Kleinkindern zusätzlich zu den DSM-IV-Kriterien im B e reich C (Vermeidung) eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität, eingeschränkte Spielfähigkeit, sozialer Rückzug, eingeschränkte Affekte sowie Verlust von Entwicklungsfähigkeit (Sprache, Sauberkeit etc.) Im Bereich D (Erregung) wurden Angst vor dem Zu-Bett-Gehen, nächtliches Aufwachen, Hypervigilanz, übertriebene Schreckreaktionen ermittelt. Zusätzlich führten die Autoren einen Bereich E (Neue Ängste und Aggressionen) ein, in dem Aggression, Trennungsangst, Angst vor Sauberkeitstraining, Dunkelangst sowie Ängste vor nicht mit dem Trauma verbundenen Situationen aufgelistet sind.
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Akute Belastungsstörung
Von der posttraumatischen Belastungsstörung ist die akute Belastungsstörung nach DSM IV (ICD-10: F43.0) zu unterscheiden. Dabei handelt es sich um eine vorübergehende massive Stressreaktion, die ebenfalls durch Wiedererleben, Vermeidung und Erregung (sowie zusätzlich durch dissoziative Symptome) gekennzeichnet ist, aber höchstens 4 Wochen andauert (PTSD: mindestens 4 Wochen) und innerhalb von 4 Wochen nach dem Ereignis auftritt.
Anpassungsstörung
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Es können sich Überschneidungen der posttraumatischen Belastungsstörung mit der A n pa s sungsstörung ergeben. Darunter wird nach DSM-IV (ICD-10: F43.2) eine chronifizierte Belastungsreaktion als Antwort auf ein einschneidendes Lebensereignis (wie Trennung, Verlust, Flucht, Emigration) verstanden, das nicht die PTSD-typische Trias von Intrusion/ Vermeidung/Erregung aufweist. Die vorherrschenden Symptome bewegen sich mehr in Richtung Angst und depressiver Reaktion, können gerade bei Kindern aber auch mit Störung des Sozialverhaltens, Aggression und Hypermotorik einhergehen. Differentialdiagnostisch zur PTSD ist der Zeitraum bedeutsam, in dem sich die Störung manifestiert. Die Anpassungsstörung tritt nach DSM-IV innerhalb von 3 Monaten ab Einsetzen des Stressors auf (PTSD: bei verzögertem Beginn auch Jahre später) und dauert nicht länger als 6 Monate (PTSD: u.U. chronisch über Jahre). Hinter einer gegenwärtigen Anpassungsstörung kann sich aber prinzipiell auch eine „verschleppte“ PTSD verbergen, die durch einen aktuellen „life event“ aktiviert wird, ihre Ursache aber in einem längere Zeit zurückliegenden traumatischen Ereignis hat (Fischer & Riedesser, 1999, S. 50).
Seit einiger Zeit wird diskutiert, ob es sinnvoll ist, die Diagnose einer Borderline-Persönlich-keitsstörung (BPS) auch auf früh traumatisierte Kinder anzuwenden. Zunächst ein kurzer Überblick über die Symptomatik nach DSM-IV (s. auch ICD-10: F60.31).
Tab. 2: Diagnostische Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-IV
Tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen. Mindestens 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: |
|
1. |
Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. |
2. |
Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. |
3. |
Identitätstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. |
4. |
Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgeben, Sexualität, Substanzmißbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Freßanfälle“) Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. |
5. |
Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder –drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. |
6. |
Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z.B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). |
7. |
Chronische Gefühle der Leere. |
8. |
Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren, (z.B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). |
9. |
Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative |
↓54 |
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und die PTSD weisen phänomenologisch bereits so viele Ähnlichkeiten in der Symptombildung auf, daß sogar vorgeschlagen wurde, die BPS-Diagnose abzulösen durch den Begriff und das Konzept der komplexen pos t traumatischen Belastungsstörung (Herman, 1992) bzw. der „Disorders of Extreme Stress“ (Herman, 1993; van der Kolk et al, 1996; Pelcovitz et al., 1997, siehe dazu weiter unten). Nicht zuletzt die hohen Prävalenzraten von sexuellem Mißbrauch in klinischen Borderline-Stichproben (bis zu 70%, vgl. Ogata et al., 1990; Zanarini et al, 1989) legen einen ätiologischen Zusammenhang nahe. Dennoch läßt sich nicht jede BPS auf Kindesmißbrauch zurückführen (zur Diskussion vgl. Fossati et al., 1999; Johnson et al., 1999)
Zwar verbietet sich bei Kindern, um die es in dieser Arbeit geht, eine BPS-Diagnose zunächst aus Altersgründen (vgl. DSM-IV: „Beginn im frühen Erwachsenenalter“). Dennoch wird von einzelnen AutorInnen angesichts exakterer diagnostischer Möglichkeiten sowie epidemiologischer Befunde eine Ausweitung der BPS-Diagnose auf Kinder gefordert, um die frühkindlichen Manifestationsformen beginnender Persönlichkeitsstörungen rechtzeitig zu erkennen und entsprechende therapeutische Interventionen einzuleiten (P. Kernberg et al, 2001; Shapiro, 1990). Andere AutorInnen (z.B. Streeck-Fischer, 1998; 2003) halten diesen Vorschlag dagegen für wenig hilfreich, da sich das ursprünglich psychoanalytische Konzept der Ätiologie der BPS (Kernberg, 1978, 1988) auf die Annahme konstitutionell bedingter erhöhter Feindseligkeit und Aggressionsbereitschaft gründet. Die Wirkung der Umwelt auf die Genese pathologischer innerer Objektbeziehungen, d.h. die Realtraumatisierung, werde dabei eher ausblendet. Zahlreiche Autoren plädieren deshalb dafür, das breit gefächerte Symptombild früh traumatisierter Kinder stattdessen als multiple und komplexe Entwicklungsstörung (MCDD-Multiple Complex Developmental Disorder) zu bezeichnen (Lincoln et al., 1998; Streeck-Fischer, 2003; Towbin et al., 1993).
Der letztgenannte Begriff einer „multiplen und komplexen Entwicklungsstörung“ ist in den jüngsten Diagnosevorschlag eingegangen, der in der vorliegenden Arbeit als die treffendste Erfassung von Störungen früh traumatisierter Kinder gesehen wird. Es handelt sich um die von van der Kolk (2005) vorgeschlagene entwicklungsorientierte Diagnose der Developme n tal Trauma Disorder.
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Denn anders als die Diagnosen der akuten Belastungsreaktion, der postraumatischen Belastungsstörung und der Anpassungsstörung, die in erster Linie an Typ-I-Traumen orientiert sind (vgl. das A-Kriterium des „traumatischen Ereignisses“ der PTSD) sowie die Diagnose der Borderline-Störung als komplexe MCDD, die frühestens ab der Adoleszenz zu stellen ist, ist allein die Developmental Trauma Disorder in der Lage, die spezifischen Folgen chronischer, kumulativer und komplexer Traumatisierung im Kindesalter zu erfassen.
„The diagnosis of PTSD is not developmentally sensitive …the PTSD diagnosis does not capture the developmental effects of childhood trauma: the complex disruption of affect regulation; the disturbed attachment patterns; the rapid behavioral regressions and shifts in emotional states; the loss of autonomous strivings; the aggressive behavior against self and others; the failure to achieve developmental competencies; the loss of bodily regulation in the areas of sleep, food, and self-care; the altered schemas of the world; the anticipatory behavior and traumatic expectancies; the multiple somatic problems, from gastrointestinal distress to headaches; the apparent lack of awareness of danger and resulting self endangering behaviors; the self-hatred and self-blame; and the chronic feelings of ineffectiveness.“ (van der Kolk, 2005, S. 405 f.) |
↓56 |
Um der Komplexität der Traumafolgen für den gesamten Entwicklungsprozeß von Kindern gerecht zu werden, wurde für das zukünftige DSM-V eine Task Force des amerikanischen National Child Traumatic Stress Network gebildet, die eine neue Diagnosekategorie entwerfen und evaluieren sollte. Van der Kolk hat im Namen der Arbeitsgruppe die erarbeiteten Kriterien für die neue Diagnose Developmental Trauma Disorder wie folgt zusammengefaßt:
Tab. 3: Diagnostische Kriterien der „Developmental Trauma Disorder“ nach van der Kolk (2005):
A |
Exposure |
|
- |
Multiple or chronic exposure to one or more forms of developmentally adverse interpersonal trauma (eg. abandonment, betrayal, physical assaults, sexual assaults, threats to bodily integrity, coercive practices, emotional abuse, witnessing violence and death). |
|
- |
Subjective experience (eg. rage, betrayal, fear, resignation, defeat, shame). |
|
B |
Triggered pattern of repeated dysregulation in response to trauma cues |
|
Dysregulation (high or low) in presence of cues. Changes persist and do not return to baseline; not reduced in intensity by conscious awareness. |
||
- |
Affective |
|
- |
Somatic (eg. physiological, motoric, medical). |
|
- |
Behavioral (eg. re-enactment, cutting). |
|
- |
Cognitive (eg. thinking that it is happening again, confusion, dissociation, depersonalization). |
|
- |
Relational (eg. clinging, oppositional, distrustful, compliant). |
|
- |
Self-attribution (eg. self-hate, blame). |
|
C |
Persistently Altered Attributions and Expectancies |
|
- |
Negative self-attribution. |
|
- |
Distrust of protective caretaker. |
|
- |
Loss of expectancy of protection by others. |
|
- |
Loss of trust in social agencies to protect. |
|
- |
Lack of recourse to social justice/retribution. |
|
- |
Inevitability of future victimization. |
|
D |
Functional Impairment |
|
- |
Educational. |
|
- |
Familial. |
|
- |
Peer. |
|
- |
Legal. |
|
- |
Vocational. |
Auch wenn diese Diagnose noch nicht in die aktuelle Klassifikation der ICD-10 bzw. des DSM-IV eingegangen ist (dies ist erst für das DSM-V geplant), handelt es sich hierbei doch „um den ersten vielversprechenden Versuch, die Komplexität und Breite von somatopsychischen Reaktionen auf Typ-II-Traumatisierung im Kindesalter zu ordnen und mit einer einheitlichen Nomenklatur zu versehen.“ (Landolt, 2008, S. 33)
↓57 |
Zu posttraumatischen Störungsbildern werden im Erwachsenenbereich noch weitere Diagnosen gerechnet, die hier nur kurz erwähnt seien, da sie für Kinder nicht anwendbar sind.
Zum einen handelt es sich um die Dissoziative Identitätsstörung mit der Extremform der „multiplen Persönlichkeitsorganisation“, die nach DSM-IV (ICD-10: F44.81) durch „das Vorhandensein von zwei oder mehreren unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen“ gekennzeichnet ist, die „wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Persönlichkeit ausüben“.
Bei Kindern sind dissoziative Phänomene i.S. einer dimensionalen Diagnostik zu erfassen. Angefangen mit „harmlosen“ Tagträumen und imaginierten Spielgefährten können sich dissoziative Zustände als vorübergehende, auf den Körper bezogene Entfemdungserlebnisse (Depersonalisation) oder auf die unmittelbare Umgebung bezogene Entfremdungserfahrungen (Derealisation) manifestieren (Resch, 1997). Dissoziative Amnesien (Erinnerungslücken, auch bezogen auf eigene Identitätsaspekte) sowie dissoziative Fugue- (plötzliches, unerwartetes Weglaufen) und Trance-Zustände weisen bereits auf eine deutlich stärkere Pathologie hin (Putnam, 1997). Bei fortgesetzter Depersonalisation während des täglichen Lebens, sensorischen und emotionalen Aufspaltungen der Erfahrung und des Erlebens (van der Kolk & Fisler, 1994), wird ein traumatischer Hintergrund immer wahrscheinlicher. Das Vollbild einer Dissoziativen Identitätsstörung liegt nach DSM-IV jedoch erst dann vor, wenn sich die unterschiedlichen Identitäten in „relativ überdauernder Weise des Wahrnehmens, der Beziehungsgestaltung und der Einstellung gegenüber der Umgebung und der eigenen Person“ herausgebildet haben, was i.d.R. erst ab der Adoleszenz zu beobachten ist.
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Eine weitere posttraumatische Erwachsenen-Diagnose ist die nur im ICD-10 aufgeführte Andauernde Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (F 62.0), die jedoch nur bei bestimmten besonders einschneidenden Traumatisierungen im Erwachsenenalter (Folter, KZ-Haft, Geiselnahme etc.) zu stellen ist.
Um komplexere Traumatisierungsbilder zu erfassen, die im Kindesalter wurzeln, wurde für den Erwachsenenbereich deshalb die Diagnose der Komplexen posttraumatischen Bela s tungsstörung vorgeschlagen, die auf Herman (1992) zurückgeht. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch wird diese Diagnose auch mit dem Akronym DESNOS (Disorder of E x treme Stress Not Otherwise Specified ) bezeichnet (bisher nur im Anhang des DSM-IV verzeichnet). Wegen der Ähnlichkeit mit den Symptomen früh traumatisierter Kinder sollen die Diagnosekriterien kurz erwähnt werden (vgl. Pelcovitz et al., 1997):
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Die psychotraumatologische Diagnostik bei früh traumatisierten Kindern unterscheidet sich in der Transparenz des Indikations- und Therapieplanungsprozesses deutlich von der klassisch analytischen Vorgehensweise. Bei letzterer verhält sich die Analytikerin abstinent und neutral, um dadurch die Entfaltung der Übertragung zu ermöglichen. In der Traumatherapie hingegen ist Transparenz des therapeutischen Prozesses angezeigt (Krüger & Reddemann, 2007, S. 80; Wöller, 2006, S. 203). In erster Linie soll damit das durch die Traumatisierung gestörte Sicherheitsgefühl des Patienten gestärkt werden. Durch Information über Traumafolgen (Intrusionen, Kampf-Flucht-Reaktionen, Amnesien) sollen alle Beteiligten entlastet und besonders dem kleinen Patienten ermöglicht werden, über ein verbessertes Verständnis auch ein Gefühl verbesserter Kontrolle über seine inneren Vorgänge zu gewinnen.
In Fällen erwiesener Traumatisierung handelt es sich meist um Kinder, die ihren traumatisierenden leiblichen Eltern vom Jugendamt weggenommen und bei Pflege- oder Adoptiveltern untergebracht wurden. Nicht selten sind es aber auch Kinder alleinerziehender Mütter, denen es gelungen ist, sich aus einem Milieu von Gewalt und Substanzmißbrauch zu befreien und die nun ihr Kind in Therapie bringen, damit es seine Traumatisierung aufarbeiten kann.
Bei Pflege- oder Adoptionsfällen muß sich die Analytikerin mit den Informationen der Ersatzeltern und den Angaben aus den Jugendamtsakten zufrieden geben. Sofern die leibl i che Mutter des Kindes dazu bereit ist, empfiehlt sich eine über die gängigen Anamnesefragebögen hinausgehende möglichst ausdifferenzierte Frühanamnese der prä- und postnatalen Zeit bis zum dritten Lebensjahr, um spezifische Beziehungstraumatisierungen zu erfassen. Hilfreich ist hier z.B. der Interviewleitfaden „Diagnostisches Interview zur Eltern-Säuglings-Beziehung“ (Zeanah et al., 1993). Auch somatische und somatopsychische Traumatisierungen (z.B. schwerwiegende Erkrankungen, Operationen, Krankenhausaufenthalte) sollten erfragt werden. Bei all diesen Erhebungen ist die eigene Gegenübertragung eine wichtige Informationsquelle.
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Im Erstgespräch mit Kindern alleinerziehender Mütter sollten die konkreten Traumatisierungen, die es erlitten hat (Mißhandlung, Mißbrauch, gewalttätige Elterntrennung etc.), von der Analytikerin nur summarisch angesprochen werden (z.B. als „schlimme Erlebnisse“), um keine Intrusionen auszulösen. Genauere Details sind erst im Elterngespräch zu eruieren, in dem die Anamnese des Kindes und die seiner Eltern erhoben werden.
Besonders sorgfältig ist zu prüfen, ob das Kind noch Täterkontakt hat bzw. ob ihm z.B. in einem verwahrlost-sexualisierenden Milieu weitere Traumatisierungen drohen. Sicherheit des Kindes ist grundlegende Voraussetzung jeder Traumatherapie! Kann sie nicht garantiert werden, muß als erstes mit den Bezugspersonen erarbeitet werden, wie sie für den Schutz des Kindes sorgen können und ob sie evtl. bereit sind, dafür auch Unterstützung der Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen.
Zu einer gründlichen Anamnesenerhebung gehört in diesem Zusammenhang die Erfassung der psychosozialen Risiken, mit denen die Familie belastet ist (Armut, geringer Bildungsstand, Arbeitslosigkeit etc.). Auf der anderen Seite sind aber auch – und das übersehen gerade Psychoanalytiker gerne – die Ressourcen des Patienten und seiner Familie i.S. von protektiven Faktoren zu erfragen: also sichere Bindungsfiguren, soziale Netze, Stärken und Fähigkeiten des Patienten. Denn diese Schutzfaktoren mildern die negative Wirkung der Risikofaktoren und verbessern damit die Prognose (s. dazu Kap. B.1.2.2.1.).
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Für die Erhebung der Elternanamnese empfiehlt sich eine adaptierte Kurzform des „Erwachsenen-Bindungsinterviews“ (George et al., 1996), das auf eigene Bindungstraumatisierungen der Eltern durch Fragen nach Verlusten, Trennungen, Mißhandlung, Mißbrauch abhebt und den Bindungsstatus der Eltern zu erhellen hilft. Dabei ist besonders auf Gegenübertragungsgefühle zu achten, weil sie wichtige Hinweise auf die Beziehungsqualität zwischen Mutter und Kind geben können.
Schließlich geben die im Rahmen der Vorgespräche mit dem Kind durchgeführten proje k tiven Tests (wie „Familie in Tieren“, Szeno-Test, Wartegg) Hinweise auf das unbewußte Erleben des Patienten.
Häufig ist am Beginn der Therapie von einem Trauma nicht die Rede. Kinder werden zunächst wegen anderweitiger Symptome vorgestellt, und es ergibt sich erst im Laufe der Anamnesenerhebung oder auch während der Therapie ein Verdacht auf frühe oder akt u elle Traum a tisierung.
↓62 |
Anhaltspunkte für eine Traumatisierung kann zunächst die Symptomatik des Kindes liefern. Gerade hinter der typischen Symptomatik der AD(H)S oder der „Oppositionellen Störung des Sozialverhaltens“ verbergen sich nicht selten die typischen PTSD-Symptome der Hypervigilanz, der Schreckhaftigkeit, der dissoziativen Absence, der Kampf-Flucht-Reaktionen (zum Zusammenhang von Trauma und ADHS vgl. Leuzinger-Bohleber et al., 2007, Streeck-Fischer, 2006, S. 176). Schlafstörungen und Alpträume können ebenfalls Hinweise auf traumatisches Erleben sein (Weinberg, 2005, S. 182).
Verdachtsmomente für körperliche Mißhandlung sind z.B. blaue Flecken oder reflexhafte Angstreaktionen. Als Hinweise auf möglichen sexuellen Mißbrauch werden gewöhnlich sexualisierte Sprache und Verhalten des Patienten angeführt (Corwin, 1989, krit. Volbert, 1997). Allerdings ist hier Vorsicht angebracht, da sich in sexuellen Spielszenen auch „normale“ infantile Sexualneugier ausdrücken kann (Greuel, 1997). Wichtiger als die konkreten Manifestierungen kindlichen Spiels ist der Kontext der Szene, insbesondere die Beziehungsqualität im Gegenübertragungserleben der Analytikerin. Hier ist eine Gratwanderung zwischen Verharmlosung und „Seelenblindheit“ gegenüber kindlicher Traumatisierung einerseits und reflexartiger Verdächtigung v.a. im Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch andererseits zu bewältigen.
Neben den Traumatisierungshinweisen, die die Patienten in der analytischen Situation geben, sind es die Eltern selbst, die durch ihren konkreten Umgang miteinander, mit dem Kind und durch ihr Verhalten gegenüber der Analytikerin Verdachtshinweise auf Mißhandlung oder Mißbrauch geben. So legen eine Borderline-Struktur der Eltern mit Neigung zu Impulsdurchbrüchen oder Äußerungen i.S. der Identifikation mit dem Aggressor („Schläge haben noch niemandem geschadet“) eine Mißhandlungsbereitschaft der Eltern nahe. Ebenso verweist ein sexualisierendes Verhalten des Paars auf eine Tendenz zu sexueller Übergriffigkeit.
↓63 |
Um Verdachtsmomente zu erhärten, ist kein sofortiger Anruf beim Jugendamt, sondern zunächst der vertrauensvolle Kontakt mit den Eltern gefragt. Es soll nicht nur eine falsche Verdächtigung vermieden werden, sondern vor allem i.S. des Containing das Ängstigende, schwer Vorstellbare zunächst ertragen und nicht in kontraphobischer Abwehr durch aggressive Anklage gegen die Bezugspersonen zurückgewiesen werden. Die Analytikerin sollte eine Aussprache anstreben, die von Verständnis für emotionale Überforderungssituationen der Eltern bestimmt ist. Dieses Verständnis schafft die Voraussetzung für ehrliche Kommunikation, die letztlich dem Kind zugute kommt. Gemeinsam kann dann beraten werden, wie das Kind geschützt und wie die Eltern entlastet werden können. Sollte es sich als nötig erweisen, kann auch vorsichtig eine familienunterstützende Maßnahme der Jugendhilfe angebahnt werden.
Ein ganz eigenes Thema ist der Verdacht einer alleinerziehenden Mutter auf sexuellen Mißbrauch ihres Kindes, den sie gegenüber ihrem getrennten Ehemann/Partner hegt und der häufig mit Trennungs- und Scheidungsstreit verbunden ist. Nicht selten ist in diesen Fällen das Motiv der Mutter weniger eine Behandlung des Kindes als die Beschaffung von Beweismaterial gegen den Expartner. Dagegen muß sich die Analytikerin unter Verweis auf ihre therapeutische Neutralität unmißverständlich abgrenzen. Es ist schwierig, in der kinderanalytischen Praxis solchen Verdächtigungen gerecht zu werden, wenn die Hinweise der Mutter vage sind und während der Therapie keine Anhaltspunkte für sexuelle Übergriffe auftauchen. Auch aus den Äußerungen kleiner Kinder kann nicht unmittelbar auf Mißbrauch geschlossen werden, da sie besonders anfällig für Suggestionen sind und die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit noch nicht sicher ziehen können. Noch komplizierter wird eine Klärung der Fakten, wenn die Mutter in ihrer Kindheit selbst Opfer sexuellen Mißbrauchs geworden ist. Mütterliche und kindliche, echte und nur vermutete Mißbrauchserlebnisse können dann so heillos vermischt sein, daß jeder Versuch, die Realität zu ermitteln, scheitern muß. Im Zweifel hat oberste Priorität der Schutz des Kindes, der sich z.B. durch die Anbahnung eines betreuten Umgangs bei Besuchskontakten mit dem Vater garantieren läßt (Familienrichter können diesen bereits bei bloßem Verdacht auf sexuellen Mißbrauch verfügen, vgl. Willutzki, 2003).
In diesem Zusammenhang sind vom Patienten geäußerte Beschuldigungen bzw. wiedergefundene Erinnerungen an traumatisierende Übergriffe von Belang, an denen sich in den 90er Jahren eine z.T. leidenschaftlich geführte false-memory-Debatte entzündet hat (Überblick bei Loftus & Ketcham, 1997; Pezdek & Banks, 1996). Für den Psychoanalytiker nicht neu, belegen empirische Studien, daß amnestisch gewordene Traumata wiedererinnert (Brown et al., 1998), daß aber auch Pseudo-Erinnerungen durch suggestive Techniken „implantiert“ werden können (Hyman et al., 1995). „Die Gefahr iatrogen-therapeutischer Erinnerungsinduktion auf der Basis einer Bereitschaft zu therapeutischer Leichtgläubigkeit in Identifikation mit dem mutmaßlichen Opfer ist zweifelsohne gegeben“ (Naumann-Lenzen, 2008, S. 12 f.). Der Autor verweist in diesem Zusammenhang auf die von Brenneis (1994, zit. ebd.) geprägte Formel, „skeptisch zu glauben und empathisch zu zweifeln“. Etwas handfester formuliert es die Kindertherapeutin Weinberg, die gerade in Fällen des Verdachts auf sexuellen Mißbrauch resumiert, daß jeder, der „im Arbeitsgebiet ‚Sexueller Mißbrauch an kleinen Kindern’ arbeitet, damit leben muß, lange im Trüben zu fischen – nichts Genaues weiß man nicht.“ (2005, S. 190 f.)
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Nicht jede Traumatisierung führt zu klinisch relevanten Diagnosen. Jenseits der Ergebnisse, die in den Vorgesprächen, durch Tests und insbesondere durch die Anamneseerhebung gewonnen wurden, wird im Zuge der „evidenzbasierten Psychotherapie“ zunehmend gefordert, den klinischen Eindruck einer Diagnose (z.B einer PTSD) durch ergänzende strukturierte Interviews und Fragebögen zu erhärten.
Als erste Screening-Instrumente, um posttraumatische Symptome zu erfassen, eignen sich der Parent Report of Post-Traumatic Symptoms bzw. der Child Report of Post-Traumatic Symptoms, die von Greenwald & Rubin (199l) entwickelt wurden und in einer deutschen Übersetzung von Wiedemann (2000) vorliegen.
Unter den strukturierten Interviews, mit denen sich eine sichere posttraumatische Diagnose stellen läßt, finden sich für Kinder ab 7 Jahren und Jugendliche die von Steil & Füchsel (2006) veröffentlichten Interviews zu Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen (IBS-KJ).
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Unter den Fragebögen hat sich zur Erfassung einer PTSD der Child Posttraumatic Stress Disorder Reaction Index CPTSD-RI von Frederick et al. (1992) bewährt, der in einer deutschen Übersetzung von Landolt et al. (2003) vorliegt (ab 7 Jahren). Allerdings ermöglicht das Instrument keine exakte, kategoriale Diagnosestellung. Diese Voraussetzung erfüllt die erst seit kurzem vorliegende revidierte Version, der UCLA PTSD Reaction Index (Steinberg et al., 2004), dessen deutsche Übersetzung noch in Vorbereitung ist.
Je jünger die Kinder, desto schwieriger ist eine valide und reliable Erfassung posttraumatischer Symptome. Für Klein- und Vorschulkinder hat sich zur Diagnostik einer PTSD eine Fragenauswahl aus dem Elternfragebogen der Child Behavior Checklist/ 1 ½- 5 (CBCL/ 1 ½-5, Achenbach, 1991) als brauchbar erwiesen, die in deutscher Übersetzung vorliegt (Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 2002). Dehon & Scheeringa (2006) konnten zeigen, daß der Summenwert einer spezifischen Auswahl von 15 Fragen aus diesem Elternfragebogen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer PTSD in dieser Altersgruppe abbildet. Für Säuglinge und Kleinstkinder hat die Arbeitsgruppe ZERO to THREE (1999) ein Diagnostisches Klassifikationsmanual für 0-3jährige Kinder entwickelt, das auch die Diagnose einer posttraumatischen Stresstörung enthält (ebd., S. 12).
Für die Erfassung dissoziativer Symptome steht für Jugendliche ab 11 Jahren die Jugendlichenversion SDE-J des Heidelberger Dissoziations-Inventars von Brunner et al. (1999) zur Verfügung, eine deutsche Bearbeitung des Adolescent Dissociative Experiences Sc a le von Armstrong et al.(1997). Für Kinder wird ein Eltern-Fragebogen Child Dissociative Checklist (CDC, Putnam et al., 1993) verwendet, von dem mehrere Übersetzungen vorliegen, u.a. von Zaoui et al. (www.kindertraumainstitut.de). Beide Fragebögen sind Screening-Instrumente.
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Im vorangegangenen Kapitel A 1 erfolgte eine erste Annäherung an die Phänomenologie „früher“ Traumatisierung . Zunächst wurde eine Begriffsdefinition angegangen (Kap. A.1.1.) und angesichts der vielbeklagten Mehrdeutigkeit des psychoanalytischen „Trauma“-Begriffs auf die inzwischen schulenübergreifend akzeptierte Definition von Fischer & Riedesser (1999, S. 79) zurückgegriffen. Auf der Basis verschiedener Dimensionen des Trauma-Begriffs (Typ I vs Typ II, naturbedingt vs. „man made desaster“, direkt vs. indirekt) wurde schließlich „frühe“ Traumatisierung i.S. der vorliegenden Dissertation auf die Fälle chronischer, kumul a tiver und komplexer Typ II-/Beziehungs-Traumatisierung (Schore, 2001 a,b, 2003; Wöller, 2006) eingegrenzt. Unter zeitlichem Gesichtspunkt wurden Traumatisierungen auf die Phase der frühen Vulnerabilität von 0-3 Jahren mit „Ausläufern“ ins 4. und 5. Lebensjahr beschränkt, in welcher angesichts der neuronalen Plastizität und der gebrauchsabhängigen Gehirnentwicklung (Perry et al., 1998) sich schädigende Einwirkungen der zentralen Bindungsfiguren auf das in der Entwicklung befindliche Säuglingsgehirn besonders gravierend auswirken. Dieses Zeitfenster deckt sich weitgehend mit der Altersspanne, in der sich aus psychoanalytischer Sicht die frühe präödipale und ödipale Ich-Entwicklung vollzieht (vgl. Mahler et al., 1978; Tyson & Tyson, 1997). Die Formen „früher“ Traumatisierung umfassen zum einen die klassische Trias von Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch, aber auch Fälle chronischen Mangels an mütterlicher Responsivität und Kontingenz im affektiven Mutter-Säuglings-Dialog.
In Kap. A.1.2. wurde anschließend das von Fischer & Riedesser (1999) entwickelte Ve r laufsmodell psychischer Traumatisierung mit den Stationen der traumatischen Situation, des traumatischen Prozesses und der traumatischen Reaktion kurz vorgestellt. Da sich dieses Modell jedoch eher am klassischen Typ-I-Trauma im Erwachsenenalter orientiert, ist es für Fälle früher Traumatisierung (Typ II im frühen Kindesalter) nur bedingt aussagekräftig, da für eine Bewältigung dieses Traumatyps dem Opfer weder eine tröstende Bindungsfigur noch ein bereits entwickeltes sprachlich-symbolisches Repräsentationsformat zur Verfügung stehen. Aus diesem Grunde chronifiziert sich i.d.R. die traumatische Reaktion und führt zu klinischen Symtombildern.
Diesen klinischen Traumafolgestörungen war das nächste Kap. A.1.3. gewidmet. Nach einer kritischen Einschätzung der gängigen nosologischen Klassifikationsmanuale der ICD-10 bzw. des DSM-IV wurden die in diesen Manualen aufgeführten posttraumatischen Diagnosen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) und der Borderline-Störung als komplexe PTSD daraufhin untersucht, inwieweit sie in der Lage sind, klinische Erscheinungsbilder im Kindes alter zu erfassen. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß diese kategorialen Diagnosen, die für erwachsene Patienten entwickelt wurden, einerseits nicht ausreichen, um das gesamte posttraumatische Symptomspektrum im Kindesalter abzudecken, andererseits aber auch zu restriktiv definiert sind, so daß viele nachweislich traumatisierte Kinder die Störungskriterien der genannten Diagnosen nicht im geforderten Maße erfüllen (Scheeringa et al., 1995, Cook et al., 2005). Als vielversprechendste Diagnose, die v.a. der Entwicklungsdimension im Kindesalter gerecht wird, wurde die Dev e lopmental Trauma Disorder (van der Kolk et al., 2005) zitiert, die jedoch erst einen Diagnosevorschlag für das neue DSM-V darstellt.
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In Kap. A.1.3.3. wurden anschließend die diagnostischen Verfahren vorgestellt, mit denen im klinischen Alltag posttraumatische Störungsbilder bei Kindern valide und reliabel diagnostiziert werden können. Dazu gehören zum einen die Erhebung der Anamnese des Kindes und der seiner Eltern mit anschließenden projektiv-psychodynamischen Tests (Kap. 1.3.3.1.) sowie im Bedarfsfalle ergänzende strukturierte Interviews und Fragebögen (Kap. 1.3.3.2). Dabei sind jedoch Fälle erwiesener oder vermuteter traumatischer Erfahrungen von Fällen zu unterscheiden, in denen das Kind von den Eltern zunächst wegen anderweitiger Störungsbilder vorgestellt wird und die Analytikerin erst im Laufe der Anamnesenerhebung oder auch erst im Laufe der Therapie einen Verdacht auf frühe oder auch aktuelle Traumatisierung zu hegen beginnt. Gerade diese Verdachtsfälle sind besonders heikel und erfordern ein behutsames und besonnenes Vorgehen der Analytikerin.
Nach dieser ersten Annäherung an die deskriptive Phänomenologie früher Traumatisierung soll nun im folgenden Kapitel A 2 der Forschungsstand zur frühen Traumatisierung unter ätiologischem Gesichtspunkt weiter ausgebreitet werden. Anhand der Theorieg e schichte des psychoanalytischen Trauma-Begriffs (Kap. A.2.1.) werden zunächst die unterschiedlichen Akzentsetzungen der Triebtheorie, der Ich-Psychologie, der Objektbeziehungstheorie und der Selbstpsychologie in der Ätiopathogenese traumatischer Störungen nachgezeichnet. Im Anschluß daran soll der Frage nachgegangen werden, in welchem Verhältnis frühe Traumata zu unbewußten Konflikten stehen (Kap. A.2.2.). Denn erst wenn geklärt ist, worin sich Traumapathologie und Konfliktpathologie unterscheiden, können auch notwendige Modifikationen der psychodynamischen Behandlungstechnik begründet werden, die im Teil B dieser Arbeit entfaltet werden.
Die frühe Psychoanalyse Freuds begann als Trauma-Theorie. Freud nahm ursprünglich an, daß seine „hysterischen“ Patientinnen in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden seien, daß dieses „Verführungstrauma“ jedoch der Verdrängung anheimgefallen sei und nun, durch einen ähnlichen Vorfall im Erwachsenenleben aktualisiert, in verschlüsselter Form, der Konversionssymptomatik, wieder auftauche (Freud 1896).
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Auf dem Hintergrund der damaligen neurologischen Vorstellungen erklärt Freud die Pathogenese des Traumas aus der „verhinderten Abreaktion“ der durch das ursprüngliche Ereignis entstandenen „gesteigerten Erregungssumme“ des Nervensystems.
„Wenn also die Reaktion auf das psychische Trauma aus irgendeinem Grunde unterbleiben mußte, behält dasselbe den ursprünglichen Affekt, und wo sich der Mensch des Reizzuwachses nicht durch ‚Abreagieren’ entledigen kann, ist die Möglichkeit gegeben, daß das betreffende Ereignis für ihn zu einem psychischen Trauma wird.“ (Freud, 1893, S. 22) |
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Dabei ist es weniger die sexuell konnotierte aktuelle Erfahrung als Auslöser der Symptomatik, die die Patientin traumatisiert, sondern der durch diese Erfahrung i.S. der Nachträglichkeit reaktivierte sexuelle Mißbrauch in der Kindheit (Verführungssituation), die „assoziativ geweckte Erinnerung an frühere Erlebnisse“ (Freud, 1896, S. 58). Die dadurch einsetzende Reizüberflutung („gesteigerte Erregungsumme“) muß nun abgewehrt werden und kann sich lediglich kompromißhaft im Konversions-Symptom der „Hysterikerin“ entladen.
Bekanntlich kam es im Jahre 1897 zum Widerruf der Verführungstheorie durch Freud. Über die Gründe ist viel diskutiert worden (vgl. Bohleber, 2000; Hirsch, 1994; Krutzenbichler, 2000). Die Kehrtwendung Freuds, mit der er postulierte, daß die hysterische Neurose nicht durch den realen sexuellen Mißbrauch in der Kindheit der Patientin verursacht sei, sondern durch deren unbewußte ödipale Phantasien, wurde von den einen als „Anschlag auf die Wahrheit“ (Masson, 1984) geschmäht, von den anderen als die „Geburtsstunde der Psychoanalyse“ gefeiert. Denn erst Freuds Entdeckung, daß die erotischen Gefühle seiner Patientinnen einer „Übertragung auf den Arzt …durch falsche Verknüpfung“ (Freud 1895, S. 94) geschuldet seien und eigentlich einer Person aus der Vergangenheit der Patientin, nämlich ihrem Vater, gälten, sind die Begriffe der Übertragung und des Ödipu s komplexes zu verdanken.
Ohne dieser Kontroverse hier weiter nachzugehen (vgl. dazu die Diskussion bei Krutzenbichler, 2000), bleibt festzuhalten, daß der Streit über die Frage, ob das Trauma durch äußere unerträgliche Belastungen oder durch innere unerträgliche Phantasien entsteht, seit damals die gesamte Weiterentwicklung der psychoanalytischen Traumatheorie durchzieht. Der Psychoanalytiker Hirsch weist, wie auch andere Autoren (z.B. Bohleber, 2000) darauf hin, daß Freud trotz des Widerrufs in dieser Frage zeitlebens ambivalent blieb und v.a. in seinem Spätwerk (Freud, 1939) „realer traumatischer Einwirkung in der Kindheit doch wieder einen größeren Raum für die Pathogenese psychischer Störung (gibt).“ (Hirsch, 2004, S. 13).
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Inzwischen dürfte– nicht zuletzt durch die vom Feminismus angestoßene Mißbrauchsdiskussion der 70er und 80er Jahre – Konsens darüber bestehen, daß es primär die reale Traumatisierung in der Kindheit ist, die das Trauma verursacht. Dieses Trauma wird jedoch in der weiteren Entwicklung – so denn grundlegende Ich-Funktionen wie Bindungssicherheit, Affekt-regulation, Mentalisierung und Symbolisierung zumindest ausreichend entwickelt werden konnten - in vielfacher Weise symbolisch-phantasmatisch überarbeitet (vgl. dazu weiter unten Kap. A.2.2.).
Die ich-psychologischen Psychoanalytiker knüpfen in ihrer Theoriebildung weitgehend an das psychoökonomische Modell Freuds an. Dieser hatte, wie erwähnt, die traumatische Situation als Überwältigung des Ichs beschrieben, die sowohl durch innere übermäßige Triebregungen als auch durch äußere Ereignisse entstehen kann. Allerdings hat Freud die „Beziehung zwischen dem äußeren Ereignis und den inneren Vorgängen …nie genau festgelegt.“ (Bohleber, 2000, S. 801), was vielleicht an seiner o.e. Ambivalenz in dieser Frage lag.
Unter dem Eindruck der „Kriegsneurosen“ des Ersten Weltkriegs waren die pathogenen Wirkungen von Außenweltfaktoren wieder stärker in den Blickpunkt geraten, die den „Reizschutz“ des Ichs durchbrechen, ein als „reizaufnehmende Rindenschicht“ gedachter Schutz des Ichs „gegen übergroße Reizmengen“ (Freud, 1920, S. 237). Kommt es zu solchen „traumatischen Erregungen“, ist die „Überschwemmung des seelischen Apparates mit großen Reizmengen …nicht mehr hintanzuhalten“, und es gelingt dem Ich nicht, „die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden“ (ebd., S. 239).
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In Zusammenhang mit diesem psychoökonomischen Ansatz Freuds steht auch seine Erklärung des Wiederholungszwangs als Versuch, der traumatischen Situation doch noch Herr zu werden. Der Patient, der sein Trauma nicht erinnert, „reproduziert es … als Tat, er wiederholt es, ohne natürlich zu wissen, daß er es wiederholt …man versteht endlich, dies ist seine Art zu erinnern.“ (Freud, 1914, 209 f.). Auch wenn diese Sicht noch rein psychoökonomisch, d.h. ohne Bezug auf ein Objekt, argumentiert, worauf Hirsch hinweist (2004, S. 17), werden hier doch bereits die Aspekte der „Meisterung“, der „completion tendency“ (Horowitz ,1986) und des sprachlosen „Enactments“ (Jacobs, 1986) vorweggenommen.
In der postfreudianischen Ära haben ich-psychologische Analytiker das Traumakonzept Freuds weiter ausdifferenziert und den Boden bereitet für eine zunehmend objektbeziehungstheoretische Sicht des Traumas, wie sie schon früh von Ferenczi formuliert (s. dazu weiter unten) und von Balint, Fairbairn, Winnicott u.a. weiterentwickelt wurde.
Strittig debattiert wurde, ob das Trauma durch äußere oder innere Faktoren bzw. ihr Zusammenspiel bedingt sei, ob nur einmalige Schockerlebnisse oder auch weniger heftige, dafür chronische Belastungen traumatische Wirkung haben können sowie schließlich, ob Schock-Traumen nur im Erwachsenenalter oder auch im Kindesalter Ursache für traumatische Neurosen sein können.
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So prägte Sandler (1967) in Anlehnung an Freuds Konzept der Nachträglichkeit den Begriff des retrospektiven Traumas, womit er meinte, daß ein aktuelles Ereignis Erinnerungen an eine frühere Begebenheit weckt, deren Bedeutung erst dann erkannt und als traumatisch erlebt wird. Anna Freud (1968) favorisierte den Begriff der traumatischen Neurose, welche im Gegensatz zur durch innere Konflikte ausgelösten klassischen Psychoneurose als Versuch verstanden werden müsse, das traumatische Ereignis zu assimilieren. Lorenzer (1966) wollte als traumatische Neurose nur pathogene Erlebnisse im Erwachsenenalter akzeptieren, während er traumatischen Ereignissen im Kindesalter lediglich verstärkende Wirkung auf die phasenspezifischen Konflikte zuschrieb. Kardiner (1941) bezeichnete die traumatischen Neurosen der Kriegsveteranen als Physioneurosen und bahnte damit den Weg zu einer auch stressphysiologisch fundierten psychoanalytischen Psychotraumatologie (Fischer & Riedesser, 1999).
Traumatisierungen im Kindesalter wurden phänomenologisch schon früh von psychoanalytischen AutorInnen beschrieben, auch wenn die Zeit noch nicht reif war, sie begrifflich als solche zu erfassen. Berühmt sind die Beobachtungen von Anna Freud (Freud & Burlingham, 1943) an Säuglingen und Kleinkindern in den englischen Kriegskinderheimen der Hampstead Nurseries, in denen Kinder über längere Zeiträume von ihren Eltern getrennt leben mußten. Die heftigen Gefühle von Ambivalenz, Wut und Verzweiflung, welche die Kinder bei den Besuchen ihrer Eltern im Kinderheim durchlitten, interpretierte sie jedoch noch als Ausdruck ödipaler Aggression und korrespondierender Schuldgefühle.
Ein weiterer Pionier der Säuglings- und Kleinkindbeobachtung ist René Spitz. Kurz nach Kriegsende begann er, anhand von Beobachtungen in Waisenhäusern und Findlingsheimen die zerstörerische Wirkung mütterlicher Deprivation, z.T. auch filmisch, zu dokumentieren und beschrieb die Phänomene der anaklitischen Depression (1946 a), die sich bei extremen emotionalen Mangelzuständen zu schweren Heimschäden, dem sog. Hospit a lismus, steigern können (1946 b).
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Möglicherweise unter dem Einfluß dieser Beobachtungsstudien wiesen ich-psychologische Autoren zunehmend auf die traumatisierende Wirkung chronischer Belastungszustände im Säuglingsalter hin. Kris (1956) entwickelte als einer der ersten in Abgrenzung zum einmaligen Schock-Trauma den Begriff des Belastungstraumas (strain trauma). Darunter verstand er eine unterschwellige Dauerbelastung, der der Säugling ausgesetzt ist durch Verlassenheits- und Trennungserfahrungen, die sein kindliches Ich überfordern und überwältigen. Hoffer (1952) spricht in diesem Zusammenhang von stillem Trauma (silent trauma). Khan (1963) prägte den Begriff des kumulativen Traumas, das verursacht wird durch das wiederholte Versagen der Mutter, für ausreichenden Reizschutz des Säuglings zu sorgen. Müller-Pozzi (1984) schließlich thematisierte den zerstörerischen Einfluß chronischer Traumatisierung auf die gesamte Entwicklung des Kindes (Entwicklungstrauma).
„Mit all diesen Untersuchungen rückten die Objekte des Kindes und die Beziehung zu ihnen in den Mittelpunkt der Betrachtung“ (Bohleber, 2000, S. 804), womit sich der Fokus der psychoanalytischen Forschung weg von einer psychoökonomischen Betrachtungsweise zunehmend hin zur Qualität der Objektbeziehungen zwischen traumatisierendem Täter und kindlichem Opfer verschob.
Als einer der ersten, der die traumatogene Wirkung der sozialen Umgebung auf das Kind, d.h. die traumatische Objektbeziehung thematisierte, war Sándor Ferenczi. In seinem berühmten Vortrag „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind – Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft“ (1933) knüpft er an die Freud’sche „Verführungstheorie“ an und postuliert, „daß das Trauma, speziell das Sexualtrauma, als krankmachendes Agens nicht hoch genug veranschlagt werden kann.“ (ebd. S. 517). Der inzestuöse Vater stülpt dabei dem ihn zärtlich liebenden Kind seine erwachsene Leidenschaft über und stiftet dadurch beim Kind nicht nur Sprach-, sondern v.a. Gefühlsverwirrung. „Erholt sich das Kind nach solcher Attacke, so fühlt es sich ungeheuer konfus, eigentlich schon gespalten, schuldlos und schuldig zugleich, ja mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne.“ (ebd., S. 519). Hier nimmt Ferenczi wichtige Erkenntnisse späterer Traumaforschung vorweg: die Phänomene der Spaltung, des traumatischen Schuldgefühls und das Zweifeln an der eigenen Wahrnehmung mit den Extremfolgen von Depersonalisation und Derealisation. Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Entdeckung des zentralen traumaspezifischen Abwehrmechanismus der Ident i fikation mit dem Aggressor bzw. der Introjektion des Angreifers, zu der sich die kindlichen Opfer angesichts ihrer ungeheuren Angst und Hilflosigkeit in der traumatischen Überwältigungssituation gezwungen sehen:
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„Doch dieselbe Angst … zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers, verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapschisch, statt extra … der Angriff (hört) als starre äußere Realität zu existieren auf, und in der traumatischen Trance gelingt es dem Kind, die frühere Zärtlichkeitssituation aufrechtzuerhalten. Doch die bedeutsamste Wandlung, die die ängstliche Identifizierung mit dem erwachsenen Partner im Seelenleben des Kindes hervorruft, ist die Introjektion des Schuldgefühls des Erwachsenen …“ (ebd., S. 518 f.) |
Hier klingen weitere Befunde aktueller Traumaforschung an: die Einfühlung in die Bedürfnisse des Täters, wie sie im Begriff der Rollenumkehr und der Parentifizierung beschrieben wurden, die Introjektion der Schuld des Täters sowie die „traumatische Trance“, die an das nu m bing bzw. den Zustand der peritraumatischen Dissoziation erinnern. Mit dem Hinweis, daß die Beziehung des Kindes zur Mutter „nicht intim genug (ist), um bei ihr Hilfe zu finden“ (ebd., S. 519), ist auch die Bindungsstörung, die fehlende Zeugenschaft und das silent-partner-Syndrom angesprochen, das auf die komplexe Psychodynamik der übrigen Mitglieder der Mißbrauchsfamilie verweist. „Das Schlimmste ist wohl die Verleugnung, die Behauptung, es sei nichts geschehen, es tue nichts weh“ (1931, S. 505).
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Es waren v.a. seine behandlungstechnischen Experimente, die Ferenczi in der psychoanalytischen Community in Ungnade fielen ließen (Dupont, 1972). Dennoch ist unübersehbar, daß Ferenczi mit seiner Betonung der äußeren traumatisierenden Umweltbedingungen und deren Internalisierung, mit der er an die frühe, von Freud widerrufene „Verführungstheorie“ anknüpfte, in Dissidenz zum Freud’schen Postulat des „Ödipuskomplex als Kern der Neurose“ und des Primats der inneren Triebkonflikte geraten mußte.
Neben Melanie Klein waren es vor allem die Vertreter der britischen „Independent Group“ (Balint, Fairbairn, Winnicott), die den Fokus auf die Objektbeziehungen richteten. Melanie Klein hat selbst kein eigenes Trauma-Konzept ausgearbeitet und auch das zu ihrer Zeit vieldiskutierte Werk von Otto Rank („Das Trauma der Geburt“, 1924) in ihren theoretischen Überlegungen nicht berücksichtigt. Fairbairn kommt in der Analyse der „Kriegsneurosen“ nach dem Ersten Weltkrieg (1943) zu dem Schluß, daß äußere Überwältigungen nur dann eine Neurose auslösen könnten, wenn sie an innere unbewußte Konflikte rühren. Auf die kriegsbedingte Regression des Soldaten auf ein infantiles Niveau („Militär-Ich“) hatte schon Simmel (1919) hingewiesen.
Winnicott hat sich zwar nicht dezidiert zum Thema „Trauma“ geäußert, jedoch ist sein Konzept des falschen Selbst (1960 b) von späteren Autoren in diesen Zusammenhang gestellt worden. Das „falsche Selbst“ entsteht durch empathisches Versagen der Mutter, die ihrem Kind Wünsche und Intentionen unterstellt, die nicht seinen, sondern ihren eigenen Bedürfnissen entsprechen. Indem das Kind nun in einer Art Rollenumkehr diese Erwartungen der Mutter/der Umwelt zu erfüllen trachtet, entwickelt es ein „falsches Selbst“, das es von seinem „wahren Selbst“ abspaltet. Als den Mechanismus der Implantation eines „falschen Selbst“ haben Gergely & Watson (1996, 1999) die pathologische Variante markierter, aber inkongruenter mütterlicher Affektspiegelung identifiziert, durch die dem Säugling ein „falscher“, weil mütterlicher Affekt „untergeschoben“ wird (vgl. dazu ausführlich Kap. A.3.1.2.3.). Fonagy et al. (2004) wiederum haben darauf aufbauend Winnicotts „falsches Selbst“ mit ihrem Begriff des „fremden Selbst“ verknüpft, das auf dem Wege traumatischer Überwältigung durch die mißhandelnde Bindungsfigur als unmarkierter und inkongruenter Affekt von Wut oder Verachtung dem Kind „eingepflanzt“ wird.
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Die am klarsten ausgearbeitete Theorie des Traumas aus der Sicht der Objektbeziehungstheorie hat Balint in seinem inzwischen klassisch zu nennenden Artikel „Trauma und Objektbeziehung“ (1970) vorgelegt. Balint weist darauf hin, daß „das ursprüngliche Traumakonzept der Psychiatrie … nach dem Modell des ‚Eisenbahnunglücks’ gebildet (war), d.h. nach einem Ereignis, das unerwartet von außen hereinbricht und von Objekten der Umwelt ausgeht, mit denen das Individuum vorher kaum Kontakt hatte.“ (1970, S. 351). Die klinisch-psychoanaly-tische Erfahrung belege aber, daß es v.a. die primären ödipalen Objekte seien, die für das Kind traumatogen wirken. Balint postuliert eine dre i phasige Struktur des Traumas: In der ersten Phase ist die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen grundsätzlich vertrauensvoll. In der zweiten Phase „tut der Erwachsene ganz gegen die Erwartungen des Kindes etwas höchst Aufregendes, Erschreckendes oder Schmerzhaftes..“ (ebd.). Dabei kann es sich um „übermäßige Zärtlichkeit oder Grausamkeit“ sowie „Zurückweisung und tiefe Enttäuschung“ handeln. Im Grunde genommen beschreibt Balint damit die klassische Trias von Mißbrauch, Mißhandlung und (emotionaler) Vernachlässigung. Das Besondere an Balints Theorie ist jedoch der Hinweis, daß diese zweite Phase für sich allein nicht zwingend traumatogen wirkt. Erst durch die dritte Phase entstehe die eigentliche Traumatisierung, nämlich dann, wenn das Kind sich dem Erwachsenen wieder nähert, sei es aus dem Wunsch, „das erregende, leidenschaftliche Spiel fortzusetzen“, sei es, weil es aus „Schmerz und Kummer“ über eine vorangegangene Zurückweisung „noch einmal versucht, Verständnis, Beachtung und Trost zu erlangen. In jedem Falle kommt es häufig zu einer völlig unerwarteten Abweisung.“ (ebd., S. 353 f.). Balint fokussiert also die Traumatisierung durch den Vertrauensbruch und den abrupten Beziehungsabbruch und kommt damit heutigen selbstpsychologischen Positionen nahe, die die „Unterbrechung der Selbstobjektbeziehung“ (Kohut, 1973, 1979) oder die „Unterbrechung der Intersubjektivität“ (Schore, 2007) als das traumatogene Agens betonen.
Wie erwähnt, war es Ferenczi, der in der „Sprachverwirrung“ (1933), d.h. noch vor Anna Freud (1936), den Begriff der Identifikation mit dem Aggressor formulierte – ein Mechanismus, der als traumatypischer Bewältigungsprozeß von zentraler Bedeutung ist. In der Folgezeit haben sich psychoanalytische Autoren bemüht, diesen Mechanismus weiter zu spezifizieren und ihn mit der Übernahme der Schuld des Täters in Verbindung zu bringen: Während Identifikation eine reife Form der Verinnerlichung bedeutet (d.h. ausgewählte Aspekte des Objekts betrifft), ist unter Introjektion eine frühe Form der Verinnerlichung des Objekts als ganzem zu verstehen, das aufgrund der noch nicht vollständig vollzogenen Differenzierung von Selbst und Objekt auch nicht in die Selbstrepräsentanz integriert werden kann und wie ein Fremdkörper in der Psyche weiterlebt (vgl. Mentzos, 1993, S. 44).
Eine gelungene Über-Ich-Bildung läßt sich im weiteren Verlauf dann als organische Assimilation des Introjekts zu einem Teil der Selbstrepräsentanz beschreiben. Dabei findet eine selektive Identifikation statt, bei der wie in einer Art psychischer „Verdauung“ „gute“ Anteile des Introjekts verinnerlicht und „böse“ Anteile ausgestoßen werden. Ist aber der Angriff des Objekts zu massiv wie etwa bei Beziehungstraumatisierungen durch physischen und sexuellen Mißbrauch, aber auch bei Folter- und KZ-Opfern (vgl. Ehlert & Lorke, 1988; Grubrich-Simitis, 1979), so bleibt das „böse“ Introjekt, das Täterintrojekt, „unverdaut“ und entwickelt sich zu einem feindlichen inneren Verfolger.
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Unter dem Druck des verfolgenden Introjekts auf das Ich kommt es nun zu einem Prozeß der Identifikation mit dem Introjekt, um die Spannung zwischen Über-Ich und Ich zu vermindern. „Die Diskrepanz zwischen dem fremden Introjekt und dem Ich wird verringert, ebenso auch das Schuldgefühl als Ausdruck dieser Diskrepanz, da das Ich sich dem Introjekt unterwirft, es sich zu eigen macht.“ (Hirsch, 1994, S. 100). Die so vom Täter übernommenen Schuldgefühle führen nun zu einer Wendung der Aggression gegen das eigene Selbst als Selbst-Haß und Selbst-Verachtung, die zentral vom Über-Ich des Opfers ausgehen, das sich in einen „grausamen Henker“ verwandelt. „Die Grausamkeit von Trauma und Mißhandlung wird nun zum Teil des Über-Ich – parallel zur Wendung der Wut, des Neides und der Verachtung gegen die eigene Person.“ (Wurmser, 2000, S. 369). Dadurch entstehen massive Scham- und Schuldkonflikte, die zu narzißtischen und masochistischen Teufelskreisen führen (ebd.), allen voran der Konflikt zwischen Trennungsschuld und Abhängigkeitsscham sowie dessen Varianten der verschiedenen Loyalitätskonflikte im mißbräuchlichen pseudo-ödipalen familiären Dreieck.
In der Reihe objektbeziehungtheoretischer Autoren, die sich mit der Psychopathologie traumatisierter Patienten auseinandersetzen, darf der Name Otto Kernbergs (1985, 1995) nicht fehlen, auch wenn er die traumatogenen Bedingungen ganz im Sinne der klassischen Analyse eher der Innenwelt als der Außenwelt des Patienten zurechnet. Kernbergs Theorie der Borderline-Persönlichkeitsstörung hat die Möglichkeit eröffnet, Borderline-Patienten, die bis dato als unanalysierbar galten, psychoanalytisch zu behandeln (Kernberg, 1978, 1993). Allerdings führt er die chronische Wut und Feindseligkeit von Borderline-Persönlichkeiten regelmäßig auf deren konstitutionell bedingte erhöhte Aggressionsbereitschaft zurück. Erst in letzter Zeit scheint er angesichts neuerer Forschungsbefunde den Einfluß traumatisierender frühkindlicher Beziehungserfahrungen zumindest in Anteilen anzuerkennen (2000).
In den psychoanalytischen Arbeiten zur Genese traumatischer Störungbilder ist die Wirkung des Täterintrojekts als Täter-Opfer-Umkehr und als intergenerationale Transmission des Traumas immer wieder beschrieben worden und unter dem Begriff des cycle of abuse in die Mißhandlungs- und Mißbrauchsliteratur eingegangen (Überblick bei Egeland et al., 2001; Oliver, 1993). In der Forschung zum sexuellen Mißbrauch wurde dieser Transmissionsprozeß bei Männern unter dem Schlagwort „Abused/Abuser“ (Garland & Dougher, 1990) abgehandelt, da v.a. bei männlichen Sexualstraftätern ein hoher Anteil von sexueller Viktimisierung in deren Kindheit belegt ist (Burton, 2003; Dhawan & Marshall, 1996). Bei Frauen mit sexueller Gewalterfahrung in der Kindheit stellte sich dagegen eher ein „Abused/Abused“-Modell heraus, demzufolge sie ein mehrfach erhöhtes Risiko haben, als Erwachsene sexuell gewalttätige Partner zu wählen (Briere & Runtz, 1987; Murphy, 1991) oder anderweitig erneut Opfer sexueller Gewalt zu werden (Russell, 1986; Wyatt et al, 1992).
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Sowohl die Tendenz zur Täter-Opfer-Umkehr als auch die zur Reviktimisierung wurden klassischerweise mit dem Wiederholungszwang (Freud, 1916/17) bzw. mit Masochismus-Theorien des „Weibes“ erklärt, die allerdings i.d.R. auf einer nur deskriptiven Ebene verharrten. Neuere psychoanalytische Ansätze weisen zum einen auf verminderte Wahrnehmung von Warnhinweisen aufgrund dissoziativer Zustände (Cloitre 98) hin, zum anderen auf die Funktion von Trauma-Wiederholung als Affektregulation (Aufsuchen von Gewalthandlungen, um innere Leere zu füllen oder aggressive Impulsüberflutungen abzuwehren, vgl. Wurmser, 1998) bzw. als Selbstregulation (Selbsterniedrigung als Objektvergrößerung, vgl. Stolorow, 1981) hin. Andere Autoren fokussieren die Regression des erwachsenen Opfers auf eine symbiot i sche Beziehungsebene (Ehlert & Lorke, 1988) und heben die Bedeutung des Täters als schützende Bindungfigur in existentiellen Angst-Situationen hervor (Gerisch, 1996). Narzißmustheoretische Analytiker betonen kindliche Omnipotenzphantasien, die im Akt der Unterwerfung ein illusionäres Gefühl magischer Kontrolle über das Objekt suggerieren (vgl. Novick & Novick, 1987). „Letztlich geht es um die Erschaffung eines mächtigen und idealen, sicherheit- und schutzgebenden väterlich-mütterlichen Objekts, mit dem eine symbiotische Beziehung aufrechterhalten und Trennungsangst vermieden werden kann.“ (Wöller, 2006, S. 459).
Spiegelt sich in der Täter-Opfer-Umkehr bei Männern und der Reviktimisierungstendenz bei Frauen das grundlegende patriarchale Herrschaftsverhältnis zwischen den Geschlechtern wider, so sind Frauen doch nicht nur Opfer. Frauen als Täterinnen sexuellen Mißbrauchs sind in letzter Zeit stärker ins Interesse der Forschung gerückt (Eliott, 1995; Heyne, 1993), und sie werden auch indirekt zu Täterinnen, wenn sie als silent partner nicht in der Lage sind, ihre Kinder gegen sexuelle Übergriffe zu schützen. Diese Art der intergenerationalen Transmission traumatischer Erfahrung läßt sich psychoanalytisch als mütterliche Reinszenierung des Traumas im Sinne des Wiederholungszwangs verstehen, wobei das kindliche Opfer angesichts von Rollenumkehr und Parentifizierung nicht selten gezwungen ist, eine durchaus aktive Rolle in dem Geschehen zu übernehmen. Wird das unbewältigte Trauma der Mutter nämlich im Erwachsenenleben durch eine „konfliktparallele Situation“ (Fischer & Riedesser, 1999, S. 285) reaktiviert, wenn z.B. weil die Tochter das Alter erreicht, in dem die Mutter als Kind mißbraucht wurde, kommt es bei der Mutter nicht selten zu einem Andrängen unbewußter Erinnerungen an den eigenen sexuellen Mißbrauch und dadurch zu einer Externalisierung des traumatischen Introjekts. Dabei projeziert die Mutter die durch Identifikation mit dem Introjekt entstandenen „schmutzigen“, verführerischen, verachteteten Selbstanteile via projektiver Identifikation (Klein, 1946; Sandler, 1988) auf die Tochter und bekämpft sie dort aggressiv, um sich selbst von ihnen zu befreien. Die Tochter versucht ihrerseits i.S. der Rollenumkehr, sich sorgend in die Mutter einzufühlen, um deren Defekt auszufüllen (Grubrich-Simitis, 1979) und die Mutter von diesen unerträglichen Selbstanteilen zu entlasten. Sie benimmt sich z.B. „schmutzig“-lolitahaft und leistet durch dieses unbewußte Agieren i.S. von Enactment (Jacobs, 1986) bzw. Handlungsdialog (Klüwer, 1983) einen eigenen Beitrag zur Reinszenierung des Mißbrauchs mit einer dazu motivierten Vaterfigur. Diese Prozesse laufen unbewußt und nonverbal ab, so daß sie einer symbolisch-sprachlich vermittelten Kommunikation zwischen den Beteiligten entzogen sind.
Zu einem besseren Verständnis dieses erhöhten Reviktimisierungsrisikos von Kindern sexuell mißbrauchter Mütter können auch bindungstheoretische Überlegungen beitragen. Forschungen ergaben, daß nicht nur Kinder von aktiv mißhandelnden Müttern, sondern auch Kinder von solchen Müttern, die unter einem eigenen unbewältigten Trauma leiden, in der Mehrzahl der Fälle ein desorganisiertes Bindungsmuster ausbilden. Es führt zu grundlegenden psychosozialen Kompetenzdefiziten sowie gestörter Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit (vgl. dazu Kap. A.3.2.2. sowie A.4.2.). Derart bindungsgestörte Kinder sind einem erhöhten sexuellen Reviktimisierungsrisiko ausgesetzt, da es ihnen an einer sicheren Bindung, einem unterstützenden Familienklima sowie ausreichenden sozialen und kognitiven Bewältigungsstrategien mangelt, um Mißbrauchssituationen zu erkennen, diese gegebenenfalls zu verlassen oder mit Hilfe familiärer Unterstützung aufzudecken und zu beenden.
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In ähnlicher Weise knüpft knüpft auch die Forschergruppe um Peter Fonagy an bindungstheoretische Überlegungen zur intergenerationalen Transmission von Traumata an. Die Autoren konzentrieren sich auf die Mentalisierungsfunktion, d.h. die „Fähigkeit, sich selbst und anderen intentionale mentale Zustände…zuzuschreiben, um Handlungen und Verhaltensweisen zu erklären“ (2004, S. 262). Bindungstraumatisierungen, so die Autoren, blockieren die Entwicklung der Mentalisierungsfunktion und verhindern „jede Möglichkeit, die ursprüngliche traumatische Erfahrung zu verarbeiten oder sich späterer Angriffe zu erwehren.“ (2004, S. 386, zum Mentalisierungskonzept vgl.ausführlich A.4.)
Schließlich ist die intergenerationale Transmission von Traumata auch das Thema von psychoanalytischen AutorInnen, die sich mit den Folgen des Holocaust in der zweiten und dritten Generation beschäftigen (Grubrich-Simitis, 1979; Kestenberg, 1989; Kogan, 1990), worauf im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden soll (ausführlicher Überblick bei Bohleber, 2000).
Weitere, in der psychoanalytischen Literatur immer wieder genannte Abwehr- bzw. Bewältigungsmechanismen traumatischer Erfahrungen sind die Spaltung bzw. die Dissoziation. Schon Ferenczi (1985, S. 31) wies auf Spaltungsprozesse in der traumatischen Situation hin (Fragmentation), Shengold (1979) unterscheidet eine vertikale Spaltung von der horizontalen Spaltung (der Verdrängung), um durch Kompartmentierung das Unerträgliche in Schach zu halten. Wurmser spricht von der Spaltung des traumatisierenden Täters in eine Angstfigur und eine Schutzfigur, was auf dem Wege der Projektion zu einer „Polarisierung des ganzen Selbst- und Welterlebens in absolute Gegensätze … von Gut und Böse“ führt (1987, S. 297)
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Unter Dissoziation wird das „Abschalten“ von Affekten, insbesondere aber auch des Körper-Selbst, gemeint (Hirsch, 1994), das numbing (Krystal, 1978), das bei Holocaust-Überlebenden auch als Muselmann-Syndrom bezeichnet wird. Entfremdungszustände können sich auf die Wahrnehmung der umgebenden Realität (Derealisation) oder der eigenen Person und des Körpers (Depersonalisation) beziehen.
Körper-Selbst-Dissoziationen, Selbstverletzung, psychogener Schmerz und andere Formen der Somatisierung wurden von zahlreichen Autoren beschrieben (Überblick bei Hirsch, 1989 a,b), wobei die Körperdissoziation als Objektersatz und Grenzfunktion des eigenen Körpers interpretiert wird (Hirsch, 2004, S. 71 ff). Auf Sexualisierung von unerträglichen Affektspannungen, Angst und Aggression, weisen Wurmser (2000) und Hirsch hin (2004, S. 53), als typische Folgen von Extremtraumatisierung werden Affektentleerung und Konkretisierung genannt (Bergmann, 1995).
In der Selbstpsychologie Kohuts (1973, 1979) werden narzißtische Traumata als traumatische Frustrationen der Selbstobjekt-Bedürfnisse des Kindes durch die Eltern konzipiert.
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Kohut postuliert eine eigenständige Entwicklungslinie des Selbst, das aus zwei Polen besteht, einer Vorstellung eigener Grandiosität (Größenselbst, 1973, S. 43) sowie einer idealisierten Objektvorstellung (idealisierte Elternimago, ebd.). Um diese narzißtischen Konfigurationen entwickeln und später modulieren zu können, braucht das Kind Eltern, die seine grandios-exhibitionistischen Impulse und seine Idealisierungswünsche empathisch-spiegelnd beantworten. Das Kind erlebt in diesem frühen Entwicklungsstadium, so Kohut, die Eltern nämlich noch nicht als von ihm getrennte Objekte, sondern als Teil seines Selbst, als sog. Selbst-Objekte.
Die empathische Reaktion der Selbstobjekte ist insofern von entscheidender Bedeutung, als laut Kohut das Kind erst durch den „Glanz im Auge der Mutter“ („ich bin vollkommen!“, 1973, S. 45) bzw. durch das Verschmelzen mit dem idealisierten Objekt („Du bist vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir!“, ebd.) ein Gefühl für Kohärenz und Wertschätzung seines eigenen Selbsts entwickeln kann. Mit zunehmendem Alter und zunehmender Reife lernt das Kind dann idealiter durch sukzessive, altersadäquate Versagungen der Eltern (sog. optimale Frustrationen, 1987, S. 148 ff.), die Ich-Funktionen, die die Eltern für das Kind ausgeübt haben, nun selbst zu übernehmen (sog. umwandelnde Verinnerlichung, 1973, S. 193).
Reagieren die Eltern jedoch unempathisch, d.h. mit phaseninadäquaten Kränkungen des Größenselbst bzw. der idealisierten Eltern-Imago (chronische Beschämung und Entwertung und/oder kalte Zurückweisung), erlebt das Kind diese nicht nur als „Kränkungen“ sondern viel tiefgehender als Traumatisierung, als Verlust des Selbst, was zu archaischen Fixierungen mit entsprechenden Pathologien des Selbst führt (1973, S. 46 f.). Dabei bezeichnet – ähnlich wie in der Ich-Psychologie - das Trauma bei Kohut keine spezifische Qualität, sondern eine Quantität der alters- und phaseninadäquaten Überstimulierung (z.B. durch selbstobjekthafte Instrumentalisierung des Kindes durch die Eltern, die mit sexualisierter Intimität einhergeht, vgl. Kohut, 1979, S. 270 f.) oder Unterstimulierung (z.B. durch emotionale Vernachlässigung, ebd.). Allerdings führt auch die Vernachlässigung durch das Ausbleiben von empathischer Reaktion letztlich ebenfalls zu überstimulierender Erregung aufgrund von Fragmentierungsangst. „Für Kohut handelt es sich beim Trauma um ein psychoökonomisches Konzept, das sich auf die affektive Intensität bezieht … Trauma bedeutet Überstimulierung …Frustrationen nehmen dann traumatische Ausmaße an, wenn die Toleranzgrenze der kindlichen Psyche überschritten wird oder wenn Gratifikationen unvorhersehbar sind.“ (Siegel, 2000, S. 61).
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Ein solcher Trauma-Begriff steht jedoch in Gefahr, seine Spezifität zu verlieren „und von anderen pathogenen Ursachen und schwerwiegenden Frustrationen oder psychischem Stress nicht mehr adäquat zu unterscheiden“ zu sein (Bohleber, 2000, S. 829). So wird denn auch aus dem eigenen Lager der Selbstpsychologie bedauert, daß „in der Begriffsgeschichte des Traumas ... eine Tendenz zur Ausweitung festzustellen (ist), die den Begriff Trauma immer unspezifischer werden ließ.“ (Lehner, 2006, S. 26). Auch wenn diese Kritik nachzuvollziehen ist, ist es doch das unbestrittene Verdienst der Selbstpsychologie, durch die theoretische und klinische Erforschung der eigenständigen Entwicklungslinie des Selbst das Augenmerk auf die frühen präverbalen affektiven Austauschprozesse zwischen Mutter und Säugling bzw. Analytiker und Analysand gerichtet zu haben. Durch die Sensibilisierung für diese interaktive mutuelle Regulation bahnte die Selbstpsychologie den Weg, die neueren Befunde der Säuglings- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie für die Psychoanalyse fruchtbar zu machen. Dadurch wurde es auch möglich, die Prozesse früher Traumatisierung und deren klinische Manifestationen, die für die vorliegende Arbeit von besonderer Relevanz sind, besser zu verstehen.
Störungen und Entgleisungen des präverbalen affektiven Dialogs zwischen Mutter und Kind (Borderline-Dialog, Milch, 1998) können so als Traumatisierungen der Mutualität verstanden werden, durch die „das aversive Motivationssystem soweit gestört (wird), daß Haß und Destruktivität zum vorherrschenden Motiv werden, um den … Verletzungen des Selbst eine kompensatorische Vitalisierung im Erleben von eigener Macht entgegensetzen zu können.“ (ebd., S. 19). Lichtenberg (1990) führt klinische Beobachtungen an erwachsenen Borderline-Patienten auf Interaktionserfahrungen zurück, die durch „klebrige, klammernde Reizbarkeit“ und die Antizipation intrusiver und aversiver Beziehungsangebote geprägt sind. Sie können sich in der Behandlung als Modellszenen (Lichtenberg, 1989) wiederholen, in die der Analytiker nicht selten durch ein intersubjektives Enactment (Jacobs, 1986) verwickelt wird. Diese Erfahrungen in der analytischen Situation führten zu einer verstärkten Rezeption neurobiologischer Befunde nicht nur bezüglich der spezifischen Störungen der Informationsvera r beitung während traumatischer Überwältigung („sprachloses Entsetzen“), sondern auch bezüglich expliziter und impliziter Gedächtni s systeme (vgl. Kap. A.3.3.3.1.). Die Befunde erweiterten die Vorstellungen vom psychoanalytischen Unbewußten (vgl.z.B. Stolorow & Atwood, 1989; Stolorow et al., 2002), konzipierten das analytische Geschehen mehr und mehr als Ko-Konstruktion (Beebe & Lachmann, 2004, S. 55) und richteten den Blick in der Behandlungstechnik auf nicht de u tende Mechanismen (Stern et al., 1998 b,c). Neurobiologische Forschungsergebnisse zu den Prozessen früher interaktiver Selbst- und Affektregulation beeinflußten ebenso behandlungstechnische Überlegungen (Beebe & Lachmann, 1994, 2004) wie Befunde zu den Wirkungen früher Traumatisierung im Säuglings- und Kleinkindalter (Bindungs- und Beziehungstrauma, vgl. Schore, 2001 a,b, vgl. auch Kap. A.3.3.2.).
Will man nun die bis hierher dargestellte Theoriegeschichte des psychoanalytischen Traumabegriffs abschließend würdigen, so läßt sich eine Entwicklung beschreiben, die von einem ursprünglich psychoökonomisch konzipierten Traumabegriff in der Freudschen Trieblehre und der postfreudianischen Ich-Psychologie hin zu einem Verständnis traumatischer Erfahrungen führt, das die Objektbeziehungen bzw. die traumatisch frustrierten Selbstobjektbedürfnisse in den Mittelpunkt stellt. Insofern wiederholt sich auch in der Geschichte des Traumabegriffs die historische Entwicklungslinie der Psychoanalyse von einer Ein-Personen- zur Zwei-Personen-Psychologie (Balint).
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Dennoch stellt sich die Frage, ob damit das historisch ältere triebtheoretische und ich-psychologische Modell der „Reizüberflutung“ obsolet geworden ist. In seinen Überlegungen zur einer Integration der Trauma-Modelle weist Bohleber darauf hin, daß die „überwältigende vernichtende Angst“ des Traumaopfers zwar immer in der Beziehung zu einem äußeren oder inneren Objekt auftritt, daß andererseits diese Angst nur mit psychoökonomischen Termini zu beschreiben ist, weshalb er resumiert:
„Aus der Sicht der Metapsychologie benötigt die psychoanalytische Traumatheorie deshalb beide Modelle, sowohl das hermeneutisch-objektbeziehungstheoretische als auch das psychoökonomische. Auf der psychischen Erfahrungsebene betont das psychoökonomische Modell, für das paradigmatisch das Schock-Trauma steht, die Erfahrung der Überwältigung und eines Überschusses an Gewalt, Angst und Erregung, die seelisch nicht zu binden sind … Objektbeziehungstheoretische Modellvorstellungen stellen mit dem Zusammenbruch der inneren tragenden Objektbeziehungen die gänzliche Verlassenheit und die Unterbrechung jeglicher affektiver Bindung und innerer Kommunikation in den Mittelpunkt, was zur Folge hat, daß das Trauma narrativ nicht integriert werden kann.“ (2000, S. 828). |
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In dieser integrierenden Sicht deckt sich die psychoanalytisch-hermeneutische Traumatheorie auch mit neurobiologisch-experimentellen Befunden, welche die Übererregung und die Unmöglichkeit, die sensorischen Reize, die in der traumatischen Situation auf das Individuum einstürzen, raum-zeitlich zu kontexutalisieren, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen (vgl. dazu ausführlich Kap. A.3.3.2.).
Eine weitere, für die vorliegende Arbeit relevante Frage bezieht sich auf das Verhältnis von Trauma und Konflikt. Die Psychoanalyse begann zwar als Trauma-Theorie, identifiziert aber traditionell den unbewußten Konflikt als Ursache psychischer Erkrankung. Es ist daher im nächsten Kapitel zu prüfen, ob traumatische Erfahrungen und konflikthafte Dynamiken interagieren und ob diese Interaktion auch im Falle früher Traumatisierung gegeben ist.
Auf den Zusammenhang von Trauma und Konflikt hat besonders Wurmser aufmerksam gemacht:
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„Je schwerer die Traumatisierung, desto globaler die traumatogenen Affekte und desto schroffer die Konflikte, damit auch desto umfassender sowohl Abwehr wie Abgewehrtes, desto archaischer und grausamer das Über-Ich, desto intensiver die masochistischen und narzißtischen Phantasien und Neigungen, und desto stärker schließlich die Grundzüge des neurotischen Prozesses von Zwanghaftigkeit, Polarisierung und Absolutheit (oder Globalität).“ (Wurmser, 2000, S. 362). |
Es ist jedoch zu fragen, ob dieser von Wurmser und anderen Psychoanalytikern postulierte Zusammenhang von Trauma und Konflikt auch für die Fälle früher Traumatisierung gilt.
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Dazu sollen zunächst einige Thesen formuliert werden, die in den nachfolgenden Unterkapiteln näher ausgeführt und begründet werden:
Frühe Traumatisierung findet, wie in Kap. A.1.1.2.1. definiert, in den ersten besonders vulnerablen drei Lebensjahren statt mit „Ausläufern“ ins 4. und 5. Lebensjahr. Deshalb trifft sie nicht, wie ein spätes Mono-Trauma (Unfall, Vergewaltigung o.ä.), auf ein mehr oder weniger „reifes“ Ich mit entsprechend entwickelten Ich-Funktionen und sprachlichem Repräsentationsformat. Stattdessen wird durch den chronischen Verlauf der frühen Traumatisierung der Entwicklungsprozeß der Ich-Funktionen des Kleinkindes, v.a. die Entstehung der Symbolisierungsfähigkeit, ständig sabotiert. Manche psychoanalytische Autoren wie z.B. Ahrbeck (2007 b) beklagen in kritischer Auseinandersetzung mit der Säuglingsforschung die Verflüchtigung des Konflikthaften aus der Lebenserfahrung des Säuglings. In Fällen früher, chronischer Traumatisierung ist dies, im Gegensatz zur „späten“ Traumatisierung, jedoch gut begründet. Aufgrund der unvollendeten basalen Ich-Entwicklung, v.a. der durch die Beziehungstraumatisierung mangelhaft entwickelten Symbolisierungsfähigkeit, kann nämlich konflikthaftes Erleben im Falle früher Traumatisierung psychisch noch nicht repräsentiert werden. Psychoanalytische Kontroversen in der Frage, ob traumatisierte Patienten in klassischer Manier übertragungs- und konfliktorientiert behandelt werden sollten, wie dies z.B. Ehlert-Balzer (1996) vertritt, oder ob ein solches Vorgehen bei diesen Patienten kontraindiziert ist (vgl. Reddemann & Sachsse, 1998), könnten also daraus resultieren, daß nicht sorgfältig genug zwischen „früher“ und „später“ Traumatisierung differenziert wird.
Im Falle „später“ Traumatisierung wird zwar das traumatische Geschehen selbst aufgrund der Überwältigung der Ich-Grenzen des Opfers ebenfalls nicht als Episode symbolisch repräsentiert, sondern traumatypisch nur körpernah als fragmentierte Sinneseindrücke. Bei entwickelter Symbolisierungsfähigkeit kann dem Opfer jedoch nachträglich zumindest in Ansätzen eine symbolisch-phantasmatische Überarbeitung des traumatischen Geschehens gelingen (Bohleber, 2000). Dies ist grundsätzlich auch möglich im Falle früher Mono-Traumatisierung (Typ I), sofern das Kind zum einen eine altersgemäße rudimentäre Symbolisierungsfähigkeit entwickelt hat und zum anderen nachträglich in der Symbolisierung und Bewältigung des Mono-Traumas durch „haltende“, tröstende und emotional responsive Bindungsfiguren unterstützt wird. Klassisches Beispiel hierfür ist der frühe Objektverlust (z.B. Tod der Mutter) in einem nicht-traumatisierenden, entwicklungfördernden familiären Milieu.
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Im Gegensatz dazu ist die nachträgliche symbolische Überarbeitung im Falle früher chr o nischer Beziehungs-Traumatisierung (Typ II), dem Thema dieser Arbeit (vgl. Kap. A.1.1.2.), so gut wie unmöglich. Denn anders, als die kognitive Entwicklungspsychologie behauptet, ist die Genese der Symbolisierungsfunktion nicht allein eine Frage der biologischen Reifung, sondern, wie die Psychoanalyse seit jeher betont, auch der emotionalen Qualität der Mutter-Kind-Beziehung. Die Symbolisierungsfähigkeit des früh und chronisch traumatisierten Kindes kann sich daher nicht „an der Traumatisierung vorbei“ entwickeln, sondern wird durch diese grundlegend gestört. Deshalb kann das Kind auch nach dem Spracherwerb und nach einr Erholung von den traumatischen Erfahrungen (wenn es z.B. in eine Pflegefamilie kommt), diese nicht nachträglich symbolisieren. Das unsymbolisierte, lediglich somatosensorisch repräsentierte Trauma kann sich deshalb auch nicht mit posttraumatischen Entwicklungskonflikten (Loslösung, Triangulierung, Ödipalität) verschränken. Diese Entwicklungskonflikte sind nämlich mangels Symbolisierungsfähigkeit ebenfalls psychisch nur rudimentär repräsentiert und als konflikthafte Strebungen intrapsychisch kaum erlebbar.
Es sind also verschiedene Fragen zu klären: Zunächst, ob „Trauma“ und „Konflikt“ in gleicher Weise symbolisch repräsentiert werden (Kap. 2.2.2. und 2.2.3.). Wenn dies für Traumata nicht zutrifft, ist in einem zweiten Schritt zu fragen, ob das nicht repräsentierte Trauma wenigstens nachträglich symbolisch-phantasmatisch überarbeitet werden kann. Hierbei ist zwischen „früher“ und „später“ Traumatisierung sorgfältig zu differenzieren (Kap. 2.2.4.). Schließlich ist zu prüfen, auf welchem Wege das Kind die Symbolisierungsfähigkeit erwirbt und ob maligne frühe Beziehungserfahrungen dabei eine maßgebliche Rolle spielen (Kap. 2.2.5.)
„Konflikt beinhaltet das Zusammentreffen gegensätzlicher Positionen innerhalb einer Person, den inneren Widerstreit von Motiven, Wünschen, Bedürfnissen, Werten und Vorstellungen.“ (Schüßler, 2000, S. 385). Während Freud noch den „Ödipuskomplex als Kern der Neurose“ im Zentrum der Pathologie sah, verlagerte sich in der Ich-Psychologie und v.a. der Objektbeziehungstheorie das Interesse auf die präödipale Phase, d.h. die frühe Mutter-Kind-Beziehung, in der die ich-strukturellen Voraussetzungen für ein Konflikterleben erst geschaffen werden. Denn der Konflikt zwischen Wunsch und Versagung ist „zu Beginn immer ein äußerer, der im Laufe der Entwicklung verinnerlicht wird und in einen innerseelischen Konflikt übergeht.“ (Schüssler, 2000, S. 387). Voraussetzung für diesen Verinnerlichungsprozeß, die Verwandlung in intrapsychisches Erleben eines Konflikts, ist die erfolgreiche Entwicklung grundlegender Ich-Funktionen wie Urvertrauen, Objektkonstanz, ausreichende Angst- und Frustrationstoleranz, annähernd integrierte Selbst- und Objektrepräsentanzen, reifere Abwehrmechanismen, insbesondere die Fähigkeit zur Verdrängung (Mertens, 1995). Liegen diese Bedingungen nicht oder nur unzureichend vor, können Konfliktkonstellationen intrapsychisch nur rudimentär repräsentiert werden. „Bei diesen strukturellen Störungen bestehen Defizite in der Entwicklung des Ichs und des Selbst, Defizite, die dazu führen, daß klar abgegrenzte innerpsychische Konflikte mit dynamischer Wirksamkeit nur zum Teil bestehen“ (Schüßler, 2000, S. 388). Voraussetzung für ein Konflikterleben ist ein hinreichend entwickeltes, kohärentes Ich, das in der Lage ist, äußere Beziehungserfahrungen zwischen Selbst und Objekt als Selbst-Objekt-Repräsentanzen mit den dazugehörigen jeweiligen affektiven Färbungen (Selbst-Objekt-Affekt-Einheiten, vgl. Kernberg, 1970, S. 25) in innere Erfahrung zu verwandeln.
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Diese Beeinträchtigung des Konflikt-Erlebens, unter dem ich-strukturell gestörte Patienten (sog. „Frühstörungen“) leiden, trifft in viel höherem Maße für traumatisierte Patienten zu. Das Trauma selbst nämlich zeichnet sich dadurch aus, daß die Überwältigung des Ichs in der traumatischen Situation dessen synthetisierende Funktionen überfordert, so daß keine Repräsentanz der traumatischen Erfahrung gebildet werden kann. Das Trauma ist „ein Erlebnis, das von solcher Intensität ist, daß es die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten des Betreffenden überschreitet.“ (Ehlert-Balzer, 2000, S. 727). Auch wenn die traumatische Situation durch widersprüchliche Impulse geprägt ist, werden diese vom Opfer nicht intrapsychisch als konflikthaft erlebt, weil im Moment der traumatischen Überwältigung das Geschehen selbst intrapsychisch nicht repräsentiert werden kann.
Manche Autoren versuchen nun – vielleicht, weil die Konflikttheorie Freuds als Traumatheorie begann - Trauma und Konflikt zusammenzudenken. So geht z.B. Wurmser davon aus, daß „in der traumatischen Situation ein nicht zu bewältigender äußerer Konflikt zwischen Selbst und Umwelt deutlich wird, wobei sich dieser Konflikt zwischen Selbst und Außenwelt zu einem bewußten, aber unlösbaren Konflikt verwandelt“ (1996, S. 5, zit. nach Barwinski Fäh, 2001, S. 27). Auch Ehlert-Balzer (2000, S. 730) behauptet, „daß die Gegenüberstellung von Trauma und Konflikt nicht gerechtfertigt ist, da das Trauma immer einen – für das Ich unlösbaren – Konflikt konstituiert“. Allerdings wird hierbei übersehen, daß dieser Konflikt immer erst sekundär aus dem Trauma resultiert. Dies gibt auch Deserno (2003) zu bedenken. Dieser Autor weitet allerdings die traumatische Situation auf innere Faktoren wie Phantasien und Triebimpulse aus, postuliert folglich, daß „auch anhaltende entgegengesetzte Strebungen, wie es bei neurotischen Konflikten der Fall ist, traumatisierend sein (können)“ und leistet m.E. damit der vielbeklagten inflationären Verwendung des „Trauma“-Begriffes Vorschub. Andererseits konzediert er aber, „daß die traumatische Situation selbst kein Konflikt ist, auch wenn in ihrer Folge unlösbare Konflikte entstehen können“ (ebd., S. 39).
Die entscheidende Differenz zwischen Trauma und Konflikt ist also die mangelhafte innere symbolische Repräsentation der traumatischen Erfahrung. Dies wird besonders deutlich durch die Art der traumatischen Abwehr: Sie richtet sich nicht wie die neurotische Abwehr gegen ein Innen, gegen unbewußte (Trieb-)Wünsche, sondern gegen ein Außen, gegen die als bedrohlich wahrgenommene Wirklichkeit, in Form von Dissoziation, Depersonalisation, Derealisation (vgl. Kap.A.3.3.3.). Es kommt zur partiellen oder auch totalen Amnesie des traumatischen Geschehens, das dann nur noch in Alpträumen, Körpererinnerungen, Enactments inszeniert werden kann. Oder aber es kommt zur Affektabspaltung, d.h. das traumatische Erlebnis wird zwar erinnert, aber nicht in seiner affektiven Valenz repräsentiert.
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„In jedem Fall bleibt der traumatisierende Realitätsaspekt psychisch unverarbeitet, d.h. nicht repräsentiert oder symbolisiert. Damit sind die Voraussetzungen eines inneren Konflikts nicht gegeben. Der in der traumatischen Situation erlebte Konflikt zwischen Selbst und Umwelt wird immer wieder in der Außenwelt konkretisiert, was zu einer Kette sich wiederholender Retraumatisierungen führt. Der Konflikt besitzt weiterhin Realitätscharakter.“ (Barwinski Fäh, 2001, S. 29) |
Deserno spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Lorenzer (1970) vom Prozeß der Desymbolisierung bei Konflikten versus einer grundlegenden Beeinträchtigung der gesamten psychischen Repräsentationsfunktion beim Trauma:
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„Die Wirkung des Traumas auf die Funktion der Repräsentation (als Oberbegriff für Mentalisierung und Symbolisierung) ist qualitativ von der eines nicht adäquat lösbaren Konfliktes verschieden. Ein Trauma behindert die Repräsentationsfunktion grundsätzlich ..., während die neurotische Konfliktlösung in Teilbereichen zur Desymbolisierung führt.“ (Deserno, 2003, S. 55). |
Die mangelhafte Symbolisierung des traumatischen Materials, die grundlegende Beschädigung der Symbolisierungsfähigkeit des Patienten und die daraus folgende Notwendigkeit, behandlungstechnisch primär an der Symbolisierungsfunktion zu arbeiten, wird deshalb besonders von Klinikern betont: „Eine psychoanalytische Psychotherapie Traumatisierter wird heute die Wiedergewinnung der Symbolisierungsfähigkeit, die das Trauma beeinträchtigt oder zerstört hatte, in das Zentrum rücken.“ (Hirsch, 2004, S. 6).
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Die psychoanalytische Theorie mangelhafter symbolischer Repräsentation traumatischer Erfahrung wird durch neurobiologische Befunde zur Gedächtnisspeicherung empirisch gestützt: Im Falle konflikthafter Erfahrungen sind die Erlebnisinhalte i.d.R. ursprünglich integriert prozessiert und im deklarativ-episodischen Gedächtnis abgespeichert und werden erst sekundär via neurotischer Verdrängung unbewußt. Wie in Kap. A.3.3.3. noch ausführlich zu zeigen sein wird, kommt es im Falle traumatischer Erfahrung aufgrund des erhöhten Erregungsgrades und der damit einhergehenden exzessiven Ausschüttung von Stresshormonen jedoch bereits primär zu einer unvollständigen Enkodierung der Information. Die neurobiologischen Befunde konvergieren dahingehend, daß die affektiven, kognitiven, perzeptuellen und sprachlichen Reize, die in der traumatischen Situation auf das Individuum einstürzen, nicht zu einer ganzheitlichen Episode integriert und im deklarativ-autobiographischen Gedächtnis abgelegt werden können (van der Kolk, 2000 a,b). Das hirnorganische Zusammenspiel von Amygdala, Hippocampus, Thalamus und Frontalhirn wird durch den organismischen Ausnahmezustand („hyperarousal“) derart gestört, daß die Reize nur in fraktionierten Sinnesmodalitäten (optisch, akustisch, olfaktorisch, gustatorisch, haptisch) abgespeichert werden. Bildgebende Verfahren belegen, daß durch die primär rechtshemisphärische Prozessierung traumatischer Erfahrung u.a. das linkshemisphärische Sprachzentrum (Broca-Areal) blockiert wird (Rauch et al., 1996), was die sprachliche Repräsentation des Erlittenen unmöglich macht („sprachloses Entsetzen“).
Die sprachliche Repräsentation ist jedoch Voraussetzung dafür, das Erlebte als Teil der eigenen Biographie abrufbar im Gedächtnis abzulegen, um es dann auch im neurotischen Sinne verdrängen zu können. Stattdessen kommt es bei traumatischer Überwältigung zu partiellen oder totalen Amnesien bzgl. des traumatischen Erlebnisses und/oder zu wiederkehrenden intrusiven Erinnerungen, den „flash backs“, die durch innere oder äußere Reize ausgelöst werden..
Das Trauma ist also, wie dargestellt, im Gegensatz zum Konflikt wegen der Überwältigung des Ichs in der traumatischen Situation nicht symbolisiert. Die Frage ist nun, ob es nicht dennoch möglich ist, daß das Individuum nach einer Erholungsphase das Trauma nachträglich sekundär symbolisch überarbeitet. So könnte sich das Trauma mit bewußten und unbewußten Phantasien und Konflikten verschränken und entsprechend verdrängt werden und wäre dann mit einer psychoanalytisch-aufdeckenden, konfliktorientierten Behandlungstechnik gut zu bearbeiten. In diesem Sinne argumentiert Bohleber (2000, S. 833): „Traumatisierungen unterliegen zwar spezifischen psychodynamischen Einschränkungen und Operationen, aber ihre Abspaltung schließt sie nicht ganz aus dem Fluß des seelischen Geschehens und von der Überformung durch bewußte und unbewußte Phantasien aus.“
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Diese Überzeugung teilen viele klassische Psychoanalytiker. Sie gehen wie selbstverständlich davon aus, daß die für eine symbolische Überarbeitung des Traumas nötige Symbolisierungsfunktion zumindest ausreichend entwickelt ist. Paradigmatisch für diese Art der symbolischen Überarbeitung steht für sie das späte Trauma, das das Individuum nach Abschluß seiner basalen Ich-Entwicklung, also in der Latenz, der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter erleidet. In der Regel behandeln sie das klassische Typ-I-Trauma (z.B. eine Vergewaltigung, vgl. die Falldarstellungen bei Ehlert-Balzer, 1996). Wenn sie doch eine chronische Typ-II-Traumatisierung in Betracht ziehen (wie z.B. im klassischen Fall eines anhaltenden Vater-Tochter-Inzests im Latenzalter, vgl. Hirsch, 1994, 2004), dann liegen beim Opfer aber ausreichend entwickelte Ich-Funktionen vor, die eine nachträgliche symbolische Repräsentation der traumatisierenden Beziehungserfahrungen grundsätzlich erlauben.
Auch das von Fischer und Riedesser (1999) entwickelte Modell des traumakompensator i schen Schemas ist unausgesprochen am Paradigma des späten Traumas (Typ I oder Typ II) orientiert. Dieses Schema, das, wie in Kap. A.1.2.3. ausgeführt, den Versuch darstellt, ein Trauma kompromißhaft zu bewältigen (z.B. „Tu immer, was Mama sagt, dann kann dir nichts passieren!“) kann im weiteren Verlauf mit Entwicklungsaufgaben, die sich dem Kind nach Erleiden des Traumas stellen (z.B. der Loslösung von der Mutter), in Konflikt geraten und zur Symptombildung (z.B. Trennungsangst) führen. Allerdings zeigt sich auch hier, wie in Kap. A.1.2.3. erwähnt, daß die Autoren unhinterfragt von einer ausreichend entwickelten Ich-Struktur mit funktionierender Abwehr und der Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation des traumatischen Erlebnisses ausgehen.
Von den bisher genannten psychoanalytischen Autoren wird also zur frühen Typ-II-Traumatisierung nicht explizit Stellung genommen. Wenn man, wie die kognitive Psychologie, davon ausginge, daß sich die Symbolisierungsfähigkeit weitgehend unabhängig von der Interaktion mit der Umwelt im Zuge kognitiver Reifung von selbst entwickelt, könnte man argumentieren, daß traumatisierende Beziehungserfahrungen auf diese Entwicklung keinen nennenswerten Einfluß haben. Das erlittenene frühe Typ-II-Trauma könnte demgemäß nach dem Spracherwerb auch sekundär symbolisch überarbeitet werden und sich mit späteren Entwicklungskonflikten (Loslösung, Triangulierung, Ödipalität) verschränken. Wenn diese Argumentation zuträfe, so wäre es möglich, das nachträglich symbolisierte und evtl. sekundär verdrängte Trauma mit einer klassisch-psychoanalytischen Deutungstechnik zu bearbeiten.
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Deshalb soll im Folgenden zur Frage der Möglichkeit einer sekundären symbolischen Überarbeitung des frühen Typ-II-Traumas der Prozeß des Erwerbs der Symbolisierungsfähigkeit aus psychoanalytischer Sicht genauer untersucht werden. Dabei ist zu klären, ob sich traumatische Beziehungserfahrungen auf diesen Prozeß destruktiv auswirken.
Der Weg der Entwicklung, auf dem ein Säugling lernt, seine sensomotorischen Erregungszustände in reife, symbolische Repräsentationen von Fühlen und Denken zu überführen, ist ein klassisches Feld psychoanalytischer Theoriebildung. Ihr ging es dabei in Abgrenzung zur kognitiven Entwicklungspsychologie stets darum, diesen Prozeß nicht nur als Ergebnis kognitiver Reifung zu betrachten, sondern ihn in Abhängigkeit von einer förderlichen Umwelt zu konzipieren.
Die psychoanalytischen Theorien zur Entwicklung der Symbolfunktion, die sich leider einer z.T. inkonsistenten Begrifflichkeit bedienen, gründen grob auf drei Theorietraditionen: der ich-psychologischen (Überblick bei Speidel, 1978), der strukturalistischen (Hock 2000) sowie der objektbeziehungstheoretischen (Bion, 1962; Segal, 1957). Vor allem die kleinianischen ObjektbeziehungstheoretikerInnen (Überblick bei Löchel, 2000) haben sich auf diesem Feld der Symbolbildung hervorgetan.
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Der Kleinianer Bion (1959, 1962) spricht nicht von Symbolisierung, sondern von einer The o rie des Denkens. Er geht davon aus, daß die frühe Beziehung des Säuglings zur Mutter von projektiver Identifikation geprägt ist. Der Säugling projeziert demnach überwältigende unerträgliche Zustände in den psychischen „Container“ der Mutter, die er noch nicht als ein von ihm getrenntes Objekt wahrnimmt. Diese unerträglichen, „undenkbaren“ Zustände nennt Bion (1962) „Beta-Elemente“, die die Mutter durch ihr träumerisches Ahnungsvermögen (sog. „rêverie“) aufnimmt, metabolisiert und als nun erträgliche Erfahrungen, sog. „Alpha-Elemente“, dem Säugling zurückgibt . Dieser verinnerlicht dabei nicht nur die Alpha- Elemente, sondern mit ihnen auch sukzessive die sog. „Alpha-Funktion“ der Mutter, d.h. die Fähigkeit, „Undenkbares“ in „Denkbares“ zu verwandeln. Dieser Prozeß ist weitgehend identisch mit der von Bion beschriebenen mütterlichen Containing-Funktion.
Die Neo-Kleinianerin Löchel (1997) versucht in einem Überblicksartikel zur Genese der Symbolfunktion eine Synthese der psychodynamischen und kognitiven Aspekte der Symbolisierung und benennt fünf Funktionen bzw. Leistungen des Symbols:1. die Funktion des Übergangsobjekts, 2. die Funktion der Verneinung, 3. die Überwindung der Sensomotorik durch die Repräsentation, 4. die Überwindung der projektiven Identifikation sowie 5. die Funktion der intrapsychischen Triangulierung.
In dem kontinuierlichen Prozeß der Entwicklung der Symbolfunktion ist die Erschaffung eines Übergangsobjekts durch den Säugling (etwa eine Schmusedecke, die er zur Selbstberuhigung bei Abwesenheit der Mutter benutzt, vgl. Winnicott, 1953) eine erste Vorform der Symbolbildung. Sie ist jedoch deshalb „noch kein Symbol, da dieses … die Kenntnis des Unterschieds zwischen Symbol und Symbolisiertem und die Vorstellbarkeit des Symbolisierten voraussetzt. Diese Differenzierung aber setzt erst im Laufe des zweiten Lebensjahres ein …“ (Löchel, 1997, S. 256).
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Die Funktion der Verneinung, die sich nach Spitz & Cobliner (1965) um den 15. Lebensmonat herum zeigt, ist ein nächster Schritt in diesem Prozeß. Sie ist zunächst die Imitation eines konkreten mütterlichen Verbots, das anschließend i.S. der Identifikation mit dem Aggressor verinnerlicht und auf analoge Situationen übertragen wird. Darin zeigt sich, daß das Kind „die Bedeutung der wahrgenommenen Geste von der Bindung an eine konkrete Situation ablöst und verallgemeinert, … (weshalb) das verneinende Kopfschütteln bzw. das Wort ‚nein’ ein wirkliches Symbol, ja sogar einen ersten Begriff dar(stellt).“ (Löchel, 1997, S. 258).
Ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit ist der Übergang von der Sensomotorik zur Repräsentation, der sich nach Piaget zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat vollzieht. Damit wird auch das sog. „Als-ob-Spiel“ möglich, das sich dadurch auszeichnet, daß das Kind gegenüber einer anwesenden Person auf etwas Abwesendes anspielt. Löchel weist aber kritisch darauf hin, daß Piaget gerade die Funktion der anwesenden Person nicht weiter untersucht, wie er auch die Symbolentwicklung ausschließlich unter dem kognitiven Reifungsaspekt betrachtet. Deshalb zieht die Autorin die psychodynamischen Konzepte der projektiven Identifikation von Melanie Klein (1946) sowie die Theorie der Symbiose und Individuation von Margaret Mahler (Mahler et al., 1978) heran, denen die Auffassung gemeinsam ist, „Symbolisierung diene der Verarbeitung von Wünschen, Ängsten und Konflikten, die sich als psychischer Niederschlag der kindlichen Erfahrung mit den primären Beziehungspersonen ergeben“ (Löchel, 1997, S. 268).
Löchel weist darauf hin, daß eine zentrale Voraussetzung für erfolgreiche Symbolisierung die Überwindung der projektiven Identifikation ist, die eine Trennung in Selbst und Objekt, in Innen und Außen ermöglicht. Denn solange der Säugling noch nicht zwischen Selbst und Objekt unterscheiden kann, solange er das mütterliche Objekt in „gut“ und „böse“ spalten muß, um dessen Frustrationen zu ertragen, befindet er sich auf dem Niveau der symbolischen Gleichsetzung (Segal, 1957), die der kleinianischen „paranoid-schizoiden“ Stufe der Objektbeziehung entspricht und die den Unterschied zwischen Symbol und Symbolisiertem noch nicht kennt. Hat der Säugling in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres dann nach Melanie Klein die sog. „depressive Position“ erreicht, in der das Objekt zunehmend als Ganzes, als befriedigend und frustrierend zugleich und als getrennt vom Ich erlebbar wird, gelingt ihm nach Segal der Übergang zur symbolischen Re p räsentation. Dadurch wird der Säugling fähig, die Abwesenheit des Objekts zu ertragen.
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Schließlich bezieht sich Löchel in ihrem Überblick zur Genese der Symbolisierungsfähigkeit auf die Theorie der Symbiose und Individuation von Margaret Mahler, um die Bedeutung der intrapsychischen Triangulierung für die Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit hervorzuheben. Nach Mahler gerät das Kind mit ca. 18-24 Monaten in die sog. „Wiederannäherungskrise“, in der es nach dem narzißtischen „Höhenrausch“ der Übungsphase schmerzlich seine Grenzen spürt und nun wieder die tröstende Nähe zur Mutter sucht, dabei aber heftige „Angst vor der Wiederverschlingung“ erlebt. Löchel vertritt nun die These, „daß es vor allem die Symbolisierung ist, auf die es bei der Lösung der Wiederannäherungskrise ankommt.“ (1997, S. 279). Denn die Symbolisierung ermöglicht eine intrapsychische Triangulierung, mit der das Kind sich von der Mutter ab- und dem Vater zuwenden kann, ohne daß dadurch die Beziehung zur Mutter verloren geht, da diese Beziehung symbolisch in der Beziehung des Vaters zur Mutter repräsentiert ist (sog. frühe Triangulierung, Übersicht bei Buchholz, 1990; Ermann, 1995; Schon, 1995).
Der hier nur sehr verkürzt dargestellte Überblick zur Entwicklung der Symbolisierungsfähigkeit nach Löchel stellt, wie erwähnt, den Versuch dar, kognitionspsychologische und psychodynamische Aspekte der Symbolisierung zu integrieren. Allerdings ist in jüngerer Zeit nicht nur der Mahlerschen Theorie zu Symbiose und Individuation in einigen Punkten widersprochen worden (vgl. dazu Kap. A.3.1.4.). Auch die kleinianischen Konzepte der frühen Spaltung und der frühen Phantasiebildung im Säuglingsalter sind in ihren entwicklungspsychologischen Prämissen durch die Erkenntnisse der Säuglingsforschung und der Kognitionspsychologie in Frage gestellt worden (Übersicht bei Dornes, 1997, Kap.3). Jüngere, empirisch-entwicklungspsychologisch orientierte Psychoanalytiker wie Peter Hobson (1993, 2002) oder Peter Fonagy (2003 a, Fonagy et al., 2004) ziehen in ihren Überlegungen zur Genese der Symbolisierungsfähigkeit deshalb die Befunde der Kleinkindforschung sowie der modernen kognitiven Psychologie heran.
Anders als die klassische Psychoanalyse, die die Symbolisierungsfähigkeit aus dem Versuch des Kindes erwachsen sieht, die schmerzhafte Abwesenheit des mütterlichen Objekts zu ertragen, betont Hobson die Bedeutung der emotionalen Präsenz der Fürsorg e person für die Entstehung der Symbolfunktion des Kindes. Denn erst durch deren emotionale Teilnahme am Erleben des Säuglings entwickle sich über trianguläre Interaktion zwischen Mutter, Säugling und gemeinsam wahrgenommenen Objekten die Symbolisierungsfähigkeit des Kindes: Zeigt der Säugling mit ca. neun Monaten („Neun-Monats-Revolution“, Tomasello, 1995, 1999) nicht mehr auf einen Gegenstand, um ihn von der Mutter lediglich gereicht zu bekommen (sog. „protoimperatives Zeigen“), sondern, um mit der Mutter den Affekt über diesen Gegen-stand, z.B. Begeisterung, zu teilen (sog. „protodeklaratives Zeigen“), so findet ein „meeting of minds“ statt. Teilt die Mutter den Affekt des Säuglings jedoch nicht und zeigt etwa eine ängstliche Miene, weil der Gegenstand auch gefährlich ist, wie z.B. ein aufregend blitzendes, aber scharfes Messer, übernimmt der Säugling auf dem Hintergrund seiner emotionalen Verbundenheit mit der Mutter deren Einstellung zu dem Gegenstand („social referencing“, Klinnert et al., 1986). Damit entdeckt er aber auch, daß Gegenstände für andere Menschen eine andere Bedeutung haben können als für ihn selbst. Über diese trianguläre Interaktionserfahrung mit dem „Dritten“, hier dem Gegenstand, beginnt für Hobson das symbolische Denken. Der Säugling bemerkt, daß „Bedeutung“ nicht etwa ein natürlicher Bestandteil von Objekten ist, sondern die jeweilige Perspektive von Subjekten auf eben diese Objekte darstellt. „Auf diese Weise lernt das Kleinkind den Unterschied zwischen der Welt-wie-sie-ist und dem Wesen von Personen, die potentiell unterschiedliche psychische Orientierungen gegenüber dieser Welt haben, kennen. Hier setzt eine Unterscheidung zwischen ‚Gedanken’ … und ‚Ding’ ein.“ (Hobson, 2000, S. 258). Im nächsten Schritt lernt dann das Kleinkind, die Bedeutung von Gegenständen abzulösen und auf andere Gegenstände zu übertragen (symbolisches „Als-ob-Spiel“, also z.B. ein Bauklötzchen als Auto mit „Brumm! Brumm!“ über den Boden zu schieben). „Es dauert nicht lange, bis das Kind … seine eigene Fähigkeit als bedeutungsübertragende Person ausprobiert, indem es Objekten im kreativen symbolischen Spiel neue, personenabhängige Bedeutungen verleiht.“ (ebd., S. 258).
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Peter Fonagy und Mitarbeiter (2004) haben die Gemeinsamkeit der Entwicklung von Symbolisierung und Mentalisierung i.S. einer „theory of mind“ im Blick und konzipieren den Erwerb der Symbolisierungsfähigkeit, wie in Kap. A.4.1. noch genauer zu zeigen sein wird, über die mütterliche Affektspiegelung. Danach ist es die „markierte“ Spiegelung des kindlichen Affekts durch die Elternfigur, die der Säugling in deren Gesicht erblickt und die er via „referentieller Entkoppelung“ und „referentieller Verankerung“ auf sich selbst bezieht (s. Kap. A.3.1.1.2.). Diese „markierte“ Spiegelung präsentiert dem Säugling eine sekundäre symbol i sche Repräsentanz seines primären Affektzustandes. Das Besondere an dieser Affektspiegelung besteht bei Fonagy darin, daß diese Spiegelung, z.B. die der Angst des Kindes, nicht exakt ist, sondern immer auch mit einem kontrastierenden, i.d.R. beruhigenden, aber auch z.B. „spöttischen“ Affekt „gemischt“ wird. Diese spezifische Differenz ermöglicht nicht nur Affektregulation, sondern auch Symbolisierung, weil „die elterliche Reaktion, die identisch und doch nicht identisch mit der des Kindes ist, die Möglichkeit bietet, eine (symbolische) Repräsentation zweiter Ordnung der Angst zu erzeugen. Das ist der Anfang der Symbolbildung.“ (Fonagy, 2003 a, S. 181 f.). Neben Symbolisierung wird durch mütterliche Affektspiegelung auch Mentalisierung möglich: „Indem der Säugling die mit primären Selbstzuständen assoziierten ‚markierten‘ sekundären Repräsentanzen internalisiert, erwirbt er einen generalisierten Kommunikationscode ‚markierter‘ Ausdrücke...So entsteht ein neuer ‚Als-ob‘-Modus des Mentalisierens und Kommunizierens über Affektzustände ..“ (Fonagy et al., 2004, S. 209).
Es wird deutlich, daß die Autoren die Begriffe „Mentalisierung“ und „Symbolisierung“ nicht genau voneinander abgegrenzen: „Bei der Mentalisierung handelt es sich um eine spezifische Symbolfunktion…“ (Fonagy, 2003 a, S. 175). Diese begriffliche Unschärfe wird u.a. von Lecours & Bouchard kritisiert, die unter „Symbolisierung“ eine „superordinate function“ verstehen, „that links the already formed mental representations that constitute its basic material.“ (1997, S. 855). Der Begriff der „Mentalisierung“, wie ihn Fonagy verwende, beschreibe dagegen, so Lecours & Bouchard, lediglich „an individual’s capacity to form a theory of mind … certainly a crucial characteristic of the developing levels of symbolic mental operations.“ (ebd., S. 858).
Auch wenn sich „Symbolisierung“ und „Mentalisierung“ i.S. einer „theory of mind“ insofern unterscheiden, als sich „Mentalisierung“ als eine besondere „Anwendungsform“ von Symbolisierung in einem bestimmten Bereich (nämlich dem eigener und fremder mentaler Prozesse) bezeichnen ließe, werden beide Prozesse in der frühkindlichen Entwicklung doch durch die mütterliche Affektspiegelung angestoßen. Dieser Prozeß der mütterlichen Affektspiegelung setzt sich nach Fonagy auch im Kleinkindalter fort, wenn die Mutter beim symbolischen Als-ob-Spiel ihrem Kleinkind hilft, die frühkindlichen Erlebensmodi des „Als-ob-Modus“ und des „Äquivalenz-Modus“ zum „reflektierenden Modus“ zu integrieren („Playing with reality“-Theorie, vgl. dazu Kap. A.4.1.2.4.). Die Aufgabe der Mutter besteht darin, dem Kind beim gemeinsamen Spiel seine ängstigenden inneren Zustände zu spiegeln, ihm jedoch durch eine „Markiertheit“ dieser Spiegelung wie bei der Affektspiegelung im Säuglingsalter zu signalisieren, daß diese ängstigenden Zustände nicht real sind und in der Realität deshalb auch kein Grund zur Angst besteht. Auf diese Weise schlägt sie Brücken von der kindlichen Innen-Welt zur Außen-Welt, womit sie dem Kind hilft, seine Affekte zu symbolisieren und zu mentalisieren.
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Weil mütterliche Affektspiegelung in gleicher Weise Voraussetzung für beide Prozesse ist, für die Symbolisierung wie deren „Sonderform“, nämlich die Mentalisierung, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit auf eine strenge Differenzierung verzichtet und eine weitgehend synonyme Verwendung der Begriffe toleriert werden. Denn die frühe Beziehungstraumatisierung, verstanden als pathologische mütterliche Affektspiegelung, beschädigt und zerstört nicht nur den Prozeß der Symbolisierung, sondern mit ihm auch den der Mentalisierung (s. dazu ausführlich Kap. A.3.1.2. und A.4.2.).
Ebenso wie Peter Hobson, der die Bedeutung der emotionalen Präsenz der Fürsorgeperson für die Entstehung der Symbolfunktion des Kindes betont, hebt auch Fonagy die hilfreiche Anwesenheit der Mutter für den Prozeß der Symbolisierungsentwicklung hervor. Wie oben bei Löchel (1997) bereits beschrieben, wird im Gegensatz dazu der Prozeß der Symbolisierung in klassisch-psychoanalytischer Diktion eher als Verlust- und Versagungsgeschichte konzipiert, wonach der Säugling die Symbolisierungsfähigkeit in dem Maße erringt, wie er die Abwese n heit des mütterlichen Objekts ertragen kann.
„Während die traditionellen psychoanalytischen, auf Freud zurückgehenden Symbolisierungstheorien davon ausgehen, daß der Gedanke die abwesende Mutter ersetzt …, findet die Symbolbildung nach den Vorstellungen Fonagys gerade in der gelingenden, affektregulierenden Interaktion mit der mütterlichen Pflegeperson statt, also in ihrer Anwesenheit, deren Verinnerlichung zur Affektregulierung mit symbolischen Mitteln … befähigt.“ (Hirsch, 2008, S. 18). |
Zusammenfassend und bezogen auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels läßt sich sagen, daß der Prozeß der Entwicklung der kindlichen Symbolisierungsfähigkeit offenbar nicht allein eine Frage der biologischen Reifung ist, wie es die kognitive Entwicklungspsychologie in der Nachfolge von Piaget postuliert, sondern fundamental mit der Qualität der Interaktion in der frühen Umwelt des Säuglings zusammenhängt.
Deshalb ist es naheliegend, daß im Falle früher und chronischer Beziehungstraumatisi e rung die Entwicklungsvoraussetzungen für den Prozeß der Symbolisierung beim Säugling nicht gegeben sind. Es fehlt die spiegelnde, emotional responsive, mentalisierende Bindungsfigur, durch deren „markierte“ Affektspiegelung der Säugling sekundäre Repräsentanzen seiner primären Affektzustände bilden und in deren „mind“ er sich als denkendes, wünschendes Selbst entdecken kann (Fonagy & Target, 2002). Stattdessen ist es im Fall früher Traumatisierung gerade die Bindungsfigur, die durch ihr traumatisierendes Beziehungsverhalten dem Kind Affektrepräsentationen von Haß, Ekel und Verachtung als „fremdes Selbst“ einpflanzt, wovor sich das Kind nur schützen kann, „indem es jedes Nachdenken über die Gefühle und Gedanken anderer und seiner selbst aus dem Bewußtsein verbannt.“ (Fonagy et al., 2004, S. 384). Auf diese Weise wird der gesamte Mentalisierungs- und Symbolisierungsprozeß blockiert.
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Es läßt sich also festhalten, daß im Falle früher Beziehungstraumatisierung
1. die traumatischen Erfahrungen im Gegensatz zu konflikthaften Erlebnissen, die explizit-deklarativ abgespeichert bzw. repräsentiert und dann sekundär neurotisch verdrängt werden, aufgrund des „hyperarousals“ der traumatischen Situation nicht adäquat neuronal encodiert und deshalb auch nicht verdrängt werden können. Deshalb behalten sie bedrohlichen Realitätscharakter.
daß ferner 2. der gesamte Prozeß der Entwicklung einer Fähigkeit zur Symbolisierung eigener und fremder Gefühle, Wünsche und Intentionen und damit der Fähigkeit, Beziehungserfahrung intrapsychisch zu repräsentieren, grundlegend beschädigt wird. „Es werden durch das Trauma nicht nur einzelne unassimilierbare Erfahrungen gemacht, vielmehr wird … die Repräsentationsfunktion selbst angegriffen.“ (Küchenhoff, 1998, S. 19.). Mentalisierungstheoretisch formuliert, kann das Trauma nicht „gedacht“ werden, d.h. die gesamte Repräsentations- und Mentalisierungsfunktion wird blockiert.
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Bei früh traumatisierten Kindern kommt es jedoch nicht nur zu einer umfassenden Beschädigung der Symbolisierungsfähigkeit. Durch die wiederholte massive traumatische Überwältigung in Bindungsbeziehungen sowie einem sozialen Umfeld, das durch multiple psychosoziale Risiken geprägt ist, kommt es darüber hinaus zu einer umfassenden Beeinträchtigung in nahezu allen relevanten Bereichen affektiver, kognitiver, somatischer, behavioraler und sozialer Entwicklung, wie sie in der Diagnose der Developmental Trauma Disorder (vgl. Kap. A.1.3.2.3.) ihren Niederschlag gefunden hat. Das gesamte Selbst- und Welterleben des Kindes ist primär b e havioral organisiert, d.h. „organized around the issue of triggered dysregulation in response to traumatic reminders, stimulus generalization, and the anticipatory organization of behavior to prevent the recurrence of the trauma effects“ (van der Kolk, 2005, S. 406).
Ein inneres Konflikterleben i.S.eines intrapsychisch repräsentierten Widerstreits von Motiven, Wünschen, Bedürfnissen, Werten und Vorstellungen ist daher stark unterentwickelt. Entsprechend laufen behandlungstechnische psychodynamische Interventionen, die die verbale Deutung unbewußter Konflikte zum Ziel haben, am Anfang der Therapie weitgehend ins Leere. Um mit der Metapher des Traumas als „Fremdkörper im Ich“ zu sprechen, ist es in diesen Fällen früher und chronischer Traumatisierung dem Organismus aufgrund seiner ich-strukturellen „Immunschwäche“ nicht gelungen, den Fremdkörper zu isolieren und „abzukapseln“, sondern er hat sich von ihm durch und durch „infizieren“ lassen.
Aus psychoanalytisch-konflikttheoretischer Sicht besteht deshalb die Gefahr, primäre Reaktionen (Fight/Flight/Freeze) von kindlichen Opfern früher Traumatisierung fälschlich als „reife“ Abwehr unbewußter Konflikte zu interpretieren. Streeck-Fischer (2000) warnt als Psychoanalytikerin davor, die traumatogenen Gedächtnisstörungen traumatisierter Kinder mit „Verschweigen“ aus Über-Ich-Konflikten oder Schamgefühlen zu verwechseln, aggressive Kampf-Flucht-Reaktionen der Patienten fälschlich als reife objektale Impulse, z.B. als ödipale Aggression, zu deuten.
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Es ist deshalb ein primär entwicklungsorientierter Therapieansatz angezeigt, der an den multiplen sensomotorischen, affektiven, kognitiven und sozialen Entwicklungsdefiziten des Patienten ansetzt. In einem späteren Therapieabschnitt, wenn Stabilität und Kohärenz des Selbst, wenn die zentralen Funktionen von sicherer Bindung, Selbst- und Affektregulation, Aufmerksamkeitsfokussierung und Mentalisierung weitgehend nachgeholt sind, wenn die Fähigkeit zur Symbolisierung hinreichend entwickelt ist, kann dann auch an konflikthaftem Material gearbeitet werden.
Nun kann man andererseits nicht behaupten, früh traumatisierte Kinder verfügten in keiner Weise über die Fähigkeit zur Symbolisierung. Auch früh traumatisierte Kinder können sprechen, träumen und sich in Grenzen kreativ ausdrücken. In diesem Sinne läßt sich der Punkt nicht exakt bestimmen, von dem an von einer entwickelten Symbolisierungs- und Konfliktfähigkeit gesprochen werden kann. Es ist deshalb immer eine Frage des konkreten Einzelfalls, ob und inwieweit konfliktorientiert gearbeitet werden kann. Die gesamte Entwicklung der Ich-Funktionen, d.h. auch der Symbolisierungsfähigkeit, ist ein Prozeß, der sich auf einem gleitenden Spektrum vollzieht. Deshalb muß auch die Behandlungstechnik als eine Bewegung auf einem gleitenden Spektrum von „entwicklungsorientiert“ zu „konfliktorientiert“ gesehen werden. Es soll aber ausdrücklich betont werden, daß bei früh traumatisierten Patienten der allergrößte Teil der therapeutischen Arbeit entwicklungsorientierte Beziehungsarbeit ist und an Konflikten erst in sehr späten Behandlungsphasen gearbeitet werden kann.
Zum Verhältnis von Trauma und Konflikt läßt sich also folgender Zusammenhang postulieren:
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Je später im Leben den Menschen ein Trauma trifft, je weniger schwer, komplex und chronisch es ist, je psychisch „gesünder“, d.h. ich-strukturell entwickelt, der Mensch prämorbid war und je mehr psychosoziale Ressourcen (v.a. sichere Bindungsbeziehungen) er zur Bewältigung zur Verfügung hat, desto leichter ist das Trauma zu verarbeiten. Desto klarer lassen sich auch die Wirkungen des Traumas auf bewußte und unbewußte konflikthafte Phantasien nachzeichnen und rekonstruieren, und desto früher und intensiver kann im therapeutischen Prozeß konfliktorientiert-deutend gearbeitet werden, da der Patient über eine ausreichende Ich-Stärke verfügt.
Je früher im Leben der Mensch ein Trauma erleidet, je schwerer, komplexer und chronischer es ist, je geringer seine Ich-Funktionen, insbesondere seine Symbolisierungsfähigkeit, prämorbid entwickelt waren und je weniger Ressourcen (v.a. sichere Bindungen) er zur Verfügung hat, desto schwerer ist das Trauma zu verarbeiten. Desto komplexer und schwerwiegender sind die Folgen des Traumas in sämtlichen Bereichen affektiver, kognitiver, somatischer, behavioraler und sozialer Entwicklung. Das gesamte Selbst- und Welterleben des Kindes ist dann primär behavioral i.S. der Vermeidung traumaassoziierter Stimuli organisiert. Hier muß im therapeutischen Prozeß nicht konflikt-, sondern entwicklungsorientiert und emotional stabilisierend gearbeitet werden.
Genau diese zuletzt genannten Bedingungen liegen im Falle früher Traumatisierung vor.
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In diesem Kapitel A. 2. wurden die Theorien der Psychoanalyse zu Bedingungen und Folgen früher Traumatisierung dargestellt. Als erstes wurde in Kap. A.2.1. die Theoriegeschichte des psychoanalytischen Traumabegriffs nachgezeichnet. Dabei konnte eine Entwicklung von einem ursprünglich rein psychoökonomisch konzipierten Traumabegriff (Freudsche Trieblehre und Ich-Psychologie) hin zu einem Verständnis traumatischer Erfahrungen nachgezeichnet werden, das - nicht zuletzt anknüpfend an die ich-psychologische Deprivationsforschung - zunehmend die Objektbeziehungen (Objektbeziehungstheorie) bzw. die traumatisch frustrierten Selbstobjek t bedürfnisse des Kindes (Selbstpsychologie) in den Mittelpunkt stellt.
Damit gerieten neben den inneren traumatisierenden (Trieb-)Konfliktspannungen zunehmend die nach dem Widerruf der Verführungstheorie in „Vergessenheit“ geratenen äuß e ren traumatisierenden Umweltbedingungen in den Fokus der Betrachtung. Auf diese hatte schon lange zuvor Ferenczi in seinem berühmten Vortrag „Zur Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind“ hingewiesen.
In der Folge beschäftigten sich Objektbeziehungstheoretiker mit den Wirkungen maligner Introjektionsprozesse („Täterintrojekt“) und traumaspezifischer Abwehrmechanismen (Spaltung, Dissoziation), wodurch u.a. die Phänomene intergenerationaler Trauma-Transmission sowie der Reviktimisierungsneigung von Traumaopfern besser verstanden werden konnten. Selbstpsychologen richteten ihr Augenmerk auf die Mikroperspektive traumatisch entgleisender präverbaler affektiver Dialoge in der frühen Mutter-Kind-Dyade (Borderline-Dialog), die sich in der klinischen Situation reinszenieren (Enactment, Modellszenen), und konnten so die neueren Befunde der Säuglings- und Bindungsforschung sowie der Neurobiologie für die Psychoanalyse fruchtbar machen.
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Im Anschluß daran wurde in Kap. A.2.2. die Frage nach dem Verhältnis früher Traumata zu unbewußten Konflikten behandelt. Unterscheiden sich Traumapathologie und Konfliktpathologie, und wenn ja, worin liegt der Unterschied? Als Ergebnis kann festgehalten werden, daß im Gegensatz zum Konflikt, der grundsätzlich symbolisch repräsentiert, aber i.S. Lorenzers sekundär desymbolisiert ist, das traumatische Material aufgrund der Überwältigung im Moment der traumatischen Situation von vornherein nicht bzw. nur unvollständig symbolisch repräsentiert wird. Neurologische Befunde zur defizitären Encodierung traumatischen Materials stützen diese Theorie.
Sekundäre symbolische Überarbeitungen des Traumas sind nur in Fällen von „später“ Traumatisierung möglich, die auf ein prämorbid stabileres Ich mit entwickelter Symbolisierungsfunktion treffen. In diesen Fällen kann sich das Trauma mit nachfolgenden Entwicklungskonflikten des Kindes verschränken. In Fällen früher und chronischer Traumatisierung wird dagegen der gesamte Prozeß der Symbolisierungsfunktion beschädigt, da dem Kind die für die Entwicklung der Symbolfunktion notwendige spiegelnde, emotional responsive, mentalisierende Bindungsfigur fehlt. Konflikthaftes Erleben kann deshalb nicht symbolisch repräsentiert werden, weshalb auch eine klassisch-konfliktorientierte psychoanalytische Behandlungstechnik bei diesen Patienten zumindest am Anfang der Therapie kontraindiziert ist.
Will man nun zu einer abschließenden Einschätzung der psychoanalytischen Trauma-Theorien gelangen, so sind die Verdienste um ein besseres Verständnis der Bedingungen und Folgen traumatischer Erfahrungen durch die genannten AutorInnen zu würdigen.
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Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß psychoanalytische Konzepte, die traditionsgemäß den Fokus auf die unbewußte konflikthafte phantasmatische Verarbeitung legen, an Grenzen stoßen, wenn es um die Folgen früher und chronischer Traumatisierung geht. Denn in diesen Fällen wird Symbolisierungsfähigkeit als Voraussetzung für die Repräsentation konflikthaften Erlebens gar nicht oder nur sehr bedingt entwickelt. Darüber hinaus wird auch angesichts der breit gefächerten, alle Bereiche der Entwicklung durchziehende Dysfunktionen dieser Patienten deutlich, daß ein Behandlungsansatz, der lediglich psychodynamische Konfliktkonstellationen im Auge hat und die komplexen affektiven, kognitiven, sozialen und physischen Störungsbereiche nicht entsprechend mit einbezieht, wenig Erfolg haben kann.
Um zu einem vertieften Verständnis dieser frühen Entwicklungsdefizite, allen voran der Symbolisierungsstörung, zu gelangen, muß deshalb nach neuen theoretischen Erklärungsmodellen gesucht werden, die die psychoanalytische Theoriebildung und Behandlungstechnik erweitern und bereichern können.
Die Psychoanalyse hat in den vergangenen hundert Jahren ihres Bestehens gewaltige Veränderungen in der Theoriebildung vollzogen, nicht zuletzt, um das Spektrum der Anwendungsmöglichkeiten für Patienten mit massiven ich-strukturellen Störungen und Entwicklungstraumatisierungen zu erweitern. Weil zumindest im Mainstream der Psychoanalyse ein Wissen um die Grenzen eines ausschließlich hermeneutisch-rekonstruktiven Zugangs zur frühen Entwicklung des Menschen vorhanden war, wurde hierzu immer wieder auch auf interdisziplinäre Forschungsbefunde insbesondere der Säuglings- und Klei n kindbeobachtung zurückgegriffen (vgl. z.B. die in Kap. A.2.1.2.3. erwähnte Deprivationsforschung). Die Hinzuziehung von außeranalytischen empirischen Befunden läßt sich also durchaus mit der psychoanalytischen Tradition in Einklang bringen (zur Frage der Möglichkeiten und Grenzen interdisziplinärer Zusammenarbeit vgl. die Ausführungen im Einleitungskapitel). Die moderne Säuglingsforschung hat besonders aufgrund verbesserter videotechnischer Möglichkeiten zu einem enormen Wissenzuwachs über die „Lebenserfahrung des Säuglings“ (Stern) beigetragen, der für das Verständnis der Entwicklungsdefizite früh traumatisierter Patienten von erheblichem Interesse ist.
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Eine der auffälligsten Dysfunktionen früh traumatisierter Kinder ist die mangelnde Fähigkeit zur Selbst- und Affektregulation, die gleichzeitig die Voraussetzung für eine gelingende Entwicklung von Symbolisierungs- und Mentalisierungsfunktion ist (vgl. Kap. A.4.1.). Für ein tieferes Verständnis dieser Fähigkeit, die ihren Ursprung in der frühen Mutter-Säuglings-Interaktion hat, ist deshalb ein Studium der Befunde der Säuglingsforschung und hier insbesondere der Prozesse entgleisender affektiver Dialoge mit der Folge gestö r ter Affektregulation hilfreich. Dies nicht zuletzt, um in der klinischen Situation eine Reinszenierung ebensolcher „misattunements“ zu vermeiden.
Als weiteres Gebiet ist die Bindungsforschung und hier insbesondere deren Ergebnisse zu Ursachen und Folgen desorganisierter Bindung von enormem Nutzen. Dieses Bindungsmuster herrscht bei früh traumatisierten Kindern deutlich vor (bei mißhandelten z.B. in über 80 % der Fälle, vgl. Carlson et al., 1989). Es entsteht unter spezifischen Interaktionsbedingungen und zeitigt spezifische Folgen im weiteren Entwicklungsverlauf, die sich in der klinischen Behandlung reinszenieren. Ohne Kenntnis dieser Bindungsstörung werden deren Folgen in der Therapie leicht übersehen oder mißverstanden. Dies kann zu „falschen“ Deutungen und damit zu weiterer Desorganisation des Kindes führen.
Schließlich sind auch neurobiologische Forschungsergebnisse zur traumatischen Stres s physi o logie und zu gestörten Informationsverarbeitungsprozessen eklatant wichtig. Denn nur wenn die typischen traumaassoziierten „primären Reaktionen“ (fight/flight/freeze), traumatisch bedingte Gedächtnisstörungen sowie die Unmöglichkeit, traumatische Erfahrungen in ein Narrativ einzubinden, bekannt und verstanden sind, lassen sich unangebrachte Widerstandsdeutungen und daraus resultierende Retraumatisierungen in der Behandlung vermeiden.
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Die Notwendigkeit, das psychoanalytische Verständnis traumatischer Entwicklungen durch die Rezeption interdisziplinärer, außeranalytischer Forschungsbefunde zu erweitern, entspringt der klinischen Erfahrung, daß die klassische Behandlungstechnik auf der Basis des verbalen Deutungsparadigmas bei früh traumatisierten Patienten kaum einen Ansatz findet. Deshalb müssen aus den Erkenntnissen der genannten außeranalytischen Disziplinen Folgerungen für eine veränderte Behandlungstechnik gezogen werden, um diesen Patienten wirklich helfen zu können. Diese Behandlungstechnik kann als entwic k lungsorientiert psychodynamisch beschrieben werden, die sowohl Interventionen im s o zialen Feld (Kap. B.1.) als auch spezifische Foki im analytischen Raum (Kap. B.2.) umfaßt.
Im folgenden Kapitel A.3.sollen in diesem Sinne nun traumatheoretisch relevante Befunde von Nachbarwissenschaften referiert werden, die zu einem vertieften Verständnis traumatischer Entwicklungsprozesse von Kindern aus mehrfachbelasteten Familien verhelfen können.
Es sind dies zum einen Befunde der Säuglingsforschung zu den Entstehungsprozessen gestörter Affektregulation (Kap.A. 3.1.), sodann Erkenntnisse über Bedingungen und Folgen deso r ganisierter Bindung bei früh traumatisierten Kindern, die die Bindungsforschung erbrachte (Kap. A.3.2.) und schließlich die Ergebnisse der Neurobiologie zur traumatischen Stressphysiologie, die im Säuglingsalter eine gestörte Gehirnentwicklung sowie gestörte Pr o zesse der Informationsverarbeitung zur Folge hat (Kap. A.3.3.).
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Gestörte Selbst- und Affektregulation ist eine der zentralen Dysfunktionen früh traumatisierter Kinder (Pollak et al., 1998; van der Kolk, 2005). Die grundlegende Fähigkeit, die eigenen Affekte und Selbst-Zustände eigenständig zu regulieren, eine Fähigkeit, die Voraussetzung für eine ganze Reihe weiterer psychosozialer Kompetenzen ist, wird vom Kind interaktiv im frühen Mutter-Säuglings-Dialog erlernt. Gerade diese frühesten, einer bewußten, sprachlich vermittelten Reflexion weitgehend entzogenen Interaktionserfahrungen, die das „implizite Beziehungswissen“ (Stern et al.) prägen, reinszenieren sich ständig in der klinischen Situation, und die adäquate „Beantwortung“ dieser Muster durch die Analytikerin entscheidet nicht selten über das Gelingen einer therapeutischen Beziehung und damit der gesamten Psychotherapie. Deshalb ist die Kenntnis der Prozesse gelingender und mißlingender nonverbaler, affektiver Austauschprozesse von unschätzbarem Wert für die Behandlerin.
Es kann in dieser Arbeit keine Einführung in die Säuglingsforschung geleistet werden. Deshalb sollen nur einige ausgewählte Befunde (Kap.A.3.1.1.1.) behandelt werden, die zum Verständnis der Prozesse primärer und sekundärer Affektregulation (Kap. A.3.1.1.2.) sowie entgleisender Prozesse affektiver Kommunikat i on (Kap. A.3.1.2.) nötig sind. In Kap. A.3.1.3. werden dann Modelle der Repräsentation dieser frühen Interaktionsprozesse diskutiert. Anschließend sollen die in der Einleitung dieser Arbeit angestellten grundsätzlichen Überlegungen zur Einbeziehung interdisziplinär gewonnener Forschungsergebnisse in die psychoanalytische Theorie und Praxis konkret auf das Verhältnis von Psychoanal y se und Säuglingsfor - schung bezogen werden (Kap. A.3.1.4.). Hierbei wird insbesondere die Frage erörtert werden, inwieweit als Konsequenzen aus den Befunden der Säuglingsforschung bestimmte Postulate der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie kritisch zu überdenken sind. Eine Zusa m menfassung (A.3.1.5.) beschließt das Kapitel.
Die Säuglingsforschung hat in den letzten dreißig Jahren mit entwicklungsangepaßten empirischen Methoden (Rauh, 2002) z.T. verblüffende sensomotorische und kognitive Fähigkeiten des Säuglings nachgewiesen, die insgesamt das Bild eines kompete n ten Säuglings entstehen ließen (vgl. zusammenfassend Dornes 1993, Kap. 2). So besitzen Säuglinge ein offenbar angeborenes basales physikalisches Wissen (Fagan & Shepherd, 1987; Gibson, 1988), ein Gefühl für die Kohärenz der Form und der Bewegung (Berthental et al., 1987) sowie für die Zeit- und Intensitätsstruktur (Spelke, 1979). Die angeborene Fähigkeit zur kreuzmodalen Wahrnehmung, bei der unterschiedliche Sinneseindrücke, z.B. taktile und visuelle, in Beziehung gesetzt werden (Meltzoff & Borton, 1979), sowie die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Vital i tätsaffekten (z.B. „aufwallend“, „verebbend“ etc., vgl. Stern, 1985, S. 83 ff.) helfen dem Säugling, unterschiedliche Sinneserfahrungen zu integrieren und langsam ein einheitliches Welt- und Selbsterleben zu entwickeln.
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Die beschriebene genetische Ausstattung des Säuglings disponiert ihn für die soziale Interaktion (Emde, 1991 a), die angesichts der fehlenden sprachlichen Möglichkeiten des Säuglings über den nonverbalen Austausch von Affekten vermittelt wird. Dieser Austausch von Affekten mit der Umwelt wird nun zur zentralen Matrix der emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung des Säuglings. Affekte wirken als primäres Motivation s system, indem sie Verhaltensbereitschaften aktualisieren, sie dienen der Regulation von Interaktion, indem sie Befindlichkeiten signalisieren, sie dienen der Gedächtnisbildung, indem sie Erfahrungen encodieren und sie dienen der supramodalen Integration, indem sie die Flut von Sinnesreizen handlungsleitend ordnen (Resch et al., 1999, S. 131 f.). Bei all diesen Prozessen steht die soziale Bezu g nahme des Säuglings zur Pflegeperson (social referencing, Campos & Sternberg, 1981; Klinnert et al., 1986) im Mittelpunkt, durch die der Säugling eigene Interaktionen und Emotionen reguliert.
Entsprechend der angeborenen sozialen Vorangepaßtheit des Säuglings (Emde, 1991 a) entfalten auch die Eltern im Kontakt mit ihrem Säugling angeborene sog. Intuitive elterl i che Kompetenzen (Papousek & Papousek, 1987): Sie signalisieren dem Kind, daß sie sich ihm nähern, schlagen einen „Spielton“ an, prüfen anhand des Muskeltonus den Wachheits- und Erregungszustand ihres Kindes, stellen unmittelbaren Blickkontakt her, regulieren die Blickdistanz, reagieren mit dem „Augengruß“, verwenden eine vereinfachende Sprache („Ammensprache“) in erhöhter Stimmlage, mit ausgeprägten Sprachmelodien („Prosodik“), vergrößern und verlangsamen ihre Mimik und Gestik, rhythmisieren ihren Ausdruck, „orchestrieren“ Bewegung und Sprache (Mayer & Tronick, 1985). Durch intuitives Aufgreifen der aktuellen Emotionslage sowie Anpassung der Stimulationsintensität an das aktuelle Erregungsniveau ihres Säuglings ermöglichen die Eltern ihrem Kind Erfahrungen von Kontingenz, worunter die zeitliche und inhaltliche Passung des Affektaustauschs zu verstehen ist (Resch et al., 1999, S. 103). Gleichzeitig unterstützen sie ihr Kind bei der Modulation und Regulation von Affekten durch spielerische Variation, Vermindern und Verstärken des vokalen Emotionsausdrucks in Verbindung mit körpersprachlichen Analogien (Papousek & Papousek, 1987). So kommt es zu intensiven Dialogspielen („Lächelrunden“), die mimisch, gestisch und vokal durch Reziprozität (Brazelton et al., 1974), Bidirektionalität (Cohn & Tronick, 1988), Rhythmizität und Zyklizität (Beebe et al., 1985; Lester et al., 1985) gekennzeichnet sind und die Stern (1985) in die Metapher des gemeinsamen Tanzes von Mutter und Kind kleidete.
Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht darin, daß sich diese „Tänze“ als implizit-unbewußte Beziehungsregulation im Behandlungszimmer reinszenieren. Die Analytikerin muß für diese frühen präverbalen affektiven Austauschformen sensibilisiert sein, um sie adäquat „beantworten“ zu können. Denn gerade die Psychoanalyse, die sich traditionell als „talking cure“ versteht, verführt die Analytikerin, präverbale Zustände und Kommunikationen vorschnell zu versprachlichen und damit die Ebene der „Beziehungsbotschaft“ des Patienten zu verfehlen.
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Im Rahmen dieser frühen nonverbalen Mutter-Kind-Interaktion lernt der Säugling nun auch, seine z.T. heftigen affektiven Erregungzustände zu regulieren. Diese Affektregulation zwischen Fürsorgeperson und Säugling läßt sich in eine primäre und eine sekundäre unterteilen.
Die primäre Affektregulation vollzieht sich zunächst auf einer rein biologisch-neurophysiologischen Ebene. Bereits Neugeborene neigen dazu, den Gesichtsausdruck ihrer Eltern zu imitieren (Zungeherausstrecken, Lippenschürzen, vgl. Meltzoff & Moore, 1989; Nadel & Butterworth, 1999). Wenn der Säugling im weiteren Entwicklungsverlauf Affektausdrücke der Mutter imitiert, z.B. ihr Lächeln erwidert, gerät er dadurch in denselben Gefühlszustand wie die Mutter, da über die Innervation der Gesichtsmuskeln nicht nur die Veränderung emotionsspezifischer Parameter des autonomen Nervensystems wie Blutdruck, Pulsfrequenz, elektrischer Hautwiderstand ausgelöst werden (Ekman 1992, 1993), sondern auch ebenso emotionsspezifische EEG-Muster (Machleidt, 1998). Auf diese Weise reguliert sich der kindliche Organismus auf rein neurophysiologischer Ebene entlang des erwachsenen Vorbildes.
Solcherart „On-line“-Regulation geschieht jedoch nicht nur über Imitation des mütterlichen Affektausdrucks, sondern auch auf eine umfassendere Weise durch Affektansteckung. Der Psychobiologe Hofer (1990, 1995) konnte in zahlreichen Versuchen nachweisen, daß nahezu alle Aktivitäten des Neugeborenen, von der Nahrungsaufnahme über Ausscheidung, Temperaturregelung, Herzschlag bis hin zu Neurotransmitterprozessen direkt von der pflegenden Präsenz der Mutter abhängen. Entsprechend weisen bereits drei- bis sechs Monate alte Säuglinge depressiver Mütter während der Interaktion mit ihnen die gleiche reduzierte linkshemisphärische frontale EEG-Aktivität auf wie eben diese depressiven Mütter (Field et al., 1995; Dawson et al., 1999).
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Es ist allerdings nicht klar, ob Säuglinge die gezeigten Affekte auch introspektiv erleben. Diese Frage der Konkordanz von Gesichtsausdruck und Gefühl wird kontrovers diskutiert wie die damit verbundene Frage der sozialen Konstitution des Selbst, die darum kreist, ob der Säugling elterliche Rückmeldungen seiner affektiven Zustände für die Entwicklung seines Selbst benötigt (vgl. die Diskussion bei Dornes, 1993, Kap.5 und Dornes, 2004 a). Unabhängig von der Entscheidung, ab welchem Alter man dem Säugling ein bewußtes Erleben seiner Affekte zugesteht, können diese Affekte vom Säugling jedoch noch nicht eigenständig reguliert werden. Deshalb dürfte die Bildung von Affekt-Repräsentanzen, die der sekundären Affektregulation dienen, von der Interaktion mit der sozialen Umwelt abhängen.
Diese sekundäre Affektregulation erfolgt über mütterliche Affektspiegelung. Um diesen Prozeß zu verdeutlichen, haben die Säuglingsforscher und Psychoanalytiker Gergely & Watson (1996, 1999) anhand eigener empirischer Babybeobachtungen die Theorie des sozialen Bi o feedbacks entwickelt, auf die inzwischen von zahlreichen Psychoanalytikern, u.a. der Forschungsgruppe um Peter Fonagy (Fonagy et al., 2004), zurückgegriffen wird.
Dieser Theorie liegt als zentrales Element ein Mechanismus der Kontingenzentdeckung und –maximierung zugrunde. Wie zahlreiche Experimente belegen (z.B. Bahrick & Watson, 1985; Rochat & Morgan, 1995), nehmen Säuglinge schon in den ersten Lebenswochen Kontingenzbeziehungen zwischen ihren körperlichen Reaktionen (z.B. Strampeln) und nachfolgenden Stimulusvorgängen (z.B. Bewegung eines Mobiles) hochsensibel wahr. Neben diesem angeborenen Mechanismus der Kontingenzentdeckung wenden Säuglinge auch einen Mechanismus der Kontingenzmaximierung an, der darin besteht, die Wahrscheinlichkeitsstruktur kontingenter Relationen zwischen Reaktionen und Stimulusvorgängen i.S. von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zu untersuchen und zu maximieren (zu diesem äußerst komplizierten Vorgang vgl. die näheren Ausführungen bei Gergely & Watson, 1996). So versucht der Säugling z.B., die Bedingungen zu optimieren, unter denen sein Lächeln ein Lächeln der Mutter hervorruft. Gelingt ihm dies, so erlebt er das Lächeln der Mutter als durch ihn ausgelöst, was ihm Wirksamkeitserleben, Kontrolle und deshalb ein positives „arousal“ verschafft.
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An diesem Punkt setzt nun die Theorie des sozialen Biofee d backs von Gergely & Watson an. Beim Entspannungsverfahren des Biofeedback (Vaitl, 1993; Zeier, 1997) werden der Willkür entzogene Prozesse des autonomen Nervensystems (z.B. Herzschlag, Blutdruck) auf einem Monitor sichtbar und durch bestimmte Trainingsmethoden der bewußten Beeinflussung durch den Probanden zugänglich gemacht. Durch diese Externalisierung innerer, unbemerkt ablaufender Prozesse wird der Proband für diese Vorgänge sensibilisiert und kann lernen, sie zu kontrollieren. Ganz ähnlich, so Gergely & Watson, fungiert das Gesicht der Mutter, wenn sie die Affekte ihres Säuglings spiegelt, für diesen als „Monitor“ seiner inneren Erregungszustände, die er mit ihrer Hilfe zu regulieren lernt.
Durch die Spiegelung dieser seiner Affekte durch die Bezugsperson gelingt es dem Säugling, seine körperlichen Zustände mit der mimischen Expression der Mutter zu verknüpfen und dadurch ein inneres Bild seiner Emotionen zu erlangen. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß er diese mimische Expression, wie z.B. Freude, als Ausdruck seines eigenen Affektzustandes begreift und nicht etwa als affektive Gestimmtheit der Mutter. Aus diesem Grunde „markieren“ Eltern intuitiv die Affekte, die sie ihrem Säugling spiegeln, und zwar genau in der weiter oben beschriebenen „Ammensprache“, durch gesteigerte Prosodik und vergrößerte Mimik und Gestik (vgl. Papousek & Papousek, 1987) und verleihen dem Affekt dadurch einen Als-ob-Charakter.
Aus diesem Als-ob-Charakter bzw. dieser Markiertheit kann der Säugling nun erschließen, daß der gezeigte Ausdruck nicht „echt“, d.h. nicht der elterliche Affekt ist – ein Prozeß, den die Autoren referentielle Entkoppelung nennen. Zugleich bezieht der Säugling diesen entkoppelten Affektausdruck nun auf sich selbst, d.h. begreift ihn als Darstellung seines eigenen Gemütszustandes, was die Autoren als referentielle Verankerung bezeichnen (Näheres bei Gergely & Watson, 1996).
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Der Gesichtsausdruck der Mutter wird so zu einem Bild oder einer Repräsentanz der Gefühlszustände des Säuglings. Im weiteren Entwicklungsverlauf wird nun immer, wenn beim Säugling das primäre Gefühl entsteht, auch die sekundäre Repräsentanz der mütterlichen Spiegelung mitaktiviert, die gleichzeitig eine symbolisierte Form des Affekts darstellt. Damit verbunden ist auch die Interaktionserfahrung i.d.R. gelingender Beruhigung i.S. der Affektregulation, so daß das Kind zunehmend Kontrolle über seine Affekte erlangt.
Hier sei ein Beispiel für diesen Prozeß der Affektregulation gegeben: Der Säugling weint, d.h.er zeigt einen negativen Affekt. Die hinreichend gute Mutter wird nun dem Säugling seinen Affekt der Traurigkeit markiert spiegeln, jedoch nicht kontinuierlich, sondern intermittierend, d.h. mit kurzen „Auszeiten“. Ebenso wird sie dem Ausdruck der Traurigkeit einen kontrastierenden Affekt des Beruhigenden, Tröstenden „beimischen“. Der Säugling wird nun i.S. der Kontingenzmaximierung sein Weinen reduzieren, um Kontingenz mit dem lediglich intermittierenden Spiegelungsausdruck der Mutter herzustellen. Gleichzeitig wird er den Affektausdruck des Tröstenden, Beruhigenden imitieren, um die Kontingenz zu maximieren, was über die „On-line“-Regulation (Innervation der Gesichtsmuskeln, s.oben) den negativen Affekt zusätzlich reduziert. Die Erfahrung hoher Kontingenzkontrolle über den mütterlichen Affektausdruck wird den Säugling in positive Erregung versetzen, die seinen negativen Affekt weiter abschwächt. Und schließlich wird er sich, ebenfalls i.S. der Kontingenzerfahrung, als aktiver Urheber dieser Affektregulation erleben, was den Weg von der Ko-Regulierung zur Selbstregulierung bahnt.
Die besondere klinische Relevanz dieser Erkenntnisse besteht darin, daß früh traumatisierte Kinder, wie mehrfach betont, in ganz besonderer Weise unter Affektregulationsproblemen leiden. Oft kommen sie in die Stunde und sind in diffusem somatopsychischem Erregungszustand, ohne diesen Zustand überhaupt wahrzunehmen geschweige denn ihn mit psychisch repräsentierten Affekten in Verbindung bringen zu können. Hier darf die Analytikerin nicht vorschnell vermutete Affekte oder gar Konflikte sprachlich deuten, sondern muß präverbal, entwicklungsorientiert den Erregungszustand des Patienten „herunterzuregulieren“ versuchen. Dazu muß sie analog der Mutter-Säuglings-Situation den Erregungszustand des Patienten zunächst körpersprachlich aufnehmen und ihm markiert spiegeln und dann durch intermittierende Beimischung von kontrastierender Erregungsvalenz bzw. kontrastierendem Affekt zu beruhigen versuchen.
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Diese Prozesse primärer und sekundärer Affektregulation sind äußerst störanfällig und können entsprechend schnell entgleisen. Im Folgenden sollen nun Prozesse entgleisender affektiver Kommunikation zwischen Säugling und Fürsorgeperson beschrieben werden. Diese Prozesse werden in einer „aufsteigenden Linie“ nachgezeichnet, und zwar ausgehend von zunächst harmlosen, jederzeit korrigierbaren Fehlabstimmungen über sich verfestigende Muster von Unter- und Überstimulation sowie Prozesse mißlingender Affektspiegelung bis hin zu massiven Formen der Traumatisierung in Form von Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch.
Die minimalen Fehlabstimmungen am Anfang dieser Linie sind es, die laufend auf nonverbaler Ebene auch in der klinischen Situation entstehen, und je mehr sich die Analytikerin für diese Formen der affektiven Fehlabstimmung sensibilisiert, desto leichter gelingt es, die „mismatchings“ zu korrigieren.
Der Prozeß der Affektregulation erstreckt sich über die gesamte frühe Kindheit. Nach dem ersten halben Jahr (ca. 7.-9. Lebensmonat) verschiebt sich der Affektaustausch jedoch von der Regulierung von Erregungszuständen allmählich in Richtung Intersubjektivität i.S. des Teilens innerer Zustände (intersubjektive Bez o genheit, vgl. Stern, 1985, S. 191 ff).
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Stern unterscheidet die Nicht-Abstimmung, die selektive Abstimmung und die Einstimmung („tuning“). Bei der Nicht-Abstimmung fehlt jegliche Abstimmung. Bei der selektiven Abstimmung findet zwar Inter-Affektivität statt, doch werden bestimmte Erfahrungen aus der intersubjektiven Gemeinsamkeit ausgeschlossen. Es wird z.B. das freudige Spiel des Säuglings mit seinen Genitalien nicht mit der gleichen Begeisterung beantwortet wie dessen Exploration eines neuen Spielzeugs. Bei der Einstimmung („tuning“) handelt es sich um zweckbestimmte Fehlabstimmungen, die im entwicklungsfördernden Sinne erfolgen können, wenn die Mutter z.B. den übererregten Säugling durch eine schwächer ausfallende Reaktion i.S. der Affektmodulation beruhigt. Die gleiche Reaktion kann aber auch aufgrund elterlicher Proje k tionen und Übertragungen geschehen, wenn die Mutter z.B. hinter dem Aktivitätsniveau ihres kleinen Sohnes immer ein wenig zurückbleibt, um ihn auf diese Weise zu „mehr Initiative“ anzustacheln, damit er nicht „genauso passiv und träge“ werde wie sein Vater (vgl. das Beispiel bei Stern, 1985, S. 297).
In gesteigertem Maße findet sich diese Form der Fehlabstimmung in Fällen, in denen die Eltern aufgrund eigener unbewußter Konflikte die kindlichen Äußerungen projektiv verzerrt wahrnehmen (Brazelton & Cramer, 1990; Lebovici, 1990). Ein Beispiel für diese sog. G e spenster im Kinderzimmer (Fraiberg et al., 1975) wäre das Erleben einer Mutter, die sich von ihrem „hysterisch schreienden“ Säugling bedroht fühlt, weil durch sein Schreien unbewußte Erinnerungen an die eigene „hysterisch schreiende“ Mutter geweckt werden, die sie in ihrer Kindheit schwer mißhandelte (Resch & Möhler, 2001).
Ebenfalls aus elterlicher Pathologie, möglicherweise auch lediglich aus schlichter mangelnder Feinfühligkeit der Eltern können minimale rhythmische oder dynamische Fehlabstimmungen in den Interaktionsmodi resultieren. Dies geschieht z.B., wenn eine Mutter im Spiel mit ihrem Säugling dessen Wunsch nach alternierender Interaktion mit koaktiver Interaktion beantwortet. Unter alternierenden Interaktionen versteht man Handlungssequenzen, die durch ein sekundengenaues wechselseitiges Ineinandergreifen der „Beiträge“ der Partner gekennzeichnet sind („lead“ und „turn-taking“). Koaktive Interakionen sind dagegen durch synchrones Handeln (z.B. gemeinsames Jauchzen) geprägt, schaffen ein intensives Gefühl von Gemeinsamkeit und erinnern an den klassisch-psychoanalytischen Topos des „symbiotischen“ Erlebens (vgl. Beebe, 1985, zit. nach Köhler, 1990). Diese minimalen Fehlabstimmungen können sich, sofern sie chronisch werden, als präreflexives Repräsentationsmuster der Erwartung von Fehlregulierung in Beziehungen niederschlagen.
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Die Psychoanalytiker Beebe & Lachmann (1994, 2004) haben an eindrucksvollen Fallbeispielen aus der Erwachsenen-Psychoanalyse belegt, wie sich diese Erwartung von Feh l regulierungen im Behandlungszimmer reinszenieren. So sind es z.B. die erwähnten alternierenden Episoden, die bei Erwachsenen eine Parallele in der rhythmischen
Abstimmung von Zyklen des Sprechens und Pausierens haben (Beebe et al., 1985). Sie prägen auch das therapeutische Gespräch, bei dem es z.B. zu einen nonverbalen „Kampf“ um die Führung des Gesprächs kommen kann. Hat sich die Analytikerin für diese Art der Erwartung von Fehlregulierung nicht sensibilisiert, so daß sie sie nicht als Hinweis auf eine frühe, implizit-prozedural kodierte Beziehungserfahrung des Patienten verstehen kann, wird sie ihn möglicherweise mißverstehen. Sie wird das kommunikative Verhalten des Patienten, vielleicht auch angesichts eigener aggressiver Gegenübertragung, z.B. als „analen Machtkampf“, „Widerstand gegen die Übertragung“ o.ä. deuten und ihn dadurch verwirren. Dies wird die „Erwartung von Fehlregulation“ des Patienten letztlich wieder bestätigen.
Unter einem rein quantiativen Gesichtspunkt lassen sich grundlegende Muster von Fehlabstimmungen als Unter- bzw. Überstimulation des Säuglings durch die Mutter fassen. Man kann diese Muster als Vorformen traumatisierender Beziehungserfahrungen sehen, die in der Summe und Chronifizierung zu kumulativen Traumatisierungen werden und nicht selten auch Ausgangspunkt eskalierender Interaktionsspiralen sind, an deren Ende dann „klassische“ Formen der Traumatisierung (Vernachlässigung/Mißhandlung/Mißbrauch) stehen.
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Bei der Unterstimulation (Stern, 1985, S. 277 ff.) gelingt es der Bezugsperson nicht, sich auf das affektive Erregungsniveau des Säuglings einzustimmen und es i.S. einer stimulierenden gemeinsamen Aufwärtsbewegung zu beantworten. Das Baby kann die Bezugsperson nicht „begeistern“, es kommt zu einer affektiv verflachten Begegnung, die ins Leere läuft. Bekanntestes Beispiel für die experimentelle Induktion einer Unterstimulation des Kindes ist das still face-Experiment (Field et al., 1986; Murray & Trevarthen, 1985). Dabei wird die Mutter vom Versuchsleiter aufgefordert, beim Spiel mit ihrem Baby das Gesicht für kurze Zeit bewegungslos zu halten und nicht auf das Kind zu achten. Der Säugling reagiert darauf mit verstärkter Initiative: er sucht Blickkontakt, lächelt, vokalisiert und strampelt heftiger, um die Mutter wieder zu „beleben“. Reagiert sie nicht, schlägt der positive Affekt in Verzweiflung, Wut, und schließlich in Passivität um – der Säugling wendet sich verstört ab und erlahmt. Babys depressiver Mütter, deren affektiver Austausch mit dem Säugling ohnehin flacher ist, zeigen im „still face“-Experiment deutlich geringere Aktivität und affektives Engagement als Kontrollgruppenkinder (Field et al., 1985). Die Erwartung, nichts bewirken zu können, übertragen sie offenbar ebenso auf andere Beziehungen: Auch mit Fremden interagieren diese Säuglinge verhalten und lustlos (Field et al, 1988; zum Einfluß mütterlicher Wochenbett-Depression auf die Entwicklung des Kindes vgl. Cummings & Davies, 1994; Teti et al., 1995; Überblick bei Papousek, 2002).
Bei der entgegengesetzten affektiven Fehlabstimmung infolge von Überstimulation des Kindes durch die Mutter kommt es zu selbstregulativen Bemühungen des Säuglings, in dem er z.B. den Blick abwendet, um sein Erregungsniveau zu senken. Wenn die Mutter nun aufgrund von mangelnder Feinfühligkeit bzw. eigener Pathologie, etwa Kontrollbedürfnissen, Feindseligkeit, hoher Kränkbarkeit, diesen selbstregulativen Impuls des Säuglings mißachtet und darauf mit verstärkter Stimulierung reagert, wird der affektive Dialog gestört. Im Extremfall kommt es zu sich aufschaukelnden Spiralen von Verfolgen und Ausweichen im Blickkontakt („chase & dodge“, Beebe & Stern, 1977), die in einen Zusammenbruch des affektiven Dialogs münden. Nicht selten verfestigen sich diese Episoden zu einer Interaktionsstruktur, die durch beständige Gleichzeitigkeit von aversiver Zurückweisung und wechselseitiger Fixierung aufeinander geprägt ist und die an den psychoanalytischen Topos der „verfolgenden“ Mutter erinnert. Lichtenberg (1990) führt klinische Beobachtungen an erwachsenen Borderline-Patienten auf derlei Interaktionserfahrungen zurück, die durch „klebrige, klammernde Reizbarkeit“ und die Antizipation intrusiver und aversiver Beziehungsangebote geprägt sind. Der Autor unterscheidet zwischen „affektivem Vorder- und Hintergrund“: Ist der Hintergrund des Säuglings, so Lichtenberg, durch überwiegend niedere und mäßige Spannungszustände mit Kommunikationserfahrungen emotionalen „matchings“, durch Synchronizität und Reziprozität, Kontingenz und Selbstwirksamkeit geprägt, können auch Erfahrungen plötzlicher, hoher Spannung im Vordergrund, z.B. ein Schock-Trauma, hinreichend bewältigt werden. Umgekehrt führen Hintergrunderfahrungen überwiegend hoher oder abrupt wechselnder, nicht regulierter Spannungszustände mit interaktiven Erfahrungen des Sich-Verfehlens, der Überempfindlichkeit und Übererregbarkeit dazu, daß bereits geringe Irritationen im Vordergrund einen Zusammenbruch der selbstregulativen Fähigkeit des Säuglings auslösen.
Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht darin, so Lichtenberg, daß man „eine Parallele zwischen einem solchen Klima mit seinen unberechenbaren Interaktionen und den diskontinuierlichen Erfahrungen voller unberechenbarer Umschwünge von Expansivität zu Entleerung herstellen kann, wie sie für narzißtische Persönlichkeitsstörungen charakteristisch sind; das gleiche gilt für den Umschwung von ruhiger Zugewandtheit zu reizbarer Bosheit, typisch für Borderline-Persönlichkeiten.“ (ebd., S. 876).
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Auf einem solchen affektiven Hintergrund „überwiegend hoher oder abrupt wechselnder, nicht regulierter Spannungszustände“ lassen sich Mißbrauch und Mißhandlung als chronischer Zustand der Überstimulation sowie als Ergebnis eskalierender Interaktionsspiralen, Vernachlässigung dagegen als chronischer Zustand der Unterstimulation darstellen. Klinisch entsprechen die Zustandsbilder vernachlässigender bzw. mißhandelnder/ mißbrauchender Eltern – grob gesprochen - den oben beschriebenen pathologischen Mustern von Depression bzw. narzißtischer oder Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die Beziehungsmuster des „still face“ bzw. des „chase & dodge“ lassen sich daher als Vorformen bzw. als interaktionelle „Bausteine“ von Traumatisierung beschreiben. Denn sowohl Vernachlässigung als auch Mißhandlung brechen über das Kind i.d.R. nicht plötzlich herein, sondern stehen am Ende wechselseitiger Beziehungsbemühungen, die jedoch in der beschriebenen Weise entgleisen und zum traumatisierenden Akt führen (vgl. auch die „spill-over“-Hypothese der Mißhandlungsforschung, Engfer, 1988; Erel & Burman, 1995).
Entsprechend ihrer Theorie des sozialen Biofeedbacks (s. dazu die obigen Ausführungen) beschreiben Gergely & Watson (1996, 1999) zwei Formen pathologischer Affektspiegelung, deren eine durch Mangel an Markierung, deren andere durch Mangel an Kongruenz gekennzeichnet ist. Sie ähneln den o.g. Formen der Überstimulation bzw. der Fehlabstimmung infolge projektiv verzerrter Wahrnehmung und Interpretation der kindlichen Äußerungen.
Mangelnde Markierung liegt vor, wenn sich die Mutter, wie dies bei Borderline-Persönlich-keiten oft der Fall ist, aufgrund eigener Unfähigkeit zur Affektkontrolle durch den Affekt des Kindes „anstecken“ läßt, also z.B. bei Angst- oder Wutaffekten des Babys selber in Angst oder Wut gerät. Ihrem Affektausdruck fehlt dann die Markierung, d.h. der Als-ob-Charakter. Der Säugling kann dann erstens den Affekt nicht als zu sich selbst gehörig erleben, so daß der Prozeß der Affektwahrnehmung und –differenzierung gestört wird, zweitens keine symbolische Repräsentanz seines Affekts entwickeln und drittens von der Mutter keine Affektregulation i.S. der Beruhigung erfahren. Auf diese Weise wird seine Fähigkeit zur Affektkontrolle erodiert. Gergely et al. (2003) und Fonagy et al. (2004) nehmen an, daß diese Form pathologischer Affektspiegelung den Weg für eine Borderline-Entwicklung des Kindes ebnen kann.
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Mangelnde Kongruenz als zweite Form pathologischer Affektspiegelung liegt vor, wenn die Mutter den Affekt des Kindes zwar adäquat „markiert“, d.h. entsprechend mimisch, gestisch und sprachmelodisch rückmeldet, ihn inhaltlich aber nicht kongruent, d.h. falsch interpretiert, z.B. die kindliche Angst als Müdigkeit oder Hunger verkennt. Durch diese Fehlwahrnehmung der Mutter entsteht im Kind ein Gefühl der Inkongruenz zwischen seinem primären affektiven Erleben und der sekundären symbolischen Repräsentierung durch die Mutter. Nach Fonagy et al. (2004) führen derartige Invalidierungen und Uminterpretationen der kindlichen Gefühlszustände zu Phänomenen des „falschen Selbst“ (Winnicott, 1960 b) und zu narzißtischen Leeregefühlen, die in weiterer Folge nicht nur zu chronischen Verzerrungen der Affektabstimmung, sondern auch zu narzißtischen Persönlichkeitsstörungen führen können.
Besonders pathogen ist die Kombination von mangelnder Markierung und mangelnder Kongruenz, wie in Fällen von Mißhandlung und Vernachlässigung. Hier kommt es zu gravierenden Störungen nicht nur der Affektkontrolle, sondern auch der Mentalisierung (vgl. Kap. A.4.).
Die zerstörerische Wirkung früher Traumatisierung auf die Fähigkeit von Kindern, ihre Affekte zu regulieren sowie die eingeschränkte Fähigkeit traumatisierender Mütter, die Affekte ihrer Kinder richtig wahrzunehmen und angemessen zu beantworten, läßt sich auch durch die Ergebnisse der Mißhandlungforschung belegen, denn „emotion regulatory problems are among the best documented of the problems maltreated children display“ (Pollak et al., 1998, S. 813).
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Mißhandelte Kinder zeigen mehr aggressives Verhalten, emotionale Labilität und Negativität, Affektregulationsprobleme und situationsunangemessenen Affekt als nicht-mißhandelte Kinder (Beeghly & Cicchetti, 1994). Ebenso verfügen mißhandelte Kinder im Vergleich zu Kontrollkindern über eingeschränkte Fähigkeiten der Affektwahrnehmung, des Affektverständnisses und der Empathie (Camras et al., 1983; Main & Goldwyn, 1984).
Mißhandelnde Mütter leiden ebenfalls unter emotionalen Regulationsproblemen (Frodi & Lamb, 1980) und neigen zu verzerrter Wahrnehmung und Interpretation der affektiven Äußerungen ihrer eigenen und fremder Kinder. Sie identifizieren in Gesichtern von Säuglingen meist stereotyp zwei extreme kategoriale Affekte (z.B. Freude oder Wut), sind kaum in der Lage, subtilere emotionale Zustände wahrzunehmen (Butterfield & Ridgeway, 1993) und neigen zur Umdeutung positiver in negative Affekte (Kropp & Haynes, 1987).
Nicht selten geht Mißhandlung mit Vernachlässigung einher (Crittenden, 1985, 1988).
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Vernachlässigende Mütter sprechen mit ihren Säuglingen signifikant weniger als die Kontrollmütter (Esser et al., 1993). Nachdem das mütterliche Sprachverhalten u.a. ein potentes Übertragungsmedium depressiver Affekte ist (Murray et al., 1993), läßt sich die Apathie vernachlässigter Säuglinge als Depressionsäquivalent verstehen, das durch mangelnde sprachlich vermittelte Affektkommunikation induziert wird. Depressive Mütter berichten über erhöhte Schwierigkeiten in der affektiven Regulation der Beziehung zu ihren Kindern. Sie neigen ihnen gegenüber zu Feindseligkeit (Bosquet & Egeland, 2001) bzw. Rückzugsverhalten (Lovejoy et al., 2000), zu Vernachlässigung, harter Bestrafung und Mißhandlung, v.a. wenn sie in der eigenen Kindheit durch Mißbrauch oder Mißhandlung traumatisiert wurden (Banyard et al., 2003; Dubovitz et al., 2001). Ähnliches gilt für alk o hol- und drogenabhängige Mütter (Hans et al., 1999; Harmer et al., 1999).
Mißhandelnde und vernachlässigende Mütter scheinen also die Affekte ihrer Babies nicht nur inkongruent, sondern aufgrund ihrer leichten negativen Erregbarkeit bzw. einer depressiven Grundhaltung auch nicht markiert zu spiegeln. Die Säuglinge erfahren deshalb keine Affektregulation und können sekundäre Repräsentanzen ihrer Affekte gar nicht oder nur verzerrt entwickeln. Die daraus resultierenden „mismatchings“ zwischen Mutter und Kind führen immer wieder zu Fehlabstimmungen, Unter- und v.a. Überstimulationen. So kommt es insgesamt zu entgleisenden affektiven Dialogen, die sich in aversiven Zirkeln aufschaukeln und häufig zu akuten Traumatisierungen in Form von Mißhandlung, Vernachlässigung und Mißbrauch eskalieren.
Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht darin, daß früh traumatisierte Kinder ihre eigenen Affekte und die ihres Gegenübers nicht bzw. falsch wahrnehmen und beantworten. Früh traumatisierte Kinder fallen auf durch apathische affektentleerte Mimik (oft nach Vernachlässigung), durch wenig ausdifferenzierte chronifische Hypererregung (oft nach Mißhandlung) sowie durch falschen Affekt (z.B. angestrengtes „Lolita“-Dauerlächeln nach sexuellem Mißbrauch). Hier ist es ein zentrales therapeutisches Ziel, dem kindlichen Patienten wieder zu einem authentischen, differenzierten Affekterleben zu verhelfen, was im Wege der markierten und kongruenten Affektspiegelung im entwicklungsfördernden „Als-ob-Spiel“ erreicht werden kann (s.dazu auch Kap. A.4.). Da die Kinder in ihren sozialen Beziehungen aufgrund affektiver Fehlattribuierungen schnell in aggressive Verstrickungen geraten, muß auch mit übenden Verfahren an der „Grammatik der Gefühle“ und an der Impulskontrolle gearbeitet werden (vgl. Kap. B. 2.2.4.4.).
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Bei den beschriebenen Fehlabstimmungen im nonverbal-affektiven Dialog zwischen Mutter und Kind bzw. Analytikerin und Patient handelt es sich um präsymbolische Repräse n tationen des Implizit-Unbewußten, die nicht mit symbolischen Repräsentationen des Dynamisch-Unbewußten zu verwecheln sind.
Die Befunde der Säuglingsforschung haben die psychoanalytischen Konzepte der psychischen Repräsentanzenbildung entscheidend erweitert. „Während ehemals repräsentationale und symbolische Fähigkeiten traditionellerweise gleichgesetzt wurden, ist inzwischen anhand von Experimenten der Nachweis erbracht worden, daß rudimentäre repräsentationale – noch nicht symbolische – Fähigkeiten im zweiten Lebensmonat in Erscheinung treten.“ (Beebe & Lachmann, 2004, S. 83 ). Diese frühen interaktionellen Erwartungsmuster, die mittels Zeit, Raum, Affekt und Erregung organisiert werden, prägen das implizit-prozedurale Beziehungswissen (vgl. Kap. B.2.2.3.3.) und bleiben „sowohl im gesamten Leben wie im Behandlungszimmer wirksam – zumeist außerhalb des Bewußtseins. Sie mögen sich als unbewußte Erinnerungen, Enactments oder nonverbale Interaktionsmuster zu erkennen geben.“ (ebd., S. 101).
Verschiedene Psychoanalytiker haben verschiedene Begrifflichkeiten entwickelt, diese präsymbolischen Repräsentationen des Säuglings zu konzeptualisieren. Fast (1985) spricht von „Event-Schemata“, Lichtenberg (1983, S. 26) von „perzeptuell-affektiven Handlungsmustern“, Stern (1985, S. 143) von „generalisierten Interaktionsrepräsentanzen“ (RIGs) bzw. in seinem neueren, erweiterten Modell von „Schemata des Zusammenseins“ (Stern, 1998 a, Kap. 5). Diese Schemata sind jedoch im impliziten Gedächtnis gespeichert (vgl. Kap. A.3.3.3.1.) und daher einer sprachlichen Reflexion kaum zugänglich.
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Anders als das klassisch-psychoanalytische Dynamisch-Unbewußte, das ursprünglich symbolisch repräsentiert war und nachträglich aus neurotischen Gründen i.S. Lorenzers de-sym-bolisiert, d.h. verdrängt und dadurch sekundär unbewußt wurde, handelt es sich bei den präsymbolischen Repräsentationen um Implizit-Prozedural-Unbewußtes, das pr i mär unb e wußt ist und meist auch bleibt.
Die klinische Relevanz für die Behandlung früh traumatisierter Kinder besteht darin, daß diese Manifestationen impliziten Beziehungswissens eine nonverbale „Beantwortung“ der Analytikerin erfordern, um mit dem Patienten in Kontakt zu kommen und eine interaktive Beziehungsregulation zu etablieren. Eine verbale Deutung dieser maladaptiven Erwartungsmuster des Patienten kann, wenn überhaupt, meist erst in fortgeschrittenen Phasen der Therapie erfolgen, wenn sich die Symbolisierungsfähigkeit der Patienten verbessert hat (vgl. Kap. A.2.2.).
Wie bisher dargestellt, haben die Befunde der Säuglingsforschung die verschiedenen Ursachen erhellen können, auf die chronische „mismatchings“ und nachhaltige Störungen der Entwicklung von Selbst- und Affektregulation zurückzuführen sind. Diese Befunde sind für das Verständnis und die Behandlung früh traumatisierter Kinder auch aus analytischer Sicht interessant, obwohl sie aus einer empirischen Beobachtungswissenschaft stammen, die nach anderen als den traditionell hermeneutischen Erkenntnisprinzipien der Psychoanalyse arbeitet (zur wissenschaftstheoretischen Diskussion vgl. die Ausführungen im Einleitungskapitel). Im Sinne der These der indirekten Relevanz soll im Folgenden gefragt werden, ob die Befunde der Säuglingsforschung, die der klassisch psychoanalytischen Entwicklungspsychologie in zahlreichen Punkten widersprechen, geeignet sind, letztere zu relativieren.
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Diesen Standpunkt vertritt am entschiedensten der Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Martin Dornes (1993, 1997, 2000, 2006) auf den ich mich im Folgenden beziehe. In seinen Veröffentlichungen setzt er systematisch den beobachteten Säugling in Kontrast zum klinisch „rekonstruierten“ Säugling und zieht daraus zahlreiche Schlüsse, die auf eine Revision oder zumindest eine Relativierung zentraler metapsychologischer Konstrukte der Psychoanalyse, insbesondere des objektbeziehungstheoretischen Mainstream-Entwicklungsmodells von Mahler et al. (1978) hinauslaufen.
So sei angesichts der stimulationssuchenden Aktivität des beobachteten Säuglings nicht nur das Konzept des „ normalen“ infantilen Autismus überholt (Dornes, 1993, S. 57). Auch das Symbiose-Konzept erweise sich gegenüber Sterns (1985) Theorie des Kern-Selbst als nicht mehr haltbar. Das Kernselbstempfinden des Säuglings sei durch eine prinzipielle Getrenntheit vom Objekt geprägt („self-versus-other“), die auch nicht verloren gehe, wenn der Säugling intensive Gemeinschaftserlebnisse mit der Pflegeperson („self-with-other“) habe (Dornes, 1993, S. 79 ff.). Diese „self-with-other“- Zustände könnten aus heutiger Sicht als „Nachfolger der Symbiose“ (ebd., S. 102) verstanden werden. Im psychoanalytischen Lagerstreit um die klinisch relevante Symbiose- Phantasie erwachsener Patienten bietet Dornes in Anlehnung an Pine (1992) eine integrative Theorie der Momente an: Danach erhielten symbiotische Szenen im Säuglingsleben wie z.B. das sprichwörtliche „selige Einschlafen an der Mutterbrust“ dann eine interaktionelle Bedeutungsvergrößerung, wenn die Mutter, weil sie diese Momente stark benötigt, sie über ihr natürliches Maß hinaus verlängere oder, weil sie sie fürchtet, verkürze. Erwachsene Ängste vor oder Wünsche nach „symbiotischer Verschmelzung“ hätten ihren Ursprung dann nicht in einer „omnipotent-halluzinatorisch-fusionären“ Phantasie des Säuglings (Mahler), sondern in realen Interaktionsszenen, die durch die pathologischen Bedürfnisse der Mutter verzerrt wurden (Dornes, 2000, S. 32 ff.).
Mit dem Symbiose-Konzept gerate, so Dornes, auch das Konzept der Spaltung in „gute“ und „böse“ Selbst- und Objektrepräsentanzen ins Wanken. Die Fähigkeit des Säuglings, die Zeit- und Intensitätsstruktur sowie die Kohärenz der Form und der Bewegung differenziert wahrzunehmen, widerspreche der Annahme eines fragmentierten Selbst- und Objekterlebens. Dies schließe nicht aus, daß es in Zuständen hoher affektiver Belastung des Säuglings zu Zusammenbrüchen der ganzheitlichen Wahrnehmung kommen könne, die sich, wenn solche „Momente“ paradigmatisch für die Eltern-Kind-Beziehung werden, in späterem Alter als klinische Spaltungs-Phänomene manifestieren könnten. Dies seien jedoch Ausnahmesituationen, die keinesweges eine „normale“ Entwicklungsphase des Säuglings darstellten (Dornes, 1997, S. 32 ff.).
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Ebenso kritisch sei auch die Mahlersche Wiederannäherungsphase bzw. –krise zu betrachten. Die Angst vor dem „Wiederverschlungenwerden“, die zum „Symbiose“-Konzept gehört, dürfte, so Dornes (1997, S. 170 ff.) im Lichte der genannten Kritik ebenso zu relativieren sein wie das Postulat einer verstärkten „Grandiosität“ in der Übungsphase, das Emde (1994) anhand empirischer Kleinkindbeobachtungen bezweifle. Das ambivalente Hin und Her des Kleinkindes („Anklammern und Wegstoßen“) sei dagegen eher Ausdruck ambivalenter Bindung als einer universellen Entwicklungsphase (Dornes, 1997, S. 178 f.).
Schließlich widerlegten die Befunde der Säuglingsforschung auch das klassisch psychoanalytische Triebkonzept, insbesondere das des Todestriebes (ebd., S. 244 ff.). Erstens spreche das breite Affektrepertoire des Säuglings gegen die Annahme einer simplen Gut/Böse-Dicho-tomie, zweitens belegten Studien, daß Säuglinge bezüglich aggressiver Impulse über zwei biopsychische Motivationssysteme verfügen: das „assertive“ System (Selbstbehauptung), das sich selbstaktivierend als Neugier- und Explorationsverhalten manifestiere, und das „aversive“ System, das nur durch Bedrohung aktiviert werde, zum Rückzug führe oder wenn dies nicht möglich sei, zu reaktiver Aggression (Lichtenberg, 1989, Kap. 7; Stechler & Halton, 1987). Statt von den Trieben wird deshalb in der psychoanalytischen Säuglingsforschung heute von den Affekten als primärem Motivationssystem ausgegangen (vgl. Lichtenberg, 1989; 2000).
Diese hier nur kurz angerissene Kritik der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, die unter der Metapher des „kompetenten Säuglings“ (Dornes, 1993) zusammengefaßt werden kann, rief in der psychoanalytischen Community widersprüchliche Reaktionen hervor. Während die Mehrheit sich abwartend verhielt, einige den Wiederanschluß der Psychoanalyse an den entwicklungspsychologischen „state of the art“ feierten, holten andere Kollegen, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, zum „Gegenschlag“ aus. Die Kritiker stellen sich als zwei Gruppen mit unterschiedlichen Motiven dar: Bei der einen handelt es sich um Kollegen, die die Befunde der Säuglingsforschung ernst nehmen, jedoch gewisse falsche Gewichtungen, Verkürzungen, übersehene Aspekte anmahnen (z.B. Ahrbeck, 2007 b, dazu weiter unten). Die andere Gruppe dagegen (Green, 2000; Wolff, 1996; Zepf, 2006) beruft sich in erster Linie auf die epistemologischen Differenzen zwischen Psychoanalyse und Säuglingsforschung, die es ihrer Meinung nach gerechtfertigt erscheinen lassen, die genannten neuen Befunde schlichtweg als irrelevant für die Psychoanalyse zu erachten (vgl. dazu auch die Ausführungen im Einleitungskapitel).
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Der allgemeine Tenor lautet, daß es sich bei den Befunden der Säuglingsforschung nur um Beobachtungen äußeren Verhaltens handele und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen immer nur Interpretationen eines Erwachsenen seien, weshalb das subjektive Erleben des Säuglings verfehlt werde. Daher lägen allen Versuchen immer a-priori-Annahmen zugrunde, die zu entsprechenden selektiven Wahrnehmungen und eklektischen Forschungsstrategien führten. Deshalb postuliere man auf der Basis eines enumerativen Induktionismus Theorien, die i.S. zirkulärer Argumentation lediglich die a-priori-Annahmen „belegen“ könnten. Der Anspruch der Säuglingsforschung, durch extraklinische, prospektiv-beobachtungsorientierte Forschung das kritisierte genetisch-rekonstruktive Vorgehen der Psychoanalyse zu überwinden, werde daher nicht eingelöst: „The methodological innovation does not refine clinical theory; it simpliy reifies the clinical hypothesis.” (Wolff, 1996, S. 373). Aus diesem Grund seien “psychoanalytically informed infant observations …essentially irrelevant for psychoanalysis as a theory of personal meanings and hidden motives.” (ebd., S. 386 f..) Diese eindeutige Stellungnahme Wolffs wird von Green noch übertroffen, der die Säuglingsforschung als „science-fiction“ bezeichnet und ihren Verfechtern unterstellt, „daß sie versuchen, die psychoanalytische Theorie zu zerstören“ (2000, S. 453).
In deutlich gemäßigterem Ton äußert sich Zepf (2006), der jedoch, ähnlich wie Wolff, die eklektischen Strategien der Säuglingsforschung kritisiert, wodurch „im Zuge analoger und zirkulärer Schlußbildungen … das gefunden (werde), was ohnehin schon gewußt wurde ..“ (ebd., S. 136). Der Autor versucht anhand der Kritik zweier ausgewählter Theoriebestandteile der Säuglingsforschung, die Irrelevanz der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse zu belegen. So stellt er zum einen Sterns These des Kern-Selbst in Frage, da seiner Meinung nach „die Bildung eines Selbstbewußtseins an Sprache gebunden“ sei (ebd., S. 134). Zum anderen bezweifelt er die von der Säuglingsforschung postulierte A f fekt-Gefühls-Konkordanz. Dem ersten Kritikpunkt hält Dornes entgegen, daß „auch Schimpansen, die nicht über Sprache verfügen, sich im Spiegel erkennen“ (2006, S. 153), daß somit die Behauptung, Sprachfähigkeit sei die Voraussetzung für Selbst-Bewußtsein, anzuzweifeln sei. In der Frage der Konkordanz von Affektausdruck und Affekterleben weist Dornes darauf hin, daß die Mehrheit der Autoren eine entsprechende Konkordanz zumindest für plausibel halte, zumal ja neben dem Affektausdruck weitere Indikatoren wie „der situative Kontext zusammen mit anderen Verhaltensweisen begründete Schlußfolgerungen“ auf das erlebte Gefühl erlaubten (ebd., S. 148).
In diese Richtung der Plausibilität der Befunde der Säuglingsforschung argumentieren auch Psychoanalytiker wie Stern (2000), die den Befunden der Säuglingsforschung als Kliniker zwar keine direkte, wohl aber eine indirekte Relevanz zusprechen (vgl. Einleitungskapitel). Im Sinne der Forderung nach externer Kohärenz psychoanalytischen Wissens (Strenger, zit. nach Leuzinger-Bohleber, 1995) argumentiert letztlich auch Martin Dornes, dem die Idee externer Kohärenz unverzichtbar erscheint, „ auch wenn dieser Bezugspunkt ständig im Fluß ist.“ (2006 a, S. 46).
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Aus ganz anderer Richtung nähert sich Ahrbeck (2007 b) der Säuglingsforschung. Er erkennt ihre Verdienste an, kritisiert jedoch, daß sie ein allzu einseitiges Bild des „kompetenten“ Säuglings zeichne und deshalb sowohl seine Konflikthaftigkeit als auch seine zentrale Angewiesenheit auf das Primärobjekt deutlich vernachlässige. Vor allem diese existentielle Angewiesenheit des Säuglings werde weitgehend geleugnet, da durch die spezifische Forschungsmethodik, das gewählte Zeitfenster der Beobachtung und die Interpretationsraster nur ein bestimmter Ausschnitt seiner Lebenserfahrung erfaßt werde.
„Denn was ist mit der anderen Seite der kindlichen Entwicklung, mit dem, was man alltäglich beobachten kann: Dem verzweifelten oder auch wütenden Schreien, das Kinder zeigen, wenn sie unter einer Bedürfnis- oder Triebspannung stehen? Ihrer Angst, die entsteht, wenn sich geliebte Objekte entfernen? Ihrer Hilflosigkeit, wenn sie Schmerzen ausgeliefert sind, ihrer Ohnmacht gegenüber den Gesetzen der äußeren Realität und der Übermacht der Erwachsenen?“ (2007 b, S. 42) |
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Ahrbeck bezieht sich auf Metzger (1999), der anhand von Daniel Sterns „Tagebuch eines Babys“ (1995) genau diese vernachlässigte Dimension nachzeichnet. An mehreren Beispielen („Hunger“/“Stillen“ und „plötzliche Trennung“) „betont Metzger das große Maß an triebhafter Erregung, Hilflosigkeit und Ohnmacht des Säuglings, das in der Beschreibung Sterns zum Ausdruck kommt.“ (Ahrbeck, 2007 b, S. 44). Es mache den Eindruck, so Ahrbeck, als ob Stern von den Fähigkeiten des Säuglings so geblendet sei, daß er nur dessen „Kompetenz“ sehe und nicht „die heftigen Triebbedürfnisse und die innere Zerrissenheit des Säuglings“, die ebenso zu seinem Leben gehören „wie sein elementares Angewiesensein auf Andere“. In diesem Sinne müsse Sterns Theorie „beträchtlich erweitert werden, damit ein umfassendes Bild der frühkindlichen Entwicklung entsteht.“ (ebd., S. 46)
In seiner Replik auf Ahrbeck weist Dornes (2007) anhand verschiedener Beispiele aus der Kleinkindforschung (Interaktion depressiver Eltern mit ihrem Säugling, Bindungsstress unsicher gebunder Kinder, Problem der „Schreibabys“) nach, daß die Säuglingsforschung ihr Augenmerk sehr wohl auch auf die „nicht paßgerechte“ Interaktion zwischen Säugling und Fürsorgeperson lenke. Der Säugling sei beides, „kompetent in seiner Interaktionsgestaltung und abhängig vom Interaktionspartner, um diese Kompetenz zu realisieren.“ (ebd., S. 66). Dennoch gibt Dornes Ahrbeck insofern Recht, als er einräumt, daß die Säuglingsforschung „nicht immer hinreichend die in der Beziehungsfähigkeit auch enthaltene Abhängigkeit thematisiert hat.“ (ebd., S. 67)
Ich selbst neige bei aller Berechtigung der genannten Kritik dazu, der Kleinkindforschung ihre Verzerrungen, Einseitigkeiten und falschen Gewichtungen zu verzeihen und eher ihre Verdienste hervorzuheben. Selbst wenn der von Psychoanalytikern wie Ahrbeck (2007 b) vorgebrachte Einwand berechtigt ist, die Säuglingsforschung vernachlässige den Konflikt, so ist diese Kontroverse für die vorliegende Arbeit nicht von zentraler Bedeutung. Früh traumatisierte Kinder können nämlich, wie in Kap. A.2.2. begründet, aufgrund der unzureichend entwickelten Fähigkeit zur Symbolisierung Konflikte im klassischen Sinne ohnehin nur sehr begrenzt erleben. Stattdessen ist hervorzuheben, daß ein vertieftes Verständnis der frühen nonverbalen Kommunikation, welches für das Entschlüsseln der präverbalen Enactments früh traumatisierter Kinder von großem Wert ist, erst durch die Säuglingsforschung möglich wurde.
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Ein weiteres Verdienst der Säuglingsforschung, das sich in meiner klinischen Arbeit immer wieder erweist, besteht darin, daß sie das Bild von der Entwicklung des Kindes verändert hat, indem sie die Bedeutung niederer Spannungszustände für die Verinnerlichung von Beziehungserfahrungen hervorgehoben hat (Dornes, 2000, S. 25 ff.). Anders als v.a die Triebtheorie, die die Entwicklung über hohe Erregungszustände definiert (orale Spannungen, anale Kämpfe, ödipales Drama), erklären Stern (1985, S. 271) und Lichtenberg (1983, S. 114), daß die psychische Struktur stärker durch die alltäglichen, undramatischen Beziehungserfahrungen geprägt wird als durch außergewöhnliche Ereignisse. Dornes (2000, S. 36) hat diese Erkenntnis in Anlehnung an Frommer & Tress (1998) in das Bild des „romantischen“ Säuglings gekleidet (im Gegensatz zum „heroischen“ der klassischen Psychoanalyse). Er weist auf die Notwendigkeit hin, entwicklungspsychologisch wie behandlungstechnisch Harmonie als Entwicklungsmotor (vgl. die „Affektabstimmung“ bei Stern, 1985) neben dem klassisch-analytischen Topos der konfrontierenden Konfliktanalyse gleichberechtigt anzuerkennen.
Es wurde deutlich, daß für früh traumatisierte Kinder Entwicklung und neues „Beziehungslernen“ am Anfang einer Therapie nur in Zuständen niederer Spannung möglich ist, weil bereits geringe Spannungssteigerungen zu Übererregung oder Dissoziation führen können. Ein konfliktorientiertes Vorgehen klassischer Prägung hilft hier nicht weiter, stattdessen ermöglichen gerade die Befunde der Säuglingsforschung, sich für den frühen nonverbalen affektiven Dialog zu sensibilisieren. Dadurch kann mit dem traumatisierten Kind die Beziehung am „Ort der Entgleisung“ (Topel, 2004) wiederaufgenommen werden. Im Wissen um die Verletzlichkeit dieser Beziehung wird auch das „Angewiesensein“ des Säuglings (i.S. Ahrbecks, 2007 b) bzw. des früh traumatisierten Patienten auf eine responsive Bindungsfigur immer wieder spürbar.
Im Kapitel A.3.1. wurden ausgewählte Befunde der Säuglingsforschung dargestellt, um die für früh traumatisierte Kinder zentralen Prozesse gestörter Affektregulation sowie en t gleisender Pr o zesse affektiver Kommunikation zu erhellen.
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Dazu wurde zunächst ein kurzer Überblick über zentrale Ergebnisse der Säuglingsforschung gegeben, die das Ineinandergreifen der angeborenen sozialen Voranpassung des Säuglings (Emde, 1991 a) mit den intuitiven elterlichen Kompetenzen (Papousek & Papousek, 1987) herausgearbeitet hat (Kap. A.3.1.1.1.).
Im nonverbal-affektiven Austausch mit der Mutter lernt der Säugling, seine Affekte zu regulieren. Neben der neurophysiologischen „On-line“-Regulation durch mimische Imitation und „Affektansteckung“ (primäre Affektregulation) erfolgt die sekundäre Affektregulation auf dem Wege der „Off-line“-Regulation über „markierte“ und kongruente mütterliche A f fektspiegelung, wie sie Gergely & Watson (1996, 1999) in ihrer Theorie des sozialen Bi o feedback entwickelt haben (Kap. A.3.1.1.2.).
Dieser präverbale Mutter-Kind-Dialog kann jedoch auch en t gleisen (Kap. A.3.1.2.). Neben situativen und Temperamentsfaktoren sind hierfür affektive Fehlabstimmungen verantwortlich, die sich als Nichtabstimmung, selektive Abstimmung oder Einstimmung (Stern, 1985) manifestieren. Im Sinne einer aufsteigenden Linie lassen sich unterschiedlich pathogene Grade von Fehlabstimmungen identifizieren: Unter- oder Überstimulationen des Säuglings („still face“, „chase & dodge“), mißlingende Affektspiegelung durch die Eltern (fehlende „Markierung“ oder Kongruenz, Gergely & Watson, 1996), mangelnde elterliche Feinfühligkeit in spezifischen Interaktionsmodi (koaktiv, alternierend, sequentiell, vgl. Beebe, 1985; Lichtenberg, 1983) bzw. projektiv verzerrte Wahrnehmung und Interpretation kindlicher Äußerungen (Brazelton & Cramer, 1990), welche aus elterlichen unbewußten Konflikten stammen können („Gespenster im Kinderzimmer“, Fraiberg et al., 1975). Diese Linie von Fehlabstimmungen kulminiert in massiven Traumatisierungen wie affektiver Deprivation (Vernachlässigung) bzw. Kurzschlußreaktionen (Mißhandlung). Als Ergebnis solcher „mismatchings“ zwischen Mutter und Kind läßt sich den Befunden der Mißhandlungsforschung (Kap. A.3.1.2.4.) entnehmen, daß unter affektiven Regulations- und Attributionsproblemen nicht nur die Kinder, sondern v.a. auch ihre Mütter leiden.
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Die genannten affektiven Fehlabstimmungen finden, wenn sie auf Dauer gestellt sind, ihren Niederschlag als präsymbolische Repräsentationen im Unbewußten des Säuglings (Kap. A. 3.1.3.). Sie reinszenieren sich in der klinischen Situation, müssen von der Behandlerin erkannt und in ebenso nonverbaler Form adäquat „beantwortet“ werden.
Nicht zuletzt stellen die Befunde der Säuglingsforschung eine Herausforderung für bestimmte Postulate der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie dar. In Kap. A.3.1.4. wurden diese diskutiert.
Frühe Traumatisierungen ergeben sich aus der Sicht der Säuglingsforschung nicht nur aus einschneidenden, umschriebenen Überwältigungen wie Mißhandlung und Mißbrauch, die sich in dramatischen, affektgeladenen Situationen ereignen. Die Säuglingsforschung hat den Blick besonders auf die chronischen subtilen Verzerrungen von Interaktionen gelenkt, die als Kontinuum sich akkumulierender pathologischer Muster (Stern, 1985) i.S. kumulativer Traumatisierung zu verstehen sind. Diese bilden nach Lichtenberg (1990) den affektiven Hintergrund, auf dem dann aktuelle Vorfälle und Ereignisse im Vordergrund verarbeitet werden. Je nachdem, wie stabil die affektive Hintergrunderfahrung des Säuglings ist, können Erfahrungen plötzlicher hoher Spannung im Vordergrund dann entsprechend gut oder schlecht bewältigt werden.
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In solchen Kontexten sich verfehlender Interaktionen und entgleisender affektiver Dialoge bei dauerhaft hohen bzw. abrupt wechselnden Spannungszuständen entsteht ein familiäres Beziehungsklima, das alle Beteiligten überfordert. Kommen nun weitere biologische und psychosoziale Risikofaktoren, anstehende Entwicklungsaufgaben, eine besondere Vulnerabilität oder kritische Lebensereignisse hinzu, sind Entwicklungspathologien und Traumatisierungen unterschiedlichster Art programmiert.
Weil sich die kindliche Bindung, fundamentale Voraussetzung für den Erwerb basaler psychosozialer Kompetenzen, in den ersten 12-18 Monaten entwickelt, wirken Traumatisierungen wie Vernachlässigung, Mißbrauch und Mißhandlung in diesem Zeitraum besonders verheerend. Unsichere, v.a. desorganisierte Bindung (bei mißhandelten Kindern bis zu 80%, vgl. Carlson et al., 1989) ist die Folge. Für die Analytikerin sind die Kenntnis von Phänomenlogie, Ursachen und Folgen insbesondere desorganisierter Bindung von eminenter Wichtigkeit, um bindungstypische Verhaltensmuster früh traumatisierter Kinder zu erkennen, Behandlungsfehler zu vermeiden und durch bindungsorientierte Praxis die Entwicklung einer sicheren Bindung, nicht zuletzt als grundlegende Voraussetzung für das Gelingen der Psychotherapie, zu fördern.
Im Folgenden sollen lediglich einige ausgewählte Befunde der Bindungsforschung vorgestellt werden, die zum Verständnis von Bindungsverhalten (Kap. A.3.2.1.1.) und Bi n dungsrepräse n tation (Kap. A.3.2.1.2.) unverzichtbar sind. Darauf aufbauend werden dann im Anschluß Phänomenologie (Kap. A.3.2.2.1.), Ursachen (Kap. A.3.2.2.2.) und Folgen (Kap. A. 3.2.2.3.) desorganisierter Bindung erläutert. Ähnlich wie bei der Darstellung der Säuglingsforschung sollen auch hier wieder (im vorletzten Kapitel A.3.2.3.) anhand der unterschiedlichen Diskursrahmen von Psychoanalyse und Bindungstheorie Möglichkeiten und Grenzen einer interdisziplinären Kooperation kritisch beleuchtet werden. Eine Z u sammenfassung (Kap. A.3.2.4.) beschließt das Kapitel.
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Das kindliche Bindungssystem stellt ein eigenständiges Motivationssystem dar, das mit anderen Motivationssystemen (Explorations- und Furchtsystem) interagiert, als evolutionäres Erbe von Geburt an vorhanden ist und sich im Laufe des ersten Lebensjahres auf eine oder mehrere Bindungspersonen konzentriert (Bowlby, 1969, 1973, 1980). In Komplementarität mit dem elterlichen Fürsorgesystem gewährleistet es optimale Entwicklungsanpassung. Die Bindungserfahrungen schlagen sich in inneren Arbeitsmodellen (Bowlby, 1973) nieder, die sich zunächst nur auf die erwartete Verfügbarkeit der Bindungsperson (sichere Basis, Ainsworth, 1963) beziehen, sich im weiteren Verlauf über Assimilations- und Akkomodationsprozesse ausdifferenzieren (Fremmer-Bombik, 1995).
Um die Bindung von 12 bzw. 18 Monate alten Säuglingen/Kleinkindern zu messen, entwickelten Ainsworth et al. (1978) eine standardisierte experimentelle Prozedur, die sog. Fremde Situation. Sie besteht aus acht aufeinanderfolgenden, jeweils dreiminütigen Episoden, in denen der Säuglings zweimal einer kurzen Trennung von der Mutter ausgesetzt wird. Dadurch sowie durch die fremde Umgebung (Laborzimmer mit zwei Stühlen und etwas Spielzeug) und den Eintritt einer fremden Person, die kurz Kontakt aufnimmt und wieder geht, gerät der Säugling unter Stress, der sein Bindungssystem aktiviert. Anhand der Reaktion des Kindes auf die Trennung und v.a. auf die Wiedervereinigung mit der Mutter lassen sich drei verschiedene Bindungsmuster identifizieren:
Kinder mit sicherer Bindung (Typ B) reagieren mit Unruhe bis Protest auf den Weggang der Mutter, unterbrechen ihr Spiel und suchen gelegentlich nach ihr, lassen sich von der fremden Person nur wenig trösten. Auf die Wiederkehr der Mutter reagieren sie mit freudiger Erleichterung, suchen sofort ihre Nähe, wenn nötig, ihren Trost und beginnen nach einer Weile wieder explorativ zu spielen. Dies Verhalten spiegelt ein „inneres Arbeitsmodell“ wieder, daß durch die Gewißheit charakterisiert ist, in Notsituationen Trost und Sicherheit bei der Bindungsperson zu finden.
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Kinder mit unsicher-vermeidender Bindung (Typ A) ignorieren weitgehend den Weggang der Mutter, fahren in ihrem Spiel scheinbar unbeirrt fort und interagieren mit der Fremden manchmal sogar lebhafter als mit der Mutter. Nach der Wiederkehr der Mutter zeigen sie kaum eine Reaktion, begrüßen sie, wenn überhaupt nur flüchtig, vermeiden Blickkontakt und körperliche Nähe. Auch wenn sie äußerlich ruhig wirken, belegen Cortisol-Messungen des Speichels (Spangler & Grossmann, 1993), daß sie erheblich unter Stress stehen. Dieses Verhalten deutet auf ein „inneres Arbeitsmodell“ hin, das durch mangelndes Vertrauen auf die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson sowie den frühzeitigen Versuch geprägt ist, die daraus resultierende affektive Erregung zu minimieren, um eine Zurückweisung durch die Bindungsperson zu vermeiden.
Kinder mit unsicher-ambivalenter Bindung (Typ C) reagieren mit Unruhe und Weinen auf die Trennung, wollen die Mutter oft nicht gehen lassen. Von der Fremden lassen sie sich nur widerwillig trösten. Wenn die Mutter zurückkehrt, begrüßen sie sie zwar, wechseln in ihrer Reaktion aber zwischen der Suche nach Nähe und aggressiver Kontaktabwehr. Sie klammern und quengeln, lassen sich nicht wirklich beruhigen und können daher ihre spielerische Exploration auch nicht wieder aufnehmen. Dies Verhalten signalisiert ein „inneres Arbeitsmodell“, das durch hohe Inkonsistenz der emotionalen Verfügbarkeit der Bindungsperson sowie die Strategie gekennzeichnet ist, die trennungsbedingte affektive Erregung zu maximieren, um dadurch die Zuwendung der Bindungsperson zu sichern.
Main & Solomon (1986) identifizierten später ein weiteres Bindungsverhalten, das sie zunächst als „nicht klassifizierbar“, später als desorganisiert/desorientierte Bindung (Typ D) bezeichneten. Es ist charakterisiert durch eine Mischung der obigen Muster (z.B. Kontaktsuche, aber Blickabwendung; extreme Vermeidung, aber Weinen) sowie durch andere bizarre Verhaltensweisen (stereotype Bewegungssequenzen, plötzliches Erstarren, Grimassieren, abruptes Sich-Fallen-Lassen etc., vgl. Main, 1995b). Dieser D-Typ gilt jedoch nicht als eigenständige Kategorie, sondern liegt quer zu den Typen A bis C, d.h. es gibt Kinder mit vermeidend-desorganisierter, ambivalent-desorganisierter und sogar sicher-desorganisierter Bindung. Die desorganisierte Bindung ist also in erster Linie Ausdruck des Zusammenbruchs der Bindungsstrategie A-C bzw. der Widersprüchlichkeit des bindungsrelevanten „inneren Arbeitsmodells“ (vgl. ausführlich A.3.2.2.1.)
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Als Determinante der Bindungsqualität identifizierten Ainsworth und Mitarbeiter (Ainsworth et al., 1974, 1978) die mütterliche Feinfühligkeit. Darunter ist die Wahrnehmung und zutreffende Interpretation der Äußerungen des Säuglings sowie die prompte und angemessene, d.h. dem Entwicklungsstand entsprechende Reaktion zu verstehen (Grossmann & Grossmann, 1991). Mütter, die im ersten Lebensjahr die Signale ihres Kindes feinfühlig (d.h. prompt und angemessen) beantworteten, hatten im Fremde-Situations-Test sicher gebundene Kinder. Mütter, die inkonsistent reagierten, d.h. manchmal feinfühlig, manchmal zurückweisend und/oder überbeschützend, erhielten eher unsicher-ambivalent gebundene Kinder. Mütter, die mit kindlichem Kummer und Trostbedürfnissen i.d.R. zurückweisend umgingen, hatten in der Mehrzahl unsicher-vermeidende Kinder.
Was die Feinfühligkeit der Väter anbelangt, so hat sie v.a. während kindlicher Exploration (als „feinfühlig herausforderndes“ Spielverhalten im Zusammenspiel mit ihren zweijährigen Kindern) die gleiche Vorhersagekraft für sichere Bindung wie mütterliche Feinfühligkeit in der Fremde Situation (Grossmann, 1997). Mit „feinfühlig herausfordernd“ ist ein Spielverhalten des Vaters gemeint, das dem Kind die Grundlage für ein Gefühl von Autonomie und Freude am Tun legt, es in seiner Aktivität unterstützt, es gleichzeitig im Sinne der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Wygotski, 1987) zu weiteren autonomen Erfahrungen anregt (Grossmann, 2000). So scheint es eine Art elterliche Rollenteilung zu geben, nach der die mütterliche Feinfühligkeit für die kindlichen Bindungssignale und die väterliche Feinfühligkeit für die kindliche Explorationswünsche die höchste Vorhersagekraft für die kindliche Bindungssicherheit besitzen (Grossmann, 2001).
Seit den Achtziger Jahren ist die Bindungstheorie dazu übergegangen, auch die mentalen Repräsentationen dieser Bindungserfahrungen zu untersuchen („move to the level of representation“, Main et al., 1985) die sich bei Kindern im symbolischen Spiel, Phantasien und sprachlichen Mitteilungen ausdrücken.
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Für Kinder ab fünf Jahren findet speziell der auf Klagsbrun & Bowlby (1976) zurückgehende projektive Separaton Anxiety Test (SAT) Anwendung, der aus einer Auswahl von Bildern mit bindungsrelevanten Szenen besteht (vom Gute-Nacht-Kuß bis zum Abschied vor zweiwöchiger Reise, Slough & Greenberg, 1990). Die Kinder sollen beschreiben, wie sich das abgebildete Kind in der Trennungssituation fühlt und Lösungen vorschlagen. Dabei zeigen sich auf der repräsentationalen Ebene analoge Ergebnisse zu den Befunden der „Fremde Situation“: Sicher gebundene Kinder interpretieren die Gefühle der abgebildeten Kinder richtig und schlagen adäquate Lösungen vor (z.B.: die Eltern anrufen, zur Oma gehen etc.). Vermeidend gebundene beschreiben die Kinder auf den Bildern zwar auch oft als „traurig“, wissen aber meist keine Lösung. Die desorganisiert gebundenen Kinder schreiben den Testbild-Kindern oft widersprüchliche Gefühle zu (zB. „traurig“, „fröhlich“), werden unruhig, flüstern plötzlich, schlagen bizarre Lösungen vor (z.B. „sich im Schrank einschließen“, „sich umbringen“, vgl. die Studie von Main & Cassidy, 1988).
Bei jüngeren Kindern (ab drei Jahre) wird die Story Completion-Technik angewandt, bei der mit Puppen bindungsrelevante Szenen um Trennung und Wiedervereinigung vorgespielt werden, für die die Kinder dann im Weiterspielen Lösungen finden sollen (Attac h ment Story Completion Task, ASCT, vgl. Bretherton et al., 1990; Gloger-Tippelt, 1999). Sicher gebundene Kinder finden auch hier wieder kreative und phantasievoll Lösungen, z.T. mit dramatischem Höhepunkt und glücklichem Ende, während die Geschichten der desorganisiert gebundenen Kinder häufig in Katastrophen enden (nach Abfahrt der Eltern fängt das Haus an zu brennen, die Eltern haben einen schrecklichen Verkehrsunfall etc. (vgl. Solomon et al., 1995).
Für die mittlere Kindheit wurde von Target et al. (2002) in Anlehnung an das Erwachsenen-Bindungs-Interview („Adult Attachment Interview“, vgl. George et al., 1996, siehe unten) das Child Attachment Interview (CAI) entwickelt, das auf verbalem Wege die Bindungserfahrungen von 7-12jährigen Kindern zu erfassen sucht. Dabei werden den Kindern Fragen über sie selbst sowie ihre aktuellen Beziehungen zu den Eltern gestellt („Nenne mir drei Wörter, die dich beschreiben“, „Kannst du mir drei Wörter nennen, wie es ist, mit deiner Mutter/ deinem Vater zusammenzusein?“ etc.). Dabei wird immer nach konkreten Episoden als Beispielen gefragt, um die narrative Kompetenz zu erfassen.
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Für die Kinderanalytikerin sind diese Testverfahren im klinischen Alltag durchaus von Bedeutung. Zwar läßt sich i.d.R. bereits beim Erstgespräch mit der gesamten Familie durch Verhaltensbeobachtung ein erster Eindruck gewinnen, ob das Kind sicher oder unsicher gebunden ist. Wie erwähnt, ist auch die Wahrscheinlichkeit einer desorganisierten Bindung bei Kindern, die Mißhandlung und Vernachlässigung erlitten haben, besonders hoch. Dies kann jedoch nur ein erster klinischer Eindruck sein, bei dessen testpsychologischer Überprüfung man immer wieder Überraschungen erlebt. Weil die unterschiedlichen Bindungstypen eine bindungsspezifische Behandlungstechnik erfordern (vgl. dazu Kap. B.2.2.2.), ist es von entscheidender Bedeutung, den genauen Bindungstyp des Patienten erfaßt zu haben.
Zu den wichtigsten Meßinstrumenten der Bindungsqualität im Erwachsenen-Bereich gehört das Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI, George et al., 1996). Obwohl es in dieser Arbeit um Kinder geht, soll das AAI hier kurz dargestellt werden, da mithilfe des AAI der für die vorliegende Arbeit besonders relevante (von der Psychoanalyse schon lange postulierte) Prozeß intergenerationaler Transmission traumatischer Erfahrungen empirisch belegt werden kann (dazu weiter unten). Auch kann das AAI in vereinfachter Kurz-Form als eine Art Interview-Leitfaden der Eltern-Anamnesenerhebung zugrunde gelegt werden.
Beim AAI werden Eltern in einem halboffenen Interview nach ihren frühen Bindungserfahrungen befragt, indem man sie bittet, Vater und Mutter mit jeweils fünf Adjektiven zu beschreiben und dafür episodische Beispiele zu bringen. Man fragt, ob sie in der Kindheit eine wichtige Person verloren haben, ob es jemanden gab, der sie bei Kummer getröstet hat, ob sie sich von ihren Eltern bedroht gefühlt haben etc. Die dabei entstehenden Geschichten werden aufgenommen, transkribiert und nach einer speziellen linguistischen Analyse ausgewertet. Dabei wird weniger auf die Inhalte geachtet. Zentrales Auswertungskriterium ist die na r rative Kohärenz, d.h. die Fähigkeit, sich kurz, klar und gegliedert auszudrücken, seine Aussagen zu belegen, beim Thema zu bleiben. Es lassen sich vier Bindungsklassifikationen ausmachen:
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Autonome Mütter bzw. Väter (Typ F, „free-autonomous“, entspricht der sicheren Bindung in der Kindheit) erzählen frei und flüssig, können sich an positive wie negative Eigenschaften ihrer Eltern und damit korrespondierende Episoden erinnern. Sie sind auch um eine objektivierende Einschätzung i.S. einer „metakognitiven Überwachung“ bemüht (Main, 2002). Entscheidend für die Einstufung als „autonom“ ist nicht die Qualität der Beziehungen, sondern die narrative Kohärenz und Plausibilität. Deshalb können auch Eltern mit belasteter Kindheit „autonom“ sein, wenn anhand ihrer Darstellung deutlich wird, daß sie ihre schlechten Erfahrungen verarbeitet haben (sog. „Earned Secures“).
Distanzierte Eltern (Typ Ds, „dismissing“, entspricht der vermeidenden Bindung in der Kindheit) haben viel verdrängt. Sie idealisieren ihre Eltern tendenziell, erinnern aber keine entsprechenden Begebenheiten oder nur solche, die das Gegenteil illustrieren oder eher unpersönlich sind („glücklich .... ja, Weihnachten ...“, vgl. Main, 2002). Manche erinnern zwar belastende Episoden, verharmlosen sie jedoch im nachhinein („sie hat mir beigebracht, mir über ... Probleme keine Sorgen zu machen, und .. das ist gut so“, ebd.), andere sprechen eher kalt und verächtlich von ihren Eltern, viele erinnern sich an gar nichts.
Verstrickte Eltern (Typ E, „entangled-enmeshed“, entspricht der ambivalenten Bindung in der Kindheit) sprechen oft in langen, verschachtelten Sätzen, wirken konfus, weichen vom Thema ab, haben Probleme, präzise zu formulieren, verwechseln Vergangenheit und Gegenwart („Sie war ein guter Mensch... gab jeden Monat was für die Heilsarmee, sie kamen mit grünen Lastwagen ... mußte es reintragen..“ vgl. Main, 2002). Inhaltlich erwecken sie den Eindruck, noch immer mit ihren (inneren) Eltern im Streite zu liegen oder es ihnen um jeden Preis recht machen zu wollen.
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Die vierte Gruppe (Typ U, „unsolved“) ist durch unbewältigte Trauer (Verlust geliebter Personen) oder andere unbewältigte Traumata (Mißhandlung, Mißbrauch) in der Kindheit gekennzeichnet. Auf entsprechende Fragen antworten sie konfus, mit Häufung irrelevanter Details, pseudopoetischen Idealisierungen sowie Brüchen in der Gedankenführung. Obwohl sich diese kognitiven Desorganisationen nur auf das umschriebene Trauma beziehen, entspricht die Kategorie „U“ der allgemeinen Desorganisation des Bindungssystems, das charakteristisch für Kinder der „D“-Kategorie ist.
Diese Erwachsenen-Bindungsmuster korrespondieren i.S. generationsübergreifender Stabilität in verblüffender Weise mit den Bindungsmustern der Kinder und dokumentieren damit den unmittelbaren Einfluß der Mutter auf die Bindungsentwicklung des Säuglings. Den eindrucksvollsten Nachweis dafür erbrachte die Auswertung von insgesamt 14 prospektiven Studien, denen zufolge anhand der Klassifizierung des mütterlichen oder väterlichen Bindungsmusters im Erwachsenen-Bindungsinterview (AAI) noch vor der Geburt des Kindes nicht nur dessen Bindungssicherheit, sondern sogar die genaue Bindungskategorie mit einem Jahr in der „Fremde Situation“ vorhergesagt werden kann (van Ijzendoorn, 1995). Entsprechend erlaubt eine im AAI als „autonom“ eingestufte Erwachsenenbindung (Typ F), eine sichere Bindung des Kindes (Typ B) zu prognostizieren. Ein als „distanziert“ klassifiziertes AAI (Typ Ds) prädiziert eine unsicher-vermeidende Bindung des Kindes (Typ A), ein „verstrickt“ eingestuftes Interview (Typ E) eine ambivalente Bindung des Kindes (Typ C). Für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist der Befund, daß ein Erwachsenen-Interview, das unverarbeitete Trauer oder ein unbewältigtes Trauma offenbart (Typ U), ein desorganisiertes Bindungsmuster beim Kind (Typ D) ankündigt.
Nach dieser kurzen Darstellung ausgewählter Befunde der Bindungsforschung soll im Folgenden die desorganisierte Bindung des Kindes als typische Folge früher Traumatisierung näher betrachtet werden. Das desorganisierte Bindungsmuster weist von allen unsicheren Bindungstypen die stärkste Vorhersagekraft für psychopathologische Entwicklungen auf. Fonagy et al. (2004) bezeichnen die desorganisierte Bindung auf der Basis zahlreicher Studien deshalb auch als Entwicklungsgrundlage der Borderline-Persönlichkeitsstörung (s. dazu Kap. A.4.2.3.) Für die Kinderanalytikerin ist es daher von Bedeutung, Phänomenologie, Ursachen und Folgen desorganisierter Bindung zu kennen, um die z.T. bizarren Verhaltensweisen desorganisierter Kinder zu verstehen und adäquat therapeutisch zu beantworten.
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Desorganisierte Bindung wird anhand von sieben grundlegenden Verhaltensdimensionen kodiert (Hesse & Main, 2002, S. 222):
Im Folgenden soll desorganisierte Bindung an einem Fallbeispiel anhand von Ausschnitten aus der „Fremde Situation“ illustriert werden. Es handelt sich um Dorian, ein „hübsches, kompetentes und sprachlich fortgeschrittenes 14 Monate altes Kind“ (das Beispiel stammt von Hesse & Main, 2002, S. 228 f.), das nach Mains Kriterien extrem desorganisiert war. D-Verhaltensweisen sind kursiv gedruckt.
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„Dorians Mutter hat einen angenehmen und offenen Gesichtsausdruck. In manchen Augenblicken erscheint sie jedoch traurig, und mitunter lächelt sie auf eine leicht benommene Weise. Nachdem sie von einer Forschungsassistentin, mit der sie und Dorian nur einige Augenblicke verbracht haben, in den Raum geführt wurde, setzt sie sich auf den Stuhl, den die Assistentin ihr anbietet. Sobald jedoch die Assistentin Anstalten macht zu gehen, verfolgt Dorian sie weinend und protestierend, wie ein Kind, das unter emtionaler Belastung steht, weil seine eigene Mutter im Begriff ist zu gehen. Dorians Mutter klatscht in die Hände, um ihn umzuorientieren, und ruft „Hier! Hier! Hier herüber!“ Während der verbleibenden Zeit der Eröffnungsepisode wandert Dorian im Raum umher, richtet jedoch seine Aufmerksamkeit nie gezielt auf ein Spielzeug oder auf seine Mutter. |
Beim Eintreten der fremden Person ist Dorian angespannt, aber anstatt seine Mutter aufzusuchen, drückt er sich mit dem Rücken gegen die Wand hinter ihrem Stuhl. Bei der Trennung spielt er anfangs bereitwillig mit der Fremden, weint aber dann. |
Bei der Wiedervereinigung nähert sich Dorian seiner Mutter weinend und mit ausgestreckten Armen, versucht aber dann, an ihr vorbei durch die Tür zu schlüpfen. Sie zieht ihn zwar zurück, aber er kann sich für den Rest der Episode nicht entspannen. Interessanterweise nähert er sich nicht seiner Mutter, während er weint. Stattdessen b e wegt er sich weiter und weiter von ihr weg, dreht sich in Kreisen, bis er in der entg e gengesetzten Ecke des Raumes angelangt ist. Mit dem Rücken zur Wand betrachtet er seine Mutter kurz, weint aber dann weiter und dreht sich wieder im Kreis. |
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Bei der zweiten Trennung kann die Fremde Dorian nicht vollständig trösten. Als seine Mutter wiederkehrt, stürmt er auf sie zu und klammert sich an ihre Beine, wie ein sicher gebundenes Kind, beginnt aber dann erneut damit, gleichzeitig zu weinen und von seiner Mutter zurückzuweichen, und erst als er in der gegenüberliegenden Ecke ang e langt ist, dreht er sich um, um sie anzuschauen. Die Mutter wiederholt in einer etwas hohen Stimmlage: „Bist du ärgerlich? Bist du wütend, weil ich weggegangen bin?“ |
Am Schluß des Experiments betritt die fremde Person wieder den Raum und teilt der Mutter mit, daß die Beobachtung vorbei ist. Dorian spielte bis zu diesem Zeitpunkt mit einem Spielzeug, läßt sich aber, sobald er die Fremde sieht, vorwärts auf den B o den fallen und dreht sein Gesicht zur Seite. Seine Augen sind zwar geöffnet, aber sein Blick ist leer und starr, und er verweilt dreißig Sekunden lang zusammeng e kauert und bewegungslos in dieser anomalen Position.“ |
An dem Beispiel wird die Mischung aller drei Bindungsmuster deutlich. Dorian zeigt zum einen sicheres Bindungsverhalten (läuft z.B. auf die Mutter zu, umklammert hilfesuchend ihr Bein), zum anderen extreme Vermeidung (Zurückweichen vor der Mutter), kann aber, anders als vermeidend gebundene Kinder, seine emotionale Belastung nicht verbergen (ständiges Weinen). Anders als ambivalent gebundene Kinder, die sichtbaren Distress zeigen (Weinen, Schreien), sucht er aber nicht die Nähe der Mutter, sondern weicht bis in die entgegengesetzte Zimmerecke vor ihr zurück. Trotz Anwesenheit der Bindungsperson ist sein Bindungssystem offenbar die ganze Zeit aktiviert: er kann sich nicht beruhigen und deshalb auch nicht explorieren (ruheloses Umherwandern, Ignorieren des Spielzeugs). Auffällig sind nicht zuletzt die stereotypen Bewegungen (Sich-im-Kreis-Drehen) sowie der totale Zusammenbruch seiner Aufmerksamkeits- und Bindungsstrategie in Bezug zur Fremden (anfängliches Hinterherlaufen, Sich-auf-den-Boden-Werfen am Schluß). Die körperliche Erstarrung und der leere Blick am Ende des Experiments lassen eine dissoziative Reaktion angesichts unbewältigbaren Stresses vermuten. (Wie erwähnt, haben desorganisiert gebundene Kinder in der „Fremde Situation“ den höchsten Cortisol-Wert, vgl. Spangler & Grossmann, 1993). Desorganisierte Bindung ist also Ausdruck des Zusammenbruchs einer organisierten Bindungsstrategie oder, psychotraumatologisch formuliert, der „Zusammenbruch (oder das Fehlen) einer Aufmerksamkeits- und Verhaltensstrategie zur Bewältigung von Stress.“ (Hesse & Main, 2002, S. 230).
Die klinische Relevanz dieser Phänomene besteht darin, daß Reste dieser desorganisierten Muster auch im Behandlungszimmer immer wieder auftauchen. Zwar verschwinden die bizarren Verhaltensweisen in der Zeit bis zum Vorschulalter, so daß die mentale Desorganisation nur noch im repräsentationalen Bereich auszumachen ist (dazu weiter unten). In bindungsrelevanten Situationen wie etwa bei Therapiestundenbeginn und -ende, wenn es zur Trennung bzw. zur Wiedervereinigung mit der Mutter bzw. der Analytikerin kommt, lassen sich jedoch nicht selten noch minimale „Einsprengsel“ dieser bizarren Verhaltensweisen beobachten. So erhält die Analytikerin z.B. einen wichtigen diagnostischen Hinweis, wenn sich das Kind bei der Begrüßung der Mutter kaum wahrnehmbar abwendet.
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Seit man das „D“-Muster wahrgenommen hatte, wurde der Frage nachgegangen, ob biologische Faktoren ursächlich für die Entstehung desorganisierter Bindung sein könnten. Van Ijzendoorn et al. (1999), die in ihrer Meta-Analyse von insgesamt 1.639 Kleinkindern auch den Einfluß konstitutioneller Faktoren überprüften, konnten jedoch keinen signifikanten Zusammenhang mit desorganisierter Bindung feststellen. Doch selbst wenn eine genetische Disposition bestehen sollte, würde dies den Einfluß von Interaktionsvariablen keineswegs ausschließen. Denn inzwischen wird auch in der Verhaltensgenetik anerkannt, daß Umweltfaktoren im Verbund mit inneren neuronalen Ereignissen eine Genexpression auslösen oder hemmen können (Gottlieb et al., 1998; Greenough & Black, 1992). Insofern wäre bei der Genese desorganisierter Bindung von einer Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt auszugehen, wobei „intrincic developmental disorders in vulnerable children increase the susceptibility to disorganisation by lowering the child’s resilience to ... relationship-specific provoking factors.“ (Green & Goldwyn, 2002, S. 839).
Greift man das zuletztgenannte Zitat von Green & Goldwyn auf, so liegt es auf der Hand, daß Vernachlässigung, Mißbrauch und Mißhandlung als „relationship-specific provoking factors“ auf einer rein behavioralen Ebene für das Kleinkind desorganisierend wirken. Denn da die Bindungsperson als „sichere Basis“ gleichzeitig Angst erregt, gerät das Kind in einen Konflikt zwischen Annäherungs- und Fluchtimpuls, was zum Zusammenbruch der Bindungsstrategie und in der Kumulation solcher ängstigenden Interaktionen zu einem desorganisierten Bindungsmuster des Kindes führt (vgl. Main & Hesse, 1990).
Neben diesen unmittelbar traumatisierenden Verhaltensweisen ist als zentraler repräsentationaler Faktor für die Entwicklung desorganisierter Bindung beim Kind seitens der Fürsorgeperson ein unbewältigtes Trauma (frühe Verlusterfahrungen, Mißhandlung und Mißbrauch in der Kindheit) identifiziert worden (van Ijzendoorn , 1995). Ein eigenes Kindheitstrauma der Mutter/des Vaters führt jedoch nicht zwingend zu desorganisierter Bindung des Kindes, sondern nur im Falle mangelnder Verarbeitung. Inwieweit das Trauma bewältigt oder unbewältigt ist, wird in der Bindungsforschung weniger inhaltlich als formal-linguistisch anhand der narrativen Kohärenz des Erwachsenen-Bindungs-Interviews (AAI) ermittelt. Im Falle mangelnder Bewältigung ereignen sich beim Befragten nämlich, wie weiter oben schon angedeutet, sog. Aussetzer im Verlauf des Diskurses und der Gedankenführung („lapses in monitoring“, vgl. Hesse & Main, 2002), wenn das Gespräch auf das zurückliegende Kindheitstrauma kommt. Diese „lapses“ haben sich als konsistente Prädiktoren für desorganisiertes Bindungsverhalten bei Kleinkindern herausgestellt (van Ijzendoorn, 1995).
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Solche Aussetzer bei der Gedankenführung sind z.B. Aussagen, die „inkompatibel sind und nicht zusammenpassen …oder nicht im Einklang mit unsersem gängigen Verständnis von Raum-Zeit-Zusammenhängen und Kausalität sind.“ (Hesse & Main, 2002, S. 236f.). Die Autoren bringen das Beispiel einer Mutter, die sagte: „Auf eine Weise war es besser, als sie starb, weil sie seitdem damit beschäftigt war, tot zu sein, und ich mich seitdem darauf konzentrieren konnte, mich um meine Familie zu kümmern.“ (ebd. S. 237). Diese Aussetzer sind meist kurz, dauern nur zwei oder drei Sätze und werden i.d.R. vom Sprecher nicht korrigiert, ereignen sich also unterhalb der Bewußtseinsschwelle. Sie können sich auch als plötzliches Schweigen (20 Sekunden und mehr) manifestieren, als abrupter Themenwechsel, als A b schweifungen oder plötzliche Detailversessenheit oder als Brüche im Sprachstil. Ein Beispiel wäre, daß der Sprecher plötzlich wie bei einer Grabrede zu idealisierenden Lobpreisungen ansetzt: „Sie war jung, sie war liebenswürdig, und sie wurde aus unserer Mitte gerissen durch diese ach so gefürchtete Krankheit, Tuberkulose. Und dann erinnere ich mich immer wieder an die Laute der Wehklagen, an den Duft der Blumen, die Mutter, weggezerrt vom Sarg ihrer Tochter, auf dem sie weinend lag ..“ (Hesse & Main, 2002, S. 238).
Diese Aussetzer erinnern in ihrer Unvermitteltheit, in der sie in den Gedankenfluß einbrechen, an minder schwere Formen traumatischer Intrusionen (flash backs), wie sie für posttraumatische Zustände typisch sind (vgl. Kap. A.1.3.2.1.). Es scheint sich also um dissoziierte Erlebnisinhalte zu handeln, die durch Umwelt-Stimuli ausgelöst werden und als alarmierende Erinnerungen in das Bewußtsein der Fürsorgeperson eindringen. Auslöser können z.B. Fragen des AAI- Interviewers sein, in häuslicher Umgebung auch Verhaltensweisen des Säuglings/ Kleinkinds oder sonstige Umweltreize, die mit dem Trauma assoziiert sind. Sie absorbieren die Fürsorgeperson offenbar derart, daß sie kurzfristig auf Signale des Kindes nicht mehr reagieren kann und deshalb als ängstlich und/oder ängstigend erlebt wird. „In einem solchen Zustand zeigt der Elternteil möglicherweise ungewöhnliche Formen drohenden, ängstlichen oder eindeutig dissoziierten Verhaltens, und die anscheinende Unerklärbarkeit dieser Verhaltensweisen kann dann, genauso wie offene Drohungen oder Mißhandlungen, bedrohlich für das Kind sein.“ (Hesse & Main, 2002, S. 239).
Anhand von Video-Analysen von D-Kindern in der „Fremde Situation“ konnten Hesse und Main auf der Verhaltensebene dieses ängstlich-ängstigende Verhalten der Fürsorgeperson als „missing link“ zwischen unbewältigtem Trauma der Fürsorgeperson und desorganisierter Bindung des Kindes identifizieren. Dieses Verhalten kann sich als ungewöhnliche Formen stimmlicher oder körperlicher Bewegungsmuster oder als ungewöhnliche sprachliche Inhalte äußern.
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Als Beispiele für bedrohliches Elternverhalten beschreiben Hesse und Main (2002):
„...Bewegungen, die eher einer Jagd- oder einer Verfolgungssequenz gleichen, wie z.B. räuberisches Pirschen... (So) konnte beobachtet werden, wie sich eine Mutter plötzlich leise wie eine Katze an ihr Kind heranschlich. Dann drehte sie in einer Nachahmung des ‚Reißverhaltens‘ von Raubtieren ihr Kind mit ausgestreckten Fingern, die aussahen wie Klauen, auf den Rücken. Andere Eltern gaben Zischlaute und bedrohliches Knurren von sich, fletschten die Zähne und hoben sogar die Oberlippe einseitig an.“ (ebd., S. 239) |
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Weiter konnten die Autoren extrem ängstliches Elternverhalten (z.B. unmotiviertes Stammeln, panisches Aufreißen der Augen) sowie dissoziiertes Elternverhalten (Einfrieren der Bewegung, veränderte Stimmgebung) dokumentieren (ebd., S. 240 f.).
Die Psychoanalytiker und Bindungsforscher Lyons-Ruth und Mitarbeiter (1999, 2002) haben die Beobachtungen von Hesse & Main (2002) in Anknüpfung an eigene Studien noch weiter ausdifferenziert. Sie beschreiben in ähnlicher Terminologie wie Hesse & Main zwei Varianten des mütterlichen Verhaltens: feindselig-intrusiv bzw. hilflos-ängstlich. Allerdings interpretieren sie diese zwei Varianten als zusammengehörige Aspekte eines einzigen Täter-Opfer-Schemas, das aus der Verinnerlichung der traumatischen Täter-Opfer-Beziehung in der Kindheit der Mutter entspringt. Das aktivierte Bindungsverhalten des Kindes (Angst, Weinen) triggert dabei nicht selten die eigene traumatische Kindheitserfahrung (flash backs). Die Mutter agiert dann dem Kind gegenüber entweder feindselig-intrusiv, in unbewußter Identifikation mit dem traumatischen Täter-Introjekt (Hirsch, 1994), oder aber sie erlebt in projektiv verzerrter Wahrnehmung des Kindes dieses als den Täter selbst und zieht sich als geängstigtes Opfer hilflos-ängstlich von ihm zurück.
Es ist vorstellbar, daß diese schnellen mimischen affektiven Wechsel für einen Säugling/ein Kleinkind, dessen rechtshemisphärisches System der sozial-emotionalen Wahrnehmung und Kommunikation erst im Aufbau ist (s. dazu weiter unten Kap. A.3.3.2.), desorganisierend wirken. Die wechselnden affektiven „states“ der Mutter induzieren beim Säugling/Kleinkind komplementäre wechselnde Selbstzustände, die sich als multiple, inkohärente und unintegrierte präreflexive Repräsentanzen im „auftauchenden“ bzw. im „Kern-Selbstempfinden“ (Stern, 1985) niederschlagen und eine Disposition zu eigener dissoziativer Pathologie bahnen dürften (Liotti, 1995, 1999).
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Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht darin, daß diese Aussetzer bereits in den Elterngesprächen erste Hinweise auf das Vorliegen eigener Traumatisierung der Eltern geben können, von der diese bisher nicht berichtet haben. Diese elterliche Traumatisierung, z.B. erlittener sexueller Mißbrauch in der Kindheit, die nicht selten als unbewußtes Re-Enactment an den eigenen Kindern wiederholt wird (vgl. Kap. A.2.1.4.3.), ist gerade am Beginn der Therapie oft noch kein Thema, sei es, weil das Trauma aus Scham und Schmerz verschwiegen wird, sei es, weil es der Amnesie anheimgefallen ist.
Es soll nun die Entwicklung desorganisierter Bindung im weiteren Verlauf der Kindheit beschrieben werden, um die Verhaltensweisen von Schul- und Vorschul-Kindern mit mentaler Desorganisation in der analytischen Therapie erkennen und darauf angemessen reagieren zu zu können.
Desorganisierte Bindung im Säuglingsalter verwandelt sich im Vorschulalter in ein kontrollierendes Bindungsverhalten, das sich entweder als kontrollierend-strafend oder als ko n trolli e rend-fürsorglich manifestiert (Main & Cassidy, 1988; Solomon et al., 1995, Jacobvitz & Hazan, 1999).
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In der Studie von Main & Cassidy (1988), die Kinder vom Säuglings- bis zum Schulalter auf ihr Bindungsverhalten untersuchten, werteten die Forscher u.a. das Verhalten und die Trennungsnarrative der sechsjährigen Probanden, die für die Zeit der Bearbeitung des Separation-Anxiety-Tests (SAT) von den Eltern getrennt waren, in der Phase der Wiedervereinigung mit ihren Müttern aus. Der Großteil der ehemals als desorganisiert gebunden klassifizierten Kinder zeigte kontrollierendes Verhalten, oft im Verbund mit Rollenumkehr:
„Einige der D-kontrollierenden Kinder kommandierten ihre Eltern auf eine strafende Weise herum („Setz dich hin und halt‘ den Mund und laß‘ die Augen zu! Ich hab‘ doch gesagt, du sollst sie zulassen!“), während andere in exzessiver und unangemessener Weise besorgt wirkten (z.B. „Bist du müde Mami? Möchtest du dich setzen, und ich bringe dir eine Tasse [gespielten] Tee?“).“ (Main & Cassidy, 1988, zit. nach Hesse & Main, 2002, S. 230f.) |
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Auf den ersten Blick scheint es, als hielten die ehemals desorganisiert gebundenen Kinder im Alter von sechs Jahren inzwischen „das Heft fest in der Hand“. Vor allem die typischen bizarren Verhaltensmuster, die in der „Fremde Situation“ im Alter von 12/18 Monaten zur D-Klassifikation führen (stereotype Bewegungen, Erstarren, Sich-Fallen-Lassen etc.) sind verschwunden. Dennoch wäre es falsch, anzunehmen, die D-Bindung hätte sich „ausgewachsen“. Auf der Ebene der mentalen Repräsentation dauert die Desorganisation an, was sich anhand der Ergebnisse im SAT nachweisen läßt. Die Bilder mit den Trennungsszenen führen bei diesen Kindern nämlich, wie dargestellt, typischerweise zu bizarren Lösungsvorschlägen („sich im Schrank einsperren“, „sich umbringen“) bzw. zu ängstigenden Katastrophenphantasien. Ein Kind aus der Untersuchung von Solomon & George (1999) beschrieb folgendes Szenario:
„Und, siehst du, und dann, weißt du, was dann passiert? Ihr ganzes Haus geht in die Luft. Weißt du ... sie werden zerstört, und es bleiben nicht mal ihre Knochen übrig. Schau. Ich springe auf einem Felsen herum. Dieser Fels fühlt sich steinig an ... Und dann stürzten die Felsen herunter und zerschmettern jeden. Und sie sind alle gestorben..“ (zit. nach Hesse & Main, 2002, S. 233) |
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Andere Kinder gerieten angesichts der bindungsrelevanten Trennungsszenen im SAT in Zustände der Sprachlosigkeit, des Widerstandes oder der Übererrgung. Sie verstummten, begannen zu flüstern, verweigerten die Aufgabe oder gerieten derartig in Erregung, daß sie die Aufgabe nicht zuende führen konnten (ebd.) Wieder andere Kinder zeigten desorganisierte Zustände der Sprache und des Verhaltens. Sie beantworteten die Fragen des Interviewers mit „Ja-nein-ja-nein-ja-nein“, gaben unlogische Sätze von sich oder wurden von Impulsdurchbrüchen überwältigt. Ähnlich desorganisierte Zustände wurden auch anhand von Familienzeichnungen offensichtlich, die die Kinder auf Aufforderung des Versuchsleiters anfertigten: „..ganze Figuren wurden beispielsweise ausgestrichen, Körperteile flogen frei in der Luft herum, oder dunkle Wolken sanken auf die Familie herab.“ (Hesse & Main, 2002, S. 234).
Die Beispiele verdeutlichen, daß auf der Ebene der mentalen Repräsentation der desorganisierte Zustand andauert. Auf der Verhaltensebene hat sich das Kind dagegen eine Strategie der Kontrolle zugelegt, mit der die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson maximiert und gleichzeitig die von ihr ausgehende Angst minimiert werden soll. Denn ruft man sich das typische Bindungsverhalten der Mütter von D-Kindern in Erinnerung - „ängstlich-ängstigend“ (Main & Hesse, 1990) bzw. „feindselig-hilflos“ (Lyons-Ruth et al., 2002) -, so lassen sich die kindlichen Varianten „kontrollierend-strafend“ bzw. „kontrollierend-fürsorglich“ als komplementäre Verhaltensstrategien verstehen. „Strafendes“ Kontrollverhalten könnte dann dazu dienen, den „ängstlichen“ bzw. „hilflosen“Rückzug der Mutter zu verhindern, während „fürsorgliches“ Kontrollverhalten zum Ziel hätte, das „ängstigende“ bzw. „feindselige“ Verhalten der Mutter zu beruhigen und abzumildern (Solomon et al., 1995; ähnlich Jacobvitz und Hazen,1999).
Die klinische Relevanz besteht darin, solch kontrollierendes Verhalten von Patienten auch unter bindungstheoretischem Gesichtspunkt zu ventilieren und die womöglich zugrundeliegende Absicht zu erkennen, die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson zu sichern. Auf diese Weise kann die Not des Patienten spürbar und können negative Gegenübertragungsgefühle des „Sich-Kontrolliert-Fühlens“ gemildert und unangebrachte Deutungen vermieden werden.
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Desorganisierte Bindung wirkt sich negativ auf allgemeine kognitive (Jacobsen et al., 1994) und metakognitive Fähigkeiten aus (Regelüberwachung, Handlungsplanung, vgl. Moss & St.-Laurent, 1999). Soziale Kognitionsdefizite, insbesondere feindselige Fehlattributionen, wie sie bereits die Mißhandlungsforschung erbrachte (vgl. Kap. A.3.1.2.4.), konnten unter bindungstheoretischem Gesichtspunkt Wartner et al. (1994) belegen. Diese Defizite führen naheliegenderweise zu mangelhafter Peer-Kompetenz, insbesondere zu konflikthaften Interaktionen mit Gleichaltrigen (ebd.).
Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht zum einen darin, daß im Falle schulischer Leistungsschwächen neben der eigentlichen Psychotherapie nicht nur kognitive, sondern v.a. auch psychosoziale Kompetenzen zu fördern sind. Zum anderen ist gerade im Hinblick auf die sozialkognitiven Defizite eine therapeutische Förderung der Mentalisierungsfähigkeit geboten, d.h. der Fähigkeit, das Verhalten der Mitmenschen nicht teleologisch-behavioral zu interpretieren, sondern die dahinter liegenden Wünsche, Absichten und Intentionen zu erkennen (vgl. Kap. B.2.2.5.).
D-Kinder neigen vermehrt zu externalisierendem und internalisierendem Verhalten. Ein erhöhtes Risiko desorganisiert gebundener Kinder für externalisierendes, v.a. feindselig-aggressives Verhalten im Vorschul- und Schulalter konnte in verschiedenen Studien nachgewiesen werden (Lyons-Ruth et al., 1993, 1997, 2003; Munson et al., 2001; Shaw et al., 1996; Solomon et al., 1995). In anderen Studien wurde ein erhöhtes Risiko von D-Kindern für internalisierendes Verhalten (Angst, Depression) festgestellt (z.B. Verschueren & Marcoen, 1999). Moss et al. (1998, 2004), die D-Kinder mit kontrollierendem Verhalten im Vorschulalter untersuchten, konnten einen signifikanter Zusammenhang zwischen kontrollierend-fürsorglicher Bindung und späterer internalisierender Symptomatik sowie kontrollierend-strafender Bindung und späterer externalisierender Problematik feststellen. Stellt man diesen Befund neben die o.g. Überlegungen von Solomon & George (1995) und Jacobvitz & Hazen (1999), so liegt die Annahme nahe, daß kontrollierend-fürsorgliche D-Kinder, die diese Strategie zur „Besänftigung“ ängstigender bzw. feindseliger Eltern einsetzen, später eher zu Angst und Depression neigen, während kontrollierend-strafende D-Kinder, die mit ihrem Verhalten die emotionale Verfügbarkeit ängstlich-hilfloser Eltern sichern wollen, später eher eine hyperaktiv-aggressiv-dissoziale Symptomatik entwickeln.
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Schließlich ist auf den Zusammenhang von D-Bindung im Säuglingsalter und dissoziativer Symptomatik in der Adoleszenz hinzuweisen (Carlson, 1998, Lyons-Ruth et al., 2003; Ogawa et al., 1997).
Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht darin, daß gerade aggressives Verhalten des Patienten aus klassisch-analytischer Sicht meist als Verschiebung aggressiver Konfliktinhalte auf die Umwelt interpretiert wird. Obwohl auch dies in jedem Einzelfall in Betracht zu ziehen ist, kann doch gerade bei früh traumatisierten Kindern und ihren desorganisierten inneren Arbeitsmodellen der Gedanke an Aggression als Versuch, die emotionale Verfügbarkeit der Bindungsperson zu sichern, hilfreich sein, um mittels bindungs- und entwicklungsorientierter Therapie die therapeutische Beziehung zu stärken. Ebenso kann das Wissen um Angst und Depression als Ausdruck unbewußter Angst vor ängstigend-feindseligen Eltern die Analytikerin davor bewahren, durch unangebrachte Deutungen (z.B. Depression als Abwehr unbewußter Aggression) die Bedrohungsgefühle des Kindes zu verstärken.
Zum Thema Psychopathologie soll abschließend noch kurz auf den Begriff der sog. Bi n dungsstörung eingegangen werden, der jedoch keinen klaren nosologischen Status besitzt. Manche Autoren bezeichnen damit Störungsbilder, die bindungsspezifische Verhaltensweisen wie z.B. „übermäßiges Klammern“ oder „wahlloses Bindungsverhalten“ als herrschendes Leitsymptom haben (Brisch, 2000 b; Zeanah & Emde, 1994). Eingang in den offiziellen diagnostischen Corpus hat lediglich die reaktive Bindungsstörung gefunden (DSM IV: 313.89, reactive attachment disorder, RAD), die sich entweder als „gehemmter“ Typus („übermäßig gehemmte, überaus wachsame oder stark ambivalente und widersprüchliche Reaktionen“) oder als „ungehemmter“ Typus („unkritische Zutraulichkeit“ sowie „undifferenzierte Auswahl der Bezugspersonen“) manifestierten kann. In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob es sich bei den beiden Störungsbildern (D-Bindung und RAD) um kategorial getrennte Krankheitsbilder handelt oder, wie so oft bei Störungen im Kindesalter, lediglich um unterschiedliche Ausprägungen auf einem gemeinsamen dimensionalen Kontinuum. Während Richters & Volkmar (1994) letzteres verneinen, da sich die spezifische Entwicklungsstörung der RAD nicht nur im Bindungskontext, sondern auch in anderen Bereichen auswirke, schlagen Green & Goldwyn (2002) aufgrund neuerer Daten vor, die RAD als Extremform desorganisierter Bindung zu betrachten.
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Auch dieses Kapitel über die Bindungstheorie soll mit dem in der Einleitung dieser Arbeit entfalteten Thema der Interdisziplinarität abgeschlossen werden. Inwieweit lassen die unterschiedlichen Diskursrahmen von Psychoanalyse und Bindungstheorie einen interdisziplinären Dialog möglich erscheinen? Zur Beantwortung dieser Frage sollen deshalb im folgenden Abschnitt prinzipielle Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten beider Disziplinen herausgearbeitet und die Möglichkeiten und Grenzen einer Kooperation ventiliert werden. Dabei halte ich mich überwiegend an die zusammenfassenden Darstellungen bei Dornes (2000, S. 83 ff), Fonagy (2003 a, Kap.12) und Wiegand (2001).
Zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie lassen sich einige grundlegende Unte r schiede ausmachen.
1. So geht die Bindungstheorie zunächst, rein empiristisch, nur vom beobachtbaren Verhalten aus und konzipiert „innere Arbeitsmodelle“ als unmittelbaren Niederschlag der Umwelterfahrung. Das psychoanalytische Postulat eines Unbewußten lehnt sie ebenso ab wie die Begriffe Übertragung und Gegenübertragung und die Existenz unbewußter Phantasien. Zwar spielen in der Bindungstheorie bewußte Phantasien eine Rolle, insofern sie Ausdruck der Bindungsrepräsentanzen (SAT bzw. AAI, vgl. Kap. 3.2.1.2.) sind, doch werden sie weniger unter inhaltlichem als unter dem formal-linguistischem Gesichtspunkt einer narrativen Kohärenz untersucht. Allerdings mehren sich in letzter Zeit die Stimmen, die eine Erweiterung des bindungstheoretischen Begriffs des „inneren Arbeitsmodells“ um die klinische Dimension der „Phantasie“ fordern (Bretherton, 2002).
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2. Durch die Nichtberücksichtigung verzerrter kindlicher Wahrnehmung bzw. phantasmatischer Weiterverarbeitung von Umwelterfahrungen (Eagle, 1997) wird in der Bindungstheorie auch die subjektive Bedeutung von Bindungsmustern nicht erforscht. So kann z.B. ein unsicher-vermeidendes Kind die Nähe der Mutter meiden, weil es befürchtet, sie zu überfordern oder aber weil es glaubt, die Mutter sei eine Hexe und führe Böses im Schilde (vgl. Lichtenberg et al., 1999). Diese die unbewußte Dynamik von „inneren Arbeitsmodellen“ vernachlässigende Sichtweise spiegelt sich auch in der Tendenz der Bindungstheorie , die zeitliche Kontintuität von Bindungsmustern zu betonen, anstatt sich wie die Psychoanalyse für die Entwicklungsvariablen zu interessieren, die Prozesse der Diskontinuität erklären könnten.
3. Die ethologische Fundierung der Bindungstheorie impliziert ein dyadisches Modell der Entwicklung i.S. komplementär ineinandergreifender Verhaltenssysteme von Fürsorgeperson und Kind. Dies reduziert die familiale Beziehungsdynamik auf alternative, biologisch determinierte dyadische Interaktionen und läßt keinen Raum für die Entfaltung tri a discher realer wie phantasmatischer Interaktionen und Kompetenzen, wie sie zunehmend im psychoanalytischen Bezugsrahmen konzipiert werden (vgl. Bürgin, 1998; Bürgin & von Klitzing, 2001; Schleske, 1998).
4. Die bindungstheoretische Reduktion der Eltern auf ihre biologisch determinierte Fürsorgefunktion bedeutet eine Ausklammerung der mütterlichen und väterlichen Subjektivität und den Verzicht auf eine Erweiterung des interaktiven Entwicklungskontexts i.S. einer systemisch-familiendynamischen Perspektive, wie sie v.a. von familiensoziologischen, aber auch systemisch-psychoanalytisch orientierten AutorInnen gefordert wird (Beck-Gernsheim 1995; Fivaz-Depeursinge & Corboz-Warnery, 2001; Stierlin 1995).
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5. Damit hängt eine weitgehende Ignorierung der sozialen und kulturellen Prägung menschlicher Entwicklung durch die Bindungstheorie zusammen, was einen Gegensatz zur kulturkritischen Tradition der Psychoanalyse darstellt. Die mangelnde soziologische Reflexion der Bindungstheorie führt nicht zuletzt zur Affirmation einer konservativen Mutterschaftsideologie (Beck-Gernsheim, 1995; Wiegand, 2001).
Neben diesen Differenzen lassen sich jedoch auch Gemeinsamkeiten ausmachen zwischen der Bindungstheorie und v.a. der zeitgenössischen objektbeziehungstheoretisch und selbstpsychologisch orientierten Psychoanalyse.
1. Zunächst konzentrieren sich Bindungstheorie wie zeitgenösssische Psychoanalyse weniger auf reif-neurotische ödipale Konflikte als auf die präödipale frühe Entwicklung des ersten und zweiten Lebensjahres, wie sie beispielhaft Margaret Mahler und Heinz Kohut erforscht haben. Zentrale Begriffe der Bindungstheorie wie der der „sicheren Bindung“ korrespondieren weitgehend mit klassisch- psychoanalytischen Begriffen wie dem des „Urvertrauens“ (Erikson).
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2. In beiden Disziplinen sind es (wie auch in der Säuglingsforschung) weniger die großen Konflikte, die Störungen verursachen als die kleinen Mikrotraumatisierungen, die in der Kumulation zur Verinnerlichung verzerrter Interaktionserfahrungen/verzerrten inneren Arbeitsmodellen führen. „Es steht nicht mehr, wie z.B. noch beim frühen Spitz und bei Bowlby, der Verlust des Objekts im Vordergrund, sondern dessen relative Unverfügbarkeit trotz Anwesenheit.“(Dornes, 2000, S. 84).
3. Während in der klassischen Psychoanalyse der Mensch überwiegend durch seine Triebschicksale bestimmt wird, „teilt die zeitgenössische Psychoanalyse die Grundannahme der Bindungstheorie, nämlich daß die Beziehung zwischen Kind und Pflegeperson nicht auf körperlichen Bedürfnissen, sondern auf einer Art autonomem Beziehungswunsch beruht.“ (Fonagy, 2003 a, S. 171). Objektbeziehungstheoretische Begriffe wie die „primäre Liebe“ (Balint), die „Objektsuche“ (Fairbairn), die „Ich-Bezogenheit“ (Winnicott) oder einfach die „persönlichen Beziehungen“ (Guntrip) beschreiben diese Orientierung. Ebenso läßt sich das bindungstheoretische Konstrukt der „mütterlichen Feinfühligkeit“ weitgehend mit psychoanalytischen Begriffen der „Spiegelung“ (Winnicott, Kohut) oder der Bion’schen „rêverie“ parallel setzen.
4. Risiken für Fehlentwicklungen ergeben sich demnach weniger aus der Dynamik körperlicher Reifungsprozesse (Triebentwicklung) und damit verbundener Phantasien, als aus frühem Umweltversagen i.S. defizitärer Objektbeziehungen bzw. unzureichender mütterlicher Feinfühligkeit. Dieses Umweltversagen wird zwar durch kindliche Temperamentsfaktoren moduliert sowie im weiteren Entwicklungsverlauf durch kindliche Phantasien überformt: „In den Nischen der realen Verletzung kann sich die Triebdynamik ansiedeln und weiterwuchern.“ (Hoffmann, 1986, zit. nach Dornes, 2000, S. 88). Aber diese Phantasien bzw. die Triebdynamik sind nicht der Ursprung der Neurose, sondern das Umweltversagen.
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5. Bindungstheorie wie moderne Psychoanalyse relativieren in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Sexualität und betonen mehr ihren Abwehrcharakter, also Sexualisierung, um die Fragmentierung des Selbst zu verhindern oder die Verfügbarkeit der Bindungsperson zu sichern. Darin mag die Tendenz liegen, das „Kind mit dem Bade auszuschütten“ (Dornes), dennoch plädiert eine wachsende Anzahl von Autoren für pluralistische Motivationstheorien (vgl. das Modell von Lichtenberg, 2000), die das Bedürfnis nach sexueller Befriedigung neben andere Bedürfnisse wie die nach Bindung, Exploration, Aversion etc. stellen.
6. Bindungstheorie und zeitgenössische Psychoanalyse betonen den Zusammenhang von kognitiver und emotionaler Entwicklung, da „mentale Repräsentationen von Selbst- und Objektbeziehungen entscheidende Determinanten interpersonalen Verhaltens sind.“ (Fonagy, 2003 a, S. 173). Aus bindungstheoretischer Sicht setzt eine sichere Bindung beim Kind Ressourcen frei, die für die Entfaltung insbesondere symbolisch kognitiver Fähigkeiten nötig sind (Main, 1991), und umgekehrt verweisen inkohärente Diskurse im Erwachsenen-Bindungs-interview i.S. defizitären mentalen Monitorings (K.E. Grossmann, 2000) auf unbewältigte Traumata (vgl. oben, Kap. A.3.2.2.2.2.). In ähnlicher Weise untersuchen moderne Psychoanalytiker (Fonagy et al., 2004) den Zusammenhang von Mentalisierung, Affektregulation und Entwicklung des Selbst (vgl. Kap. A.4.).
Bei kritischer Sichtung dieser Positionen erscheinen trotz methodologischer Differenzen die Möglichkeiten einer Kooperation von Bindungstheorie und zeitgenössischer Psychoanalyse v.a. durch den bindungstheoretischen „move to the level of representation“ sehr aussichtsreich. So setzt sich innerhalb der Bindungstheorie zunehmend die Erkenntnis einer gewissen Paradigmen-Beschränktheit durch, andererseits entwickelt die psychoanalytische Community auch aufgrund wachsenden gesundheitspolitischen Legitimationsdrucks ein steigendes Interesse an systematischer Beobachtung und empirischer Beforschung ihrer eigenen Theorien und Praktiken.
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Im vorangegangenen Kapitel 3.2. wurde der Beitrag der Bindungstheorie zum vertieften Verständnis der Entwicklungsprozesse früher Traumatisierung entworfen.
Nach einer Darstellung ausgewählter Befunde der Bindungsforschung, die zum Verständnis von Bindungsverhalten („Fremde Situation“, Bindungmuster A-D, Kap. A.3.2.1.1.) und Bindungsrepräsentation (Testverfahren SAT, ASCT, CAI, AAI, Kap. A.3.2.1.2.) unverzichtbar sind, wurde das Augenmerk auf die für diese Arbeit zentral bedeutsame deso r gan i sierte Bindung gelenkt. Nach einer Darstellung der Phänomenologie desorganisierter Bindung (widersprüchliche, bizarre Verhaltensweisen, Kap. A.3.2.2.1.) wurden empirisch fundierte theoretische Modelle vorgestellt, die die Genese desorganisierter Bindung aus biologischen Dispos i tionen (Kap.A.3.2.2.2.1.) sowie psychosozialen Konstellationen (Kap.A.3.2.2.2.2.) zu erklären versuchen. Was letztere betrifft, so wurden Studien diskutiert, die als zentralen repräsentationalen Faktor ein unbewältigtes Trauma der Fürsorgeperson identifizieren konnten, das sich in unbemerkten sprachlichen „Aussetzern“ im Diskursverlauf (z.B. beim Erwachsenen-Bindungsinterview AAI) niederschlägt. Auf der Verhaltensebene in der Interaktion mit dem Säugling läßt sich das Trauma als ängstlich-ängstigendes (Main & Hesse) bzw. als feindselig-hilfloses (Lyons-Ruth et al.) Verhalten der Bindungsperson („Anschleichen“, stimmliches „Fauchen“ etc.) beobachten.
Im Anschluß wurden die Folgen desorganisierter Bindung beschrieben (Kap. A.3.2.2.3.). Es konnte gezeigt werden, daß sich desorganisiertes Bindungsverhalten im Vorschulalter in kontrollierendes Verhalten bei Fortdauern der mentalen Desorganisation verwandelt (Kap. A.3.2.2.3.1.). Dabei lassen sich zwei kindliche Verhaltensstrategien beobachten, die sich als kontrollierend-strafend und als kontrollierend-fürsorglich charakterisieren und als Reaktion auf elterliches ängstliches/hilfloses bzw. ängstigend/feindseliges Bindungsverhalten interpretieren lassen. Die mentale Desorganisation offenbart sich dagegen im Rahmen projektiver Bindungstests (SAT) als Katastrophenphantasien, bizarre Lösungsvorschläge, Sprachlosigkeit, Übererregungszustände etc.
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Als weitere Folgen desorganisierter Bindung konnten in Kap. A.3.2.2.3.2. kognitive Lei s tungsschwächen und soziale Kompetenzdefizite (verzerrte soziale Wahrnehmung mit feindseligen Attributionen sowie maladaptives Spiel- und Konfliktlösungsverhalten mit Gleichaltrigen) bei D-Kindern nachgewiesen werden. Im Vorschul- und Schulalter schlagen sich diese Defizite als erhöhtes Risiko für externalisierendes, insbesondere aggressives sowie internalisierendes Verhalten, in der Adoleszenz als erhöhte Dissoziationsneigung nieder (Kap. A.3.2.2.3.3.)
In Kap. A.3.2.3. wurde das Thema der Interdisziplinarität wieder aufgegriffen und das Ve r hältnis von Psychoanalyse und Bindungstheorie unter methodologischem Gesichtspunkt kritisch diskutiert.
Zusammenfassend läßt sich frühe Traumatisierung aus der Sicht der Bindungstheorie als chronische Nicht-Beantwortung (Vernachlässigung) bzw. überwältigende und feindselig-intrusive Beantwortung kindlicher Bindungsbedürfnisse (Mißbrauch und Mißhandlung) beschreiben. Doch bereits weniger einschneidende Formen als diese klassische Trias der Traumatisierung führen bei Säuglingen und Kleinkindern zu desorganisierter Bindung als typische Traumatisierungsfolge: Dissoziative Zustände der Mutter, die z.B. durch das Schreien des hilflosen Säuglings ausgelöst werden und die Ausdruck eigener unbewältigter traumatischer Erfahrungen sind („U-Typ“), werden vom Säugling als bedrohliche Beziehungsabbrüche, d.h. als ängstlich-ängstigendes bzw. hilflos-feindseliges Beziehungsverhalten erlebt. Wenn diese Interaktionen über längere Zeit andauern, führen sie zu mentaler Desorganisation mit den beschriebenen pathologischen Folgen und Risiken.
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In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der „decade of the brain“, hat die Hirnforschung einen gewaltigen Aufschwung erlebt, der neue Möglichkeiten eröffnete, die neurobiologischen Grundlagen traumatischer Prozesse zu verstehen. Insbesondere die Erkenntnis der erfahrungsabhängigen Gehirnentwicklung kann der Klinikerin die Augen öffnen für die destruktive Wirkung früher Traumatisierung. Diese verursacht bei mißhandelten und mißbrauchten Kindern eine erstarrte Hypervigilanz und richtet deren mentale Fähigkeiten einseitig auf Gefahrenscanning aus. Bei vernachlässigten Kindern führt frühe Traumatisierung zu Passivität und Apathie, da sie in zentralen „Zeitfenstern“ ihrer frühkindlichen Gehirnentwicklung eklatanten Mangel an sensorischen Erfahrungen erleiden mußten. Automatisierte primäre Reaktionen wie Kampf/Flucht oder Erstarrung/ Dissoziation können auf diesem Hintergrund als traumatisch bedingte Anpassungsmechanismen identifiziert werden. Ebenso werden Gedäch t nisstörungen, Amnesien und Sprachlosigkeit als Ergebnis dysfunktionaler Informationsverarbeitung in traumatischen Überwältigungssituationen (mit entsprechenden Folgen für Schule und Ausbildung) verstehbar. Deshalb bereichern diese neurobiologischen Erkenntnisse das Repertoire der Analytikerin und bewahren sie davor, die genannten Phänomene als „aggressiven Widerstand“, als „Verschweigen aus Scham“ o.ä. fehlzudeuten.
Im Folgenden sollen zunächst ausgewählte Befunde der Neurobiologie dargestellt werden. Nach kurzer Klärung zentraler gehirnanatomischer und -physiologischer Begriffe werden die prä- und postnatale gebrauchsabhängige Gehirnentwicklung (Kap.A. 3.3.1.1.) sowie die normale und traumatische Stressph y siologie erläutert (Kap. A.3.3.1.2.). In Kap. A.3.3.2.1. werden dann der zwischen Mutter und Säugling ablaufende interaktive Prozeß des Erlernens von Stressbewältigung und die entsprechenden massiven Störungen di e ses Prozesses (Kap. A.3.3.2.2.) in Fällen früher Traumatisierung entfaltet. Im Anschluß daran sollen in Kap. A.3.3.3. basierend auf einer knappen Darstellung von Gedächtni s modellen (Kap. A.3.3.3.1.) die Prozesse fehlerhafter Encodierung und Speicherung von Erfahrung (Kap.A.3.3.3.2.) erläutert werden. Sie entstehen durch die spezifischen Bedingungen der traumatischen Situation (sensorische Überwältigung, gestörte Neurotransmitterprozesse etc.) und können die traumaspezifischen Amnesien und Gedächtnisstörungen (Kap. A.3.3.3.3. und A.3.3.3.4.) verstehbar machen.
Kap. A.3.3.4. befaßt sich wieder kritisch mit der Frage der i n terdisziplinären Kooperation. Wie weit ist eine Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Neurobiologie trotz ihrer unterschiedlichen Diskursrahmen möglich und sinnvoll? Eine Zusammenfassung (Kap. A.3.3.5.) beschließt das Kapitel.
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Noch ein Hinweis zu diesem Kapitel: Mit Ulrich Sachsse, auf dessen Übersichtsartikel ich mich im folgenden Kapitel wesentlich beziehe, ist vor zu großer Euphorie über das neue Wissen auf dem Gebiet der Neurobiologie zu warnen:
„Beim derzeitigen Wissensstand in der Hirnforschung müßte jeder Satz beginnen mit einer Formulierung wie: Gegenwärtig wird intensiv diskutiert, ob … - Erste Befunde lassen die Vermutung zu, daß …- Möglicherweise bestätigt sich aus ersten tierexperimentellen Ergebnissen auch beim Menschen, daß .. Ich bitte die Leserinnen und Leser, alle Sätze dieses Beitrags mit solchen Einschränkungen zu versehen.“ (Sachsse, 2003, S. 580). |
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Zunächst ein kurzer Überblick über Struktur und Funktion des Gehirns, soweit dies für das Verständnis der Stressphysiologie nötig ist (vgl. dazu Rüegg, 2001, S. 2 ff.).
Anatomisch gliedert sich das Gehirn des erwachsenen Menschen in das Großhirn mit den beiden Großhirnhemisphären, das Zw i schenhirn mit Hypophyse und Hypothalamus sowie den phylogenetisch ältesten Hirnstamm („Reptiliengehirn“). Letzterer setzt sich aus Mittelhirn, Rautenhirn und verlängertem Rückenmark zusammen, das v.a. vegetative Funktionen, z.B. Atmung und Blutdruck, reguliert.
Das Großhirn besteht u.a. aus vier Lappen, dem Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Hinte r hauptlappen (Frontal-, Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen) sowie zahlreichen Fu r chen, die die Hirnoberfläche in Windungen (Gyri) unterteilen. Der Fornix umsäumt das Zwischenhirn und verbindet den Hippocampus mit den Septumkernen und dem Hypoth a lamus, der untersten Partie des Zwischenhirns.
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Zum limbischen System (dem „emotionalen Gehirn“) zählen u.a. der zinguläre Kortex (Gyrus cinguli), der Mandelkern (Amygdala) sowie der Gyrus hippocampalis. Der Mandelkern ist reziprok mit dem orbitofrontalen Kortex im Frontallappen verschaltet, seiner wichtigsten Kontrollinstanz. Das limbische System umsäumt u.a. den Balken, der die beiden Hemisphären miteinander verbindet und sich über das Zwischenhirn und den darunter gelegenen Hirnstamm legt.
Die Milliarden von Nervenzellen (Neurone) des Gehirns knüpfen über zahlreiche verästelte Fortsätze (Dendriten) Kontakte mit den Dendriten anderer Neurone und bilden so dichte Geflechte (neuronale Netzwerke). An den Verknüpfungspunkten (Synapsen) berühren sich die Neurone nur leicht, so daß zwischen ihnen eine submikroskopische Kluft, der sog. synapt i sche Spalt, ergibt. Über diesen Spalt tauschen die Neuronen „Informationen“ aus, die auf elektrochemischem Wege über bestimmte Botenstoffe, sog. Neurotransmitter, übermittelt werden. Die wichtigsten dieser Neurotransmitter sind Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, Glutamat, Histamin, Acetylcholin, GABA sowie eine Reihe von Peptiden (Opioide u.a.) (Pschyrembel, 1998, S. 1117).
Das Gehirnwachstum ist durch drei Entwicklungsschübe charakterisiert (Rauh, 2002): Pränatal, zwischen dem dritten und fünften Gestationsmonat, vermehren sich die Nervenzellen und ihre Verbindungen (Axone) explosionsartig. In dieser Zeit ist das kindliche Gehirn am stärksten (v.a. durch toxische Einflüsse) gefährdet. Wenige Wochen vor der Geburt beginnt ein zweiter Wachstumsschub, der im dritten/vierten Lebensmonat seinen Höhepunkt erreicht. In dieser Phase differenzieren sich die Nervenzellen verstärkt und bilden Dendriten und Synapsen aus. Außerdem nimmt das Wachstum der Gliazellen (weiße Hirnmasse) zu, die die elektrochemische Kommunikation zwischen den Zellen regeln. Im dritten Lebensjahr erreicht die Myelinisierung (Bildung von Isolierschichten um die Nervenbahnen) ihren Höhepunkt.
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In genetisch programmierten sensiblen Phasen, d.h. bestimmten Zeitfenstern, findet zunächst eine Synapsenüberproduktion („blooming“) in Erwartung spezifischer Umweltreize statt, gefolgt von einer selektiven Synapsenrückbildung („pruning“), d.h. einer Verkümmerung derjenigen neuronalen Verbindungen, die sich in der Interaktion der Nervenzellen untereinander als ineffizient erwiesen haben (Greenough & Black, 1992). Solche sog. e r fahrungserwartende Prozesse bilden die Grundlage für den Erwerb universeller Fähigkeiten wie sensorischer oder motorischer Art. So sind z.B. zum Erwerb des Sehens während der dafür sensiblen Phase spezifische visuelle Reizmuster erforderlich, um die Entwicklung der für die Sehfähigkeit notwendigen Hirnareale zu organisieren. Bleiben die Reize aus, kann sich keine Sehfähigkeit entwickeln (zur visuellen Deprivation im Tierversuch vgl. Coleman & Riesen, 1968). Beginn und Ende der Synapsenentwicklung können für unterschiedliche Hirnbereiche stark voneinander abweichen.
Von den erfahrungserwartenden sind erfahrungsabhängige Prozesse zu unterscheiden. Diese verarbeiten Informationen, die durch individuelle Lernerfahrungen erworben werden (Todd et al., 1996). Auch hier schlägt sich die Lernerfahrung (z.B. Radfahren, Geige spielen) als Neubildung von Synapsen und neuronalen Netzwerken nieder, doch geht diesem Prozeß keine Synapsenüberproduktion voraus, und er ist auch zeitlich nicht an spezifische Entwicklungsalter oder sensible Phasen gebunden.
Beide Arten von Prozessen, erfahrungserwartende wie erfahrungsabhängige, sind zusammen Ausdruck der neuronalen Plastizität des Gehirns (Ciaranello et al., 1995), womit dessen Fähigkeit gemeint ist, sich durch strukturelle Veränderungen an geänderte Umweltbedingungen anzupassen. Dieses Konzept der neuronalen Plastizität hat das traditionelle Verständnis von Anlage und Umwelt radikal verändert, läßt sich aber mit dem aktuellen entwicklungspsychologischen Paradigma eines interaktiven, transaktionalen Entwicklungsmodells (Sameroff, 1995) sehr gut in Einklang bringen (vgl. Kap. B.1.2.1.)
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Perry et al. (1998) sprechen angesichts der neuronalen Plastizität von gebrauchsabhä n giger Gehirnentwicklung. Neurobiologisch bedeutet dies, daß jedes sensorische Signal, das auf den Menschen einwirkt, im Gehirn „eine Kaskade zellularer und molekularer Prozesse aus(löst), welche die neuronale Neurochemie, die Zytoarchitektonik und letztlich die Gehirnstruktur und –aktivität verändern.“ (ebd., S. 282).
Die klinische Relevanz „gebrauchsabhängiger Gehirnentwicklung“ liegt in der Bestätigung therapeutischer Praxis, daß durch Psychotherapie „korrigierende Beziehungserfahrungen“ bzw. „nacholende Ich-Entwicklung“ möglich werden können. Allerdings scheiden sich die Geister in der Frage, ob insbesondere „frühe“ maladaptive Beziehungserfahrungen, die in den sensiblen Zeitfenstern der postnatalen Gehirnentwicklung gemacht und entwicklungsbedingt „organisch festgeschrieben“ wurden, einer nachträglichen Beeinflussung zugänglich oder doch eher „hard wired“ sind. Tierexperimentelle Befunde weisen eher in Richtung organische Festschreibung (z.B. Braun et al., 2009, S. 63). Für die Frage, wie Psychotherapie wirksam werden könnte, entwirft der Hirnforscher Gerhard Roth drei Wege:
Der erste Weg bestünde darin, das bewußte Ich und dessen Einfluß auf die Amygdala und die mit ihr assoziierten limbischen Systeme i.S. einer besseren Impulskontrolle zu stärken. „Eine solche Maßnahme verändert allerdings nicht die ‚verknoteten’ Netzwerke im limbischen System … Die Ursachen der psychischen Störungen sind lediglich übertüncht.“
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Der zweite Weg könnte im „Auflösen“ dieser „verknoteten“ limbischen Netzwerke bestehen. Allerdings bezweifeln viele Neurowissenschaftler diese Möglichkeit. „Sie gehen davon aus, daß die Amygdala ‚nie vergißt’.“
Der dritte Weg schließlich könnte darin bestehen,
„daß im Laufe einer Therapie aufgrund andersartiger emotionaler Erfahrungen in der Amygdala ‚Ersatzschaltungen’ angelegt werden, die die ‚fehlgedrahteten’ Schaltungen einkapseln und an ihnen vorbei einen eigenen Zugang zur Handlungssteuerung erlangen. Therapie wäre dann die Induktion der Bildung dieser kompensatorischen Netzwerke.“ (Roth, zitiert nach Leuzinger-Bohleber et al., 2008 b, S. 13). |
Weil die klinische Erfahrung lehrt, daß therapeutische Veränderung umso leichter fällt, je jünger der Patient in Behandlung kommt, besteht gerade für die Kinderpsychotherapie doch Grund für Optimismus.
Um die zerstörerische Wirkung früher Beziehungstraumatisierung auf das noch in der Reifung befindliche Säuglings- und Kleinkindgehirn weiter zu verdeutlichen, soll im folgenden zunächst ein Blick auf die neurobiologischen Prozesse geworfen werden, die sich in „normalen“, d.h. bewältigbaren Stress-Situationenen (Eu-Stress) sowie in traumatischen, d.h. überfordernden Stress-Situationen (Distress) ereignen.
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Eine traumatische Situation beginnt zunächst als gewöhnliche Stress-Situation, deren neurobiologische Korrelate die Aktivierung bestimmter Hirnareale sowie die Auslösung bestimmter Neurotransmitter-Kreisläufe darstellen, die zusammen als Stress-Bewältigungs system zu beschreiben sind.
An der normalen Stressreaktion sind nach Panksepp (1999) zwei Bewältigungssysteme beteiligt, das Panik-System (Lähmung/Erstarrung) und das Furchtsystem (Kampf/Flucht), die miteinander interagieren. (Ich halte mich im folgenden an die Darstellung bei Sachsse (2003)).
Die Aktivierung des Panik-Systems zeigt sich bei tierischen und menschlichen Babies durch sog. Distress Vocalisations (Piepsen und Jaulen bzw. Weinen und Schreien), durch die in Bedrohungssituationen die Mutter herbeigerufen werden soll. Komplementär rufen diese (tier)kindlichen Signale bei der Mutter starken Stress hervor, der sie bewegt, die Stress-Ursa-che zu beseitigen (zu „stillen“) – ein zentraler biologischer Mechanismus, durch den das Bindungssystem zwischen Mutter und Kind gefördert wird.
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Das Panik-System ist an den Parasympathikus des autonomen Nervensystems gebunden, der bei Aktivierung mit Erweiterung der Blutgefäße, Atem- und Pulsverlangsamung, Adrenalinabfall, Harndrang, Übelkeit etc. einhergeht; das System ist trophotrop (energiebewahrend) und hypometabolisch (stoffwechselsenkend). Erregt wird das System überwiegend durch den Neurotransmitter Glutamat, beruhigt durch die Stoffgruppe der Opio i de, die bei körperlicher Nähe der Mutter, aber auch anderer vertrauter Personen (bzw. bei Herdentieren durch die Nähe der Herde) ausgeschüttet werden.
Neben dem Paniksystem wird in Gefahrsituationen immer auch das Furchtsystem aktiviert, bei dem mehrere Zentren des Gehirns zusammenspielen: „Auf der Ebene des limbischen Systems sind die Mandelkerne, die Amygdala, zentral. Der wichtigste Zentralkern ist zuständig für die aversive Alarmreaktion (und) fungiert als eine Art ‚Rauchmelder des Gehirns‘...“ (ebd., S. 591). Mit der Amygdala verschaltet ist der Hippocampus, der als Kontrollorgan dient, den Mandelkern beruhigt und durch Vernetzung mit kortikalen Regionen, u.a. im Gedächtnis als Erfahrungsschatz, nach Lösungen für die Gefahrensituation sucht.
Das Furchtsystem ist mit dem Sympathikus des autonomen Nervensystems assoziiert, der bei Aktivierung zu Verengung der Blutgefäße, Atem- und Pulsbeschleunigung, Anstieg des Muskeltonus, Freisetzung von Blutzucker, Hemmung der Harnentleerung etc. führt, damit der Mensch zu Kampf und Flucht (fight/flight) fähig wird. Das System ist somit e r gotrop (energieverbrauchend) und hypermetabolisch (stoffwechselsteigernd). Erregt wird das System überwiegend über die Neurotransmitter Adrenalin und Noradrenalin. Beruhigt wird es entweder durch Dopamin und Opiate (wenn wir durch Kampf, Flucht oder kluge Überlegung die Gefahr bannen konnten) oder aber, wenn der Stress zu lange dauert und keine Lösung in Sicht ist, durch das Anspringen der Stress-Achse, der sog. HPA-Achse (Hypothalamus – Hypophyse/engl.: Pituitary – Nebennierenrinden/engl: Adrenal Glands). Dabei produziert der Hypothalamus u.a. das Hormon Corticotropin-Releasing-Factor (CRF). CRF wandert neben anderen Rezeptorplätzen im ganzen Körper auch zur Hypophyse und wird dort chemisch in adrenocorticotrophes Hormon (ACTH) sowie Betaendo r phin verwandelt. ACTH gelangt nun zu den Nebennierenrinden, wo Glukokortikoide (v.a. Cortisol) produziert werden. Über negative Rückkoppelung reduzieren diese im Hypothalamus wiederum die Ausschüttung von CRH, in der Hypophyse von ACTH und tragen so dazu bei, das Furchtsystem wieder herunterzuregulieren. „Wir produzieren also im Körper unser eigenes Mittel für die Empfehlung: Reg‘ dich ab!“ (ebd., S. 592.)
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Panik-System und Furcht-System interagieren in der Weise miteinander, daß das Furcht-System das Panik-System beruhigt, indem es Lösungen für die Gefahrensituation bereitstellt und damit aus der lähmenden Panik herausfindet. Sachsse (2003) bringt das eingängige Beispiel einer Prüfungssituation. Während wir vor dem Prüfungszimmer warten, empfinden wir noch die vegetativen Distress-Symptome des Panik-Systems (Kloß im Hals, weiche Knie, Harndrang, Übelkeit), fühlen uns ohnmächtig, gelähmt. Wenn dann die Tür zum Prüfungszimmer aufgeht, schalten wir (wenn das Panik-System nicht übermächtig wird und wir einen „Black out“ haben) auf das Furcht-System um, greifen auf unsere Kognitionen (gelerntes Prüfungswissen sowie vorangegangene Prüfungserfahrungen) zurück und können uns so trotz des andauernden Stresses ausreichend beruhigen, um die „Gefahrensituation“ zu meistern.
Es gibt jedoch Gefahrensituationen, in denen die „Mutter“ zu weit weg oder zu schwach ist, der drohenden Gefahr zu begegnen, so daß das aktivierte Paniksystem nicht beruhigt werden kann, andererseits Kampf oder Flucht unmöglich sind oder sich als erfolglos erwiesen haben, weshalb das Furchtsystem nicht in der Lage ist, das Paniksystem zu beruhigen. In einer solchen traumatischen Stress-Situation (in der das Individuum nicht fähig ist, der Gefahr erfolgreich zu begegnen), kommt es bei Tieren zur Freeze-Reaktion (Totstellreflex). „In der Freeze-Reaktion sind Tiere vegetativ hochgradig erregt, sind im Hyperarousal, während sie muskulär erstarren, ihr Laut/Sprach-Zentrum abschalten und möglichst leise atmen.“ (Sachsse, 2003, S. 590).
Bei Menschen gibt es eine Notfallreaktion, die über die Freeze-Reaktion hinausgeht: die Dissoziation. Hier wird nicht nur (wie bei der Freeze-Panikattacke) der Reizstrom nach außen, sondern auch der nach innen „abgeschaltet“. Dieser Mechanismus setzt meist nach einer erfolglosen Kampf-Strategie ein, die mit hoher sympathischer Aktivierung einhergeht, also erhöhtem Adrenalin-/Noradrenalinspiegel, Hypermetabolismus und Ergotropie. Dissoziation ist eine Reaktion aus dieser Übererregung heraus und setzt eine parasympathische Gegenregulation in Gang, die durch erhöhte Glutamatausschüttung, Hypometabolismus und Trophotropie gekennzeichnet und mit dem „archaischen“ dorsalen vagalen Komplex assoziiert ist (Porges, 1997). Freigesetzte Opiate führen zu Schmerzunempfindlichkeit, muskulärer Erstarrung und Hypoarousal und sind wahrscheinlich an der Veränderung des Zeit-, Ort- und Realitätssinns beteiligt (Perry et al., 1998), die sich als Zustände von Depersonalisation und Derealisation („Außer-Körper-Erfahrung“, „Wegdriften“) bzw. als Vermeidungsverhalten und Unterwürfigkeit manifestieren (van der Kolk & Fisler, 1994).
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Diese Gleichzeitigkeit antagonistischer Zustände bzw. Prozesse bedeutet bereits für das ausgereifte Erwachsenen-Gehirn ein hohes Risiko. „Ein plötzlicher Energieeinbruch könnte für das gesamte Gehirn katastrophale Folgen haben: schon eine kurzfristige Unterbrechung der Glukosezufuhr oder der Sauerstoffversorgung können irreversible Schäden hinterlassen.“ (Sachsse, 2003, S. 582). Dies gilt in noch viel stärkerem Ausmaß für das noch in der Reifung befindliche Säuglings- und Kleinkindgehirn. Denn auch die beschriebenen Stressbewältigungssysteme sind in diesem Alter noch nicht ausgereift, weshalb prä-, peri- und postnataler Stress i.S. von (Beziehungs-)Traumatisierung die Entwicklung der zerebralen Regulationssysteme massiv stören kann (dazu weiter unten).
Aus der „gebrauchsabhängigen“ Entwicklung des Gehirns ist zu folgern, daß sich auch das Stressbewältigungssystem des Säuglings in Abhängigkeit von einer wachstumsfördernden oder –hindernden Umwelt entwickelt. Die von der Säuglingsforschung beschriebenen intensiven präverbalen Face-to-Face-Dialoge zwischen Mutter und Kind (vgl. Kap. A.3.1.1.1.) werden zunehmend auch in ihrem neurologischen „Substrat“ erforscht. So konnten z.B. Yamada et al. (1997, 2000) mittels funktioneller Kernspintomographie belegen, daß sich im Alter von acht Wochen drastische Stoffwechselveränderungen im primären visuellen Kortex des Säuglings ereignen, die auf eine durch visuelle Erfahrungen stimulierte Zunahme synaptischer Verknüpfungen hinweisen.
Die von Säuglingsforschern dokumentierte affektive Synchronizität und kontingente Responsivität zwischen Säugling und Fürsorgeperson (Feldman et al., 1999), vermittelt über Blickkontakt, Vokalisation und Körpersprache (Trevarthen, 1993), scheinen sich unmittelbar auf die Bahnung und Stabilisierung zentraler Funktionsschleifen im Säuglingsgehirn auszuwirken, die der Modulation und Regulation von affektiven Erregungszuständen dienen. So wurde die über brain-brain interaction (Trevarthen, 1993) hergestellte visuell vermittelte affektive Resonanz zwischen Säugling und Fürsorgeperson als Frequenzangleichung der Hirnstromwellen von Mutter und Kind im EEG nachgewiesen, die unmittelbare Wirkung auf zentralnervöse Regulationsprozesse hat (Salansky et al., 1998). Die vom mütterlichen Gesicht/ Stimme ausgehenden niederfrequenten visuellen und auditiven Reize werden in der rechten Hirnhemisphäre des Säuglings analysiert und prozessiert (Ungerleider & Haxby, 1994). Dies ist die Hirnhälfte, die bis ins dritte Lebensjahr hinein sowohl für die emotionale Reaktion und Kommunikation (Borod et al., 1998; Blonder et al., 1991) als auch für die Bewältigung von Stress (Wittling,1997) dominant ist (Chiron et al., 1997).
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Über den frühen Mutter-Kind-Dialog werden beim Säugling somit erfahrungsabhängig neuronale Verschaltungen gebahnt, die sein rechtshemisphärisches Stressbewältigungssystem reifen lassen. Dieses System ist als hierarchisch organisierte Sequenz von Funktionsschleifen („circuits“) zu beschreiben, über welche die verschiedenen kortikalen und subkortikalen limbischen Areale (orbitofrontaler Kortex, Cingulum, Amygdala, Hypothalamus) im Zuge der Entwicklung miteinander vernetzt werden (Devinsky et al., 1995; Carmichael & Price, 1995).
Der orbitofrontale Kortex, der „Senior Executive of the social-emotional brain“, der erst mit 10-12 Monaten „online“ ist (Schore, 2001a), kontrolliert dabei über seine Verbindung zum Hypothalamus das autonome Nervensystem mit seinen über Sympathikus bzw. Parasympathikus induzierten unwillkürlichen Körperreaktionen und reguliert auf diese Weise die vegetativen Reaktionen auf soziale Stimuli (Zald & Kim, 1996). Er ist spezialisiert auf „contexts of uncertainty or unpredictability“ (Elliot et al, 2000), d.h. tendenziell stressauslösende Situationen, und sorgt für „judicious, adapted behaviour“ (Cavada et al., 2000).
Über den beschriebenen Prozeß der „brain-brain-interaction“ beeinflußt die Fürsorgeperson somit beim Säugling die postnatale Reifung des limbischen Systems, das sozial-emotionale Stimuli verarbeitet, sowie die Reifung des autonomen Nervensystems, das die somatischen Korrelate der emotionalen „states“ generiert (Hüther, 2003). „In this manner ... the mother shapes the infant’s stress coping systems.“ (Schore, 2002, S. 13).
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Dieses Stressbewältigungssystem kann sich jedoch nur in einer wachstumsfördernden Umwelt optimal entwickeln. In einem „growth inhibiting environment“ dagegen kommt es beim Säugling und Kleinkind immer wieder zu anhaltenden negativen emotionalen „states“, d.h. affektiven Erregungszuständen, die von der Mutter nicht moduliert und reguliert werden. „Instead of modulating she induces extreme levels of stimulation and arousal, very high in abuse and/or very low in neglect.“ (Schore, 2002, S. 15), d.h. zu Überstimulation (in Mißhandlungs- und Mißbrauchskontexten) oder zu Unterstimulation (Vernachlässigung), was Schore (2001 a,b; 2002) als Bindungs- und Beziehungtrauma bezeichnet.
Die psychobiologische Antwort des Säuglings auf diese zentralen zwei Formen der Beziehungstraumatisierung („abuse“, „neglect“) ist entweder Übererregung („hyperarousal“) oder Dissoziation (Perry et al., 1998). Bei der Übererregung führt der Stress-Stimulus zu einer Aktivierung des ergotropen, hypermetabolischen Furchtsystems (Panksepp, 1999), das über Sympathikusaktivierung erhöhte Mengen von CRH sowie Adrenalin und Noradrenalin ausschüttet. Dies äußert sich als Strampeln, Weinen und Schreien. Gleichzeitig wird aber auch das trophotrope, hypometabolische Paniksystem (Panksepp, 1999) erregt, das via Parasympathikus mit hohen Spiegeln von Glutamat assoziiert ist (siehe oben).
Wird die Übererregung des Säuglings durch die tröstende Nähe der Mutter nicht beruhigt, führt die parasympathische Gegenreaktion der Dissoziation zu einem metabolischen „shut down“, d.h. einer Stoffwechseldrosselung, die durch Ausschüttung inhibitiver Stresshormone wie Cortisol sowie endogener Opiate gekennzeichnet ist und zu Immobilisierung und Schmerzunempfindlichkeit führt (s.oben). Säuglinge in diesem Zustand ziehen ihre Aufmerksamkeit von der Außenwelt zurück, erstarren/erschlaffen physisch und schauen mit glasigem Blick ins Leere (Tronick & Weinberg, 1997). Es liegt nahe, daß solch schroffe psychobiologische Zustandswechsel für das noch in der Reifung befindliche Säuglingsgehirn negative Folgen haben.
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Dies liegt v.a. an der gleichzeitigen Aktivierung sowohl des sympathischen, energieverbrauchenden, hypermetabolischen Systems als auch des parasympathischen, energiebewahrenden, hypometabolischen Systems. Zahlreiche neurobiologische Studien belegen, daß eine anhaltend hohe Konzentration antagonistischer Neurotransmitter wie Adrenalin/ Nor- adrenalin und Cortisol neurotoxisch wirken (Schore, 2001 b). Die bei einer Furchtexposition ausgelöste erhöhte Dopamin- und Noradrenalinaktivität führt zu Abnahme der Synapsendichte und zu programmiertem Zelltod (McLaughlin et al., 1998), und erhöhte Cortisol- und Glutamatspiegel bewirken eine Reduktion der dendritischen Verästelung. Insbesondere die Dendritendichte beeinflußt aber die behaviorale Anpassung, d.h. die Verhaltensflexibilität (Kolb & Whishaw, 1998).
Die durch frühe Beziehungstraumatisierung bedingte Synapsen- und Dendritenrückbi l dung dürfte auch das gesamte noch unreife Stressbewältigungssystem des Säuglings, also die Vernetzung der hierarchisch organisisierten kortikalen und subkortikalen limbischen Systeme (s.o.) in Mitleidenschaft ziehen. So vermutet Schore (2001 b, S. 225 f.), daß eine Schädigung der lateralen orbitofrontalen Areale und der exzitatorischen (anregenden) ventral-tegmentalen Vorderhirn-Mittelhirn-Funktionsschleifen („circuits“) die Fähigkeit, positive Affektzustände zu erleben, beeinträchtigen und eine Vulnerabilität für „hypoarousal“, d.h. Zustände von Freudlosigkeit und Depression, schaffen könnte. Eine Schädigung der medialen orbitofrontalen Areale und des inhibitorischen (hemmenden) medial-tegmentalen Vorderhirn-Mittelhirn-Circuits könnte zu einer eingeschränkten Fähigkeit führen, stressvolle „hyperarousals“ wie Angst und Wut, zu kontrollieren (ebd.). Daraus resultieren eine grundlegende Schwäche „to modulate … the intensity and duration of biologically primitive-sympathetic-dominant affects like terror, rage ... or parasympathetic-dominant affects like shame, disgust and hopeless despair“ (ebd., S. 226).
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Verschaltung zwischen dem orbitofro n talen Kortex, dem Hypothalamus als „head ganglion“ des autonomen Nervensystems, das die mit den affektiven Erregungen einhergehenden unwillkürlichen Körperreaktionen steuert, und der Amygdala, dem „major fear center“ des Gehirns, in dem in Sekundenbruchteilen unterhalb der Bewußtseinsschwelle auf bedrohliche Stimuli aus der Außenwelt reagiert wird. Diese neuronalen Verbindungen werden erst postnatal gebahnt. Basierend auf zahlreichen Studien nimmt Schore (2001 b) nun an, daß der orbitofrontale Kortex unter optimalen Bedingungen im Zuge der Reifung des kindlichen Stressbewältigungssystems durch die Bahnung neuronaler „circuits“ zunehmend die inhibitorische Kontrolle über die „primitiv-biologisch“ reagierende Amygdala übernimmt. Werden im Tierexperiment diese neuronale Vernetzungen gestört, so laufen bei minimalen Stressoren bereits extreme, amygdala-getriebene „fight-flight-states“ ohne kortikale Hemmung ab (ebd.). Bezogen auf den Menschen kann dies bedeuten, daß im Falle früher Beziehungstraumatisierung Säuglinge und Kleinkinder bereits auf kleinste zwischenmenschliche Irritationen mit affektiver Übererregung (Perry et al., 1998) antworten. „Even low intensity interpersonal stressors could activate unmodulated terrifying and painful emotional experiences“ (Schore, 2001 b, S. 227).
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In gleicher Weise, so Schore, kann Beziehungstraumatisierung auch eine Ausdünnung der synaptischen Verbindungen zwischen orbitofrontalem Kortex und lateralem Hypothalamus und damit eine mangelnde kortikale Hemmung dissoziativer Reaktion bewirken. Über den Vagus-Nerv in der Medulla bahnt nämlich der Hypothalamus u.a. die amygdala-induzierte angeborene Immobilitätsreaktion („Totstellreflex“) in Stress-Situationen, was eine Disposition zu habitueller Dissoziation schon bei kleinsten Stressoren schafft. „The higher corticolimbic area would inefficiently regulate the immobility response, that is, there would be a tendency to dissociate under stress, and this tendency would be long lasting.“ (ebd., S. 227).
Perry, der in einer Reihe von Veröffentlichungen (1996, 1997, Perry et al., 1998) posttraumatische Reaktionen bei Kindern untersuchte, beschreibt die zwei Reaktionsmuster der Übererregung und Dissoziation jeweils als Extrempunkte eines Kontinuums, auf dem sich die Kinder hin- und herbewegen (Perry et al., 1998). Dabei verläuft das Übererr e gungskontinuum, das bei Jungen prävalent ist, vom Ruhezustand über Wachsamkeit (Weinen, Rufen) - Widerstand (Erstarren)- Trotz/Drohung zu Aggression. Das Dissoziat i onskontinuum mit einer Prävalenz bei Mädchen verläuft vom Ruhezustand über Vermeidung (Weinen, Rufen) - Gefügigkeit (Erstarren) - Dissoziation/Betäubung zu physischer Ohnmacht.
Aufgrund der „gebrauchsabhängigen“ Entwicklung des Gehirns tendieren Übererregung wie Dissoziation im weiteren Verlauf zur Sensibilisierung. Diese bewirkt, daß daß eine immer geringere Dosis des traumatischen Ausgangsreizes, etwa lediglich die Stimme des Vaters, die volle neuronale Aktivität, z.B. eine Panikreaktion, hervorruft (Kleven et al., 1990). Beim noch reifenden Gehirn von Säuglingen und Kleinkindern ist darüber hinaus von diesem Sensibilisierungsprozeß das gesamte sich erst organisierende Stressregulationssystem betroffen, mit der Folge, daß es bei wiederholtem Stress allmählich zu einer Persistenz der Übererregung und damit einer generellen Stress-Vulnerabilität kommt. Diese schlägt sich in Dysregulationen verschiedenster psychobiologischer Funktionen (generalisierte Ängstlichkeit, Hypervigilanz, Hypermotorik, Verhaltensimpulsivität, Schlafstörungen etc.) nieder, wodurch die traumatischen „states“ zu „traits“ werden: „Alltägliche Stressoren … rufen nun ein übertriebene Reaktivität hervor ..., (weil) sich das Kind, einfach formuliert; in einem permanenten Angstzustand befindet (der nun zu einem ‚Charakterzug‘ geworden ist).“ (ebd., S. 288)
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Die klinische Relevanz der genannten Befunde ist erheblich. Nicht nur, daß die typischen Übererregungszustände („Ausraster“) insbesondere körperlich mißhandelter Kinder wie auch die typischen „weggetretenen“ dissoziierten Zustände vernachlässigter Kinder in einem neuen Licht erscheinen. Sie zwingen auch zu einer radikalen Veränderung der analytischen Behandlungstechnik. Denn versteht man diese primären Reaktionen als automatisierte Reflexe auf traumatische Trigger bzw. auf Stress im weitesten Sinn, muß zunächst oberstes Behandlungsziel sein, das subjektive Erleben von Sicherheit herzustellen (zur Behandlungstechnik vgl. Kap. B.2.). Klassisch-psychoanalytische Deutungstechnik (z.B. i.S. aggressiver oder regressiver Abwehr) läuft hier ins Leere, weil sie auf einem „Mißverständnis“ beruht und weil in traumatischen „states“ so gut wie keine Lernerfahrung möglich ist. Darüber hinaus verstärken solche Deutungen zusätzlich die Verwirrung und damit das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung.
Traumatische Beziehungserfahrungen stören, wie bisher dargestellt, auf nachhaltige Weise die Entwicklung und Reifung des kindlichen Gehirns und seines Stressbewältigungssystems. Sie stören aber auch die Informationsverarbeitungsprozesse im Gedächtnis, d.h. die Prozesse der Enkodierung, der Konsolidierung, der Speicherung und des Abrufs von Informationen. Die Wirkungen traumatischer Erfahrungen auf Gedächtnisprozesse sollen daher im Folgenden ebenfalls angesprochen werden.
Das Gedächtnis kann nach zeitlichen, prozeßbezogenen und nach inhaltlichen Kriterien unterteilt werden.
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Unter zeitlichem Gesichtspunkt unterscheidet man Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Eine besondere Form des Kurzzeitgedächtnisses stellt das Arbeitsgedächtnis (Baddeley 2003) dar, das Informationen im Gegensatz zum passiven Speichern auch b e arbeiten kann, indem es z.B. Informationen aus dem Langzeitgedächtnis bereitstellt, um neues und altes Wissen miteinander zu verknüpfen.
Unter prozeßbezogenem Gesichtspunkt kann man den Weg der Informationsaufnahme in die Schritte der Enkodierung, Konsolidierung, Speicherung und des Abrufs einteilen.
Zunächst werden die von außen auf das Individuum einströmenden Reize sensorisch registriert und vorverarbeitet (Enkodierung). Im nächsten Schritt wird diese enkodierte Information mit anderen Gedächtnisinhalten assoziiert und in Netzwerke eingebunden (Konsolidierung). Erst nach der Konsilidierung werden die Informationen dauerhaft abgespeichert (Speicherung) und sind dann dauerhaft abrufbar. Jeder Abruf ist jedoch eine erneute Re-Enkodierung und verändert die ursprüngliche Gedächtnisspur (Dudai, 2006). Dieser Prozeß der Veränderung ist für die Validierung traumatischer Erinnerungen im Zusammenhang forensischer Glaubwürdigkeitsgutachten von besonderem Belang (vgl. Naumann-Lenzen, 2008).
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Unter inhaltlichem Gesichtspunkt kann man das Langzeitgedächtnis wiederum in verschiedene Teilsysteme aufteilen, die nach allgemeiner Ansicht in unterschiedlichen neuronalen Netzwerken repräsentiert sind.
Squire (1987) führte die Begriffe des deklarativen vs. non-deklarativen Gedächtnisses ein. Das deklarative (beschreibende) Gedächtnis umfaßt das Wissen eines Menschen, das er auch bewußt und explizit erinnern kann. Es untergliedert sich in ein semantisches G e dächtnis, das das orts- und zeitunabhängige Faktenwissen des Individuums über die Welt enthält (z.B. „Paris ist die Hauptstadt von Frankreich“) sowie das episodische Gedächtnis, das ort- und zeitgebundenes, insbesondere autobiographisches Ereigniswissen enthält (z.B. „meine erste Begegnung mit Willi“).
Das non-deklarative (nicht beschreibende) Gedächtnis umfaßt dagegen das Wissen eines Menschen, das nicht bewußt ist und nur implizit abrufbar. Es handelt sich dabei um motorisch-prozedurale Abläufe wie z.B. Fahrradfahren oder Geigespielen, die durch wiederholte Übung entstanden sind, um kognitive Fertigkeiten sowie um die erhöhte Wiedererkennensleistung nach zuvor unbewußt wahrgenommenen Informationen, die als Priming bezeichnet wird. Weiter sind Teil des non-deklarativen Gedächtnissses das assoziative und nicht assoziative Lernen, also einfache Konditionierungsvorgänge, die für die Ausbildung von Gewohnheiten verantwortlich sind. Hierzu gehören auch die in der präverbalen Phase gelernten emotionalen „Beziehungsregeln“ und Erwartungen von Interaktions- und Regulierungsmustern (Mertens, 2009, S. 117), die auch als „implizites Beziehungswissen“ bezeichnet weden (vgl. Kap. B.2.2.3.3.)
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Bezogen auf die Abrufmöglichkeit des Wissens werden deklaratives vs. non-deklaratives Gedächtnis auch als explizites vs. impl i zites Gedächtnis bezeichnet – eine Einteilung, die auf Schacter (1987) zurückgeht. Die Begriffe sind weitgehend deckungsgleich.
Ähnlich wie Squire, dessen Befunde sich allerdings noch weitgehend auf Tierversuche bezogen, unterteilt Tulving (1995) das menschliche Langzeitgedächtnis ebenfalls in episodisches und semantisches Wissen sowie prozedurales Lernen und Priming. Gegenwärtig wird noch ein fünftes Gedächtnissystem diskutiert, das sog. perzeptuelle Gedächtnis (Markowitsch 2003). Es ermöglicht das Erkennen von Gegenständen aufgrund von Vertrautheitsurteilen.
Anders als Squire geht Tulving davon aus, daß die verschiedenen Gedächtnissysteme nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern, gemessen am Bewußtseinsgrad, in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Deshalb postuliert Tulving (1995) das sog. SPI-Modell der Gedächtnisbildung, wonach Information s eriell eingespeichert, p arallel abgelegt sowie unabhängig ( i ndependent) aufgerufen wird. Mit serieller Einspeicherung ist eine Hierarchie der Speicher gemeint, so daß z.B. episodische Information nur dann ins episodische Gedächtnis gelangen kann, wenn die Repräsentationen und Informationen, aus denen sich die Episode zusammensetzt, vorher im perzeptuellen und semantischen Gedächtnis verarbeitet werden konnten. Bei traumatisierten Menschen ist eben diese serielle Einspeicherung gestört (s. dazu weiter unten). Parallele Ablage bedeutet, daß Information in verschiedenen Gedächtnissystemen gleichzeitig gespeichert wird und unabhängig von der Art der Enkodierung über assoziierte Bahnungseffekte in einem anderen Gedächtnismodus aufgerufen werden kann (so kann z.B. „Paris“ semantisch als „Hauptstadt von Frankreich“, aber auch als episodisch als „meine erste Auslandsreise“ erinnert werden). Für traumatisierte Patienten ist auch dieser Vorgang relevant, denn sie „sind oft bezüglich dieses flexiblen Wechsels zwischen den Gedächtnismodalitäten ‚blockiert’, um sich vor dem psychischen/physischen Schmerz bestimmter Erinnerungen oder Erinnerungsaspekte zu schützen.“(Naumann-Lenzen, 2008, S. 10).
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Störungen der Informationsverarbeitung durch frühe traumatische Erfahrungen ergeben sich zunächst daraus, daß die Reifung des Gehirns in den ersten drei Lebensjahren auch die schrittweise Entfaltung der eben genannten Gedächtnisstrukturen umfaßt, so daß traumatische Erfahrungen in diesem Alter auch die Gedächtnisentwicklung beeinträchtigen.
Während das implizite Gedächtnis bereits ab der Geburt besteht, entwickelt sich das explizite Gedächtnis erst in der Mitte des zweiten Lebensjahres, so daß erst dann die Speicherung von Szenen und Lerninhalten auf bewußte Weise möglich wird (Resch & Schulte-Marckwort, 2004). Traumatisierungen aus der präverbalen Phase können daher lediglich auf einer implizit-prozeduralen Ebene gespeichert werden. Diese Traumatisierungen werden auch nach Spracherwerb nicht in einer sprachlichen Form reproduziert, wie mehrere Studien belegen (Terr, 1988; Azarian et al., 1998; Peterson & Rideout, 1998). Die Enkodierung des traumatischen Ereignisses kann im vorsprachlichen Altern daher nur „in einem primitiveren bzw. impliziten (somatosensorischen, affektiven) Gedächtnisformat fixiert und im weiteren Entwicklungsverlauf nicht in ein autobiographisch-episodisches (narratives) Gedächtnisformat überführt werden.“ (Scheidt & Waller, 2006, S. 61).
Da insbesondere das autobiographische Gedächtnis jedoch erst mit 4-5 Jahren voll entwickelt ist (Köhler, 1998), können frühe Traumatisierungen, auch wenn sie nach dem Spracherwerb (2.-3. Lebensjahr) erfolgen, nur in unzureichender Weise Teil des bewußten und abrufbaren Selbst- und Identitätserlebens des Kindes werden. Das traumatische Material wird deshalb schon aus Gründen der frühen Gedächtnisentwicklung nur rudimentär in sprachlichem Format und überwiegend somatosensorisch als Körpererinnerung repräsentiert.
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Auch wenn die Zusammenhänge der mnestischen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen noch nicht ganz geklärt sind, konvergieren Forschungsbefunde dahin, daß die Hauptursache für posttraumatische Gedächtnisstörungen in den spezifischen Enkodierungs- und Speicherungsprozessen unter traumatischen Stress-Bedingungen liegt (sog. traum a tisches Gedäch t nis, van der Kolk, 2000 a,b).
Unter „normalen“, d.h. nicht-traumatischen Bedingungen werden einströmende Reize der Außenwelt subkortikal im Thalamus diskriminiert und erfahren in der Amygdala eine erste affektive Bewertung, die Notfallreaktionen ermöglicht. Auf der nächsten Stufe der Bedeutungsgenerierung werden die Reize im Hippocampus in einen räumlichen und zeitlichen Kontext eingeordnet und schließlich auf kortikaler Ebene mit einer individuellen Bewertung ausgestattet. Die Ergebnisse dieser Bewertungen werden anschließend der Amygdala zurückgemeldet und führen zu einer Modulation der ursprünglichen affektiven Reaktion (van der Kolk, 2000 b).
Bei einer extremen Amygdala-Aktivierung infolge einer traumatischen Stress-Situation kommt es wahrscheinlich aufgrund der verstärkten Freisetzung von Katecholaminen, Kortikoiden und Opiaten zu einer funktionellen Entkoppelung von Amygdala und Hippocampus einerseits und zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex andererseits.
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„Thalamus, Amygdala, Hippokampus und präfrontaler Kortex sind alle an der schrittweisen Integration und Interpretation der ankommenden sensorischen Information beteiligt. Diese Integration kann durch hohe Erregung gestört werden: mittlere bis hohe Aktivierung der Amygdala erhöht, vermittelt durch den Hippokampus, die langfristige Verstärkung des deklarativen Gedächtnisses, während extrem starke Erregung das Funktionieren des Hippokampus beeinträchtigt. Erinnerungen werden dann in Form von affektiven Zuständen oder in sensomotorischen Modalitäten, in Form von somatischen Empfindungen und visuellen Bildern gespeichert.“ (ebd., S. 237) |
Diese sensomotorischen Erinnerungen können dann jederzeit durch traumabezogene Stimuli unwillkürlich reaktiviert werden („flash backs“), wobei die Patienten die traumabezogenen Intrusionen mit der ganzen körperlichen und affektiven Wucht wiedererleben, „wie wenn das Trauma erneut geschehen würde“ (state dependent recall, zustandsabhängiges Erinnern). Eine nachträgliche Enkodierung in das explizit-episodische Gedächtnis, die eine Distanzierung und damit eine schrittweise Integration des Traumas ermöglichen würde, ist jedoch nicht möglich. Dies liegt zum einen an der fehlenden raum-zeitlichen Kontextualisierung des traumatischen Geschehens, die durch die Dysfunktion des Hippokampus entstanden ist, zum anderen an der fehlenden sprachlichen Symbolisierung („sprachloses Entsetzen“). Rauch et al. (1996) konnten nachweisen, daß bei experimentell induzierten „flash backs“ die rechtshemisphärische Amygdala, die für die emotionale Evaluation eines Eindrucks zuständig ist, hochgradig aktiviert ist, während das linkshemisphärische Broca-Areal (motorisches Sprachzentrum) in seiner Aktivität unterdrückt ist. Dies erklärt die klinische Erfahrung, daß Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) große Mühe haben, ihr Trauma in Worte zu fassen (Überblick bei van der Kolk, 2000 a, b). Unabhängig davon kann das faktische Ereigniswissen separat, jedoch affektiv unkonnotiert und ohne fühlbaren autobiographischen Bezug, im explizit-deklarativen Gedächtnis repräsentiert sein (dual representation theory, vgl. Brewin, 2001). Während die visuellen flash backs meistens detaillierte hypermnestische („fotografische“) Erinnerungen sind, die von den Probanden „wie ins Gedächtnis eingebrannt“ erlebt werden, fallen andere Teile der traumatischen Szene bzw. das gesamte Trauma nicht selten der partiellen bzw. totalen Amnesie anheim (van der Kolk, 2000 a, S. 211, s. auch nächstes Kapitel).
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Die Rolle des Hippokampus für das Gedächtnis besteht darin, die räumlichen und zeitlichen Dimensionen des Erlebens aufzuzeichnen und insbesondere das Kurzzeit- mit dem Langzeitgedächtnis zu verknüpfen. Daraus erwächst die Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen. Diese Fähigkeit ist bei traumatisierten Patienten erheblich eingeschränkt und dürfte - neben psychodynamischen Gründen – dafür verantwortlich sein, daß traumatisierte Patienten immer wieder in Situationen geraten, in denen sie retraumatisiert werden.
In Tierversuchen konnte nachgewiesen werden, daß Dauerstress mit dem damit verbundenen erhöhten Glukokortikoid-Spiegel zu einer reduzierten Hippokampus-Aktivität bzw. Schrumpfung des Hippokampus-Volumens, bedingt durch Zelltod, führt (Sapolsky et al., 1990; McEwen et al, 1992). Entgegen der Erwartung wurden jedoch bei PTBS-Patienten eher unterdurchschnittliche Kortisol-Spiegel (Yehuda, 1997) bei gleichzeitig erhöhtem CRH-Faktor (Heim et al., 1997) gemessen, was als paradoxe Regulation der Stressachse in die Literatur eingegangen ist (Fischer et al., 2003).
Die klinische Relevanz dieser Befunde betrifft mehrere Aspekte. Zum einen wird deutlich, daß traumatische Erfahrungen sprachlich unzureichend repräsentiert sind, weshalb sie durch eine „klassisch“ sprachlich orientierte analytische Behandlungstechnik (talking cure) nicht zu erreichen sind. Bei früh traumatisierten Kindern fehlt die sprachliche Repräsentation dieser Erlebnisse völlig. Es empfiehlt sich deshalb eine überwiegend nonverbal ausgerichtet Behandlungstechnik, da die Traumen überwiegend körpernah-somatosensorisch gespeichert sind und während der Behandlung hauptsächlich als nonverbales Enactment in Erscheinung treten. Schließlich ist darauf zu achten, Retraumatisierungen durch traumaassoziiertes Material so gut es geht zu vermeiden. Nie ganz auszuschließende „flash backs“ sollten durch Reorientierung in Zeit und Raum so schnell wie möglich eingedämmt werden. Ebenso ist darauf hinzuarbeiten, daß im posttraumatischen Spiel mit früh traumatisierten Kindern getriggertes traumaassoziiertes Material durch ressourcen- und lösungsorientierte Techniken i.S. der „completion tendency“ zu einem „guten Ende“ gebracht werden. Es werden dadurch – neurobiologisch gesprochen – die maladaptiven neuronalen Muster durch neue, adaptive Muster gewissermaßen „überschrieben“. Hierin besteht ein fundamentaler Unterschied zur klassischen nondirektiven analytischen Behandlungstechnik (ausführlich in Kap. B.2.3.).
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Die aus der gesteigerten Ausschüttung von Stresshormonen in traumatischen Situationen resultierende fehlerhafte Enkodierung, Konsolidierung und Speicherung von traumatischen Erlebnissen mit der Folge eingeschränkter Möglichkeit des Abrufs kann sich, wie erwähnt, als partielle oder totale Amnesie beim betroffenen Opfer niederschlagen (Literatur-Übersicht bei van der Kolk, 2000 b). Amnesien emotionaler oder kognitiver Art scheinen sich umso eher zu entwickeln, je intensiver und chronischer die Traumatisierung und je jünger das Opfer ist. Früh und chronisch traumatisierte Kinder leiden wohl deshalb in besonderem Maße unter traumabezogenen Amnesien (Briere & Comte, 1993; Herman & Shatzow, 1987), weil, wie beschrieben, die Gedächtnisstrukturen im frühen Kindesalter noch nicht vollständig entwickelt sind.
Traumabezogene Amnesien können auch zu fehlerhafter Einbettung der Erlebnisse in das autobiographische Gedächtnis des Patienten führen. Denn durch die „hormonbedingte Modifikation beteiligter Hirnstrukturen kann es zu einer Störung der selbstreferenziellen Perspektive ...und der Emotionsverarbeitung kommen… Eine derartige Entkoppelung von Emotionen, Selbstbezug und autobiographischem Gedächtnis kann in vielen Formen selektiver retrograder Amnesie vermutet werden …“ (Reinhold & Markowitsch, 2008, S. 123f.).
Chronische Traumatisierungen in der frühen Kindheit können schließlich ein allgemeines Ungleichgewicht und eine Hypersensitivität im Neurotransmittersystem v.a. der limbischen Regionen zur Folge haben. Dies blockiert nicht nur den Abruf der traumatischen Information selbst, sondern kann auch zu umfassender Beeinträchtigung von Gedächtnisleistungen führen, was Markowitsch als mnestisches Blockadesyndrom bezeichnet. Bei Menschen mit psychogener Amnesie ist dadurch nicht nur der bewußte Zugriff auf die traumatischen Erlebnisse verstellt, sondern „auch auf die gesamte bisherige Autobiographie oder relevante Teile davon.“ (ebd., S. 125).
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Die klinische Relevanz dieser Befunde besteht zum einen darin, daß die Gedächtnisstörungen traumatisierter Kinder nicht mit „Verschweigen“ aus Über-Ich-Konflikten oder Schamgefühlen zu verwechseln sind. Zum anderen müssen die aus diesen Gedächtnisstörungen resultierenden Folgen für die gesamte kognitive Entwicklung, insbesondere das Risiko der Entwicklung eines ADHS-Syndroms, berücksichtigt werden. Der traumabedingte Verlust der Fähigkeit zur Reizdiskrimination (Putnam, 1997), der traumatisierte Kinder zwischen den Polen von Hypererregung und Dissoziation oszillieren läßt (Perry et al., 1998), hindert sie daran, Aufmerksamkeit zu fokussieren (Glod & Teicher, 1996). In Verbindung mit den genannten generellen Gedächtnisstörungen sowie der eingeschränkten Fähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen, erhöht dies das Risiko, in Schule und Ausbildung zu scheitern. Folgen traumatischer Belastungen auf das Lern- und Leistungsverhalten sind inzwischen hinreichend belegt (Bower & Sivers, 1998; Saigh et al., 1997; Shonk & Cicchetti, 2001). „Der langsame Weg, der mit einem komplexen Wahrnehmen und Erfassen einer Situation einhergeht und alternatives Handeln ermöglicht, steht Kindern und Jugendlichen, die Bedrohungsreaktionen zeigen, nicht zur Verfügung.“ (Streeck-Fischer, 2006, S. 134). Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang Studien zum ADHS-Syndorm, denenzufolge „zumindest bei einem Teil der ADHS-Kinder (nämlich den early-onset-Störungen) eine Entwicklungsstörung vorliegt, die denen von Kindern mit früher Traumatisierung ähnelt.“ (ebd., S. 176). Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Leuzinger-Bohleber in ihrer Frankfurter ADHS-Präventionsstudie (Leuzinger-Bohleber et al., 2007).
Der Extremfall traumabedingter Amnesie ist schließlich die Strukturelle Dissoziation (Nijenhuis et al, 2004) als typische Langzeitfolge schwerer Traumatisierung, bei der sich die mnestische Blockade auf die raum-zeitliche Kontinuität des gesamten Selbsterlebens ausgeweitet hat.
Dissoziation als Defokussierung und Refokussierung der Aufmerksamkeit ist zunächst ein ubiquitäres, nicht zwingend pathologisches Phänomen. Insbesondere bei Kindern sind dissoziative Phänomene wie Tagträume oder imaginierte Spielgefährten verbreitet (vgl. Kap. A. 1.3.2.4.). Bei Erwachsenen zeigt sich „harmlose“ Dissoziation z.B. als völliges Aufgesogensein von der Lektüre eines Buches oder auch als „Autobahntrance“ beim Fahren weiter Strecken. So wird gemeinhin von einem fließenden Übergang von normaler zu pathologischer Dissoziation ausgegangen (Peichl, 2007, S. 162; Resch et al., 1998).
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Pathologische Dissoziation ist, wie in Kap. A.3.3.1.2. beschrieben, eine Notfallreaktion in Paniksituationen, die aus der Übererregung heraus eine parasympathische Gegenreaktion in Gang setzt, die über verstärkte Opiatausschüttung zu einer veränderten Selbst- und Realitätswahrnehmung führt. Kommt es in Kontexten früher Traumatisierung zu chronischen traumatischen Überwältigungen, so entwickelt sich, wie beschrieben, beim betroffenen Kind entlang des Dissoziationskontinuums (Perry et al., 1998) eine Tendenz, bereits auf kleinste Stressoren mit habitueller Dissoziation zu reagieren. Aus habitueller Dissoziation kann sich in der Adoleszenz und dem Erwachsenenalter eine chronische Dissoziation entwickeln, die von führenden Traumaforschern wie van der Hart und Nijenhuis (Nijenhuis et al., 2004) als strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit bezeichnet wird. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß die Persönlichkeit aus zwei grundlegenden mentalen Selbst-Zuständen besteht, einem „anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil“( apparantely normal personality, ANP) und einem „emotionalen Persönlichkeitsanteil“ (emotional personality, EP). Während der ANP für das Funktionieren im Alltag zuständig ist und von daher die Erinnerung an das Trauma durch Amnesie und Betäubung zu vermeiden sucht, ist der EP durch plötzlich einschießende, hochgradig emotional aufgeladene Traumaintrusionen charakterisiert. Da sich diese strukturelle Dissoziation als Dissozi a tive Identitätsstörung (vgl. Kap. A.1.3.2.4.) erst ab der Adoleszenz herausbildet, wird in dieser Arbeit nicht näher darauf eingegangen (Überblick bei Huber, 2006; Putnam, 2003; Reddemann et al. 2004).
Zum Abschluß dieses Kapitels soll nun eingehender das grundlegende epistemische Verhältnis von Psychoanalyse und Neurobiologie diskutiert werden.
Zunächst ist festzuhalten, daß der „Austausch zwischen diesen beiden Disziplinen … sich in den letzten Jahren so sehr intensiviert (hat), daß im Freud-Jahr 2006 der Eindruck entstand, dieser Dialog bilde für die heutige Psychoanalyse das wichtigste Fenster zur Welt der aktuellen wissenschaftlichen Diskurse.“ (Leuzinger-Bohleber et al., 2008 b, S. 4). In der Tat gibt es eine Fülle gemeinsamer Projekte, angefangen von klinischen Studien zur Neuro-Psychoanalyse (Solms, 2008; Kaplan-Solms & Solms, 2000), über Forschungen zur Embodied Cognitive Science (Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, 1998; Leuzinger-Bohleber et al., 2008 a) und zur Gedächtnisforschung (Reinhold & Markowitsch, 2008) bis hin zu psychoanalytischen Psychotherapieprozeßstudien mit bildgebenden Verfahren (Buchheim et al., 2008).
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Die in der Einleitung zu dieser Dissertation dargestellten Positionen zur Frage, ob empirische Erkenntnisse aus Nachbarwissenschaften für die Psychoanalyse gänzlich irrelevant, direkt relevant oder indirekt relevant sind, bestimmen auch das Verhältnis der Psychoanalyse zur Neurowissenschaft.
Eine äußerst kritische Einstellung zur Hirnforschung bezieht Boller (2001). In seiner Rezension des Buches „Erinnerungen von Wirklichkeiten. Psychoanalyse und Neurowissenschaften im Dialog“ (Koukkou et al., 1998) holt er zu einem Rundumschlag gegen die Neurobiologie aus, gegen ihren kläglichen „Versuch, die Hirnfunktionen in den Griff zu bekommen“. Seit ihren phrenologischen Anfängen im 19.Jahrhundert dränge sie mit dem „totalitären Anspruch des Mythos immer zur ‚ganzen Wahrheit über den Menschen’“ (ebd. S. 88). Boller weist auf die Metaphorik der „Apparate“, der „ingenieurswissenschaftlichen Konstrukte“ hin, mit denen das „Irrationale, Unsichtbare, Flüchtige“ gebannt werden soll, das sich „zwischen vielen hundert Billionen Synapsen abspielt“ (ebd.). Das Ergebnis ist für ihn entsprechende „Be-griffs-Einfalt“ und „weitestgehende Schlußfolgerungen auf dünnster Datenbasis“, weshalb auch „viel Verklärungsarbeit nötig (ist), um die allseitigen Begriffs-Verflachungen zu überspielen“, z.B. den „unreflektierte(n) biologische(n) Anpassungsbegriff“ (ebd., S. 90). „Die ‚Wahrheit über das Gehirn’ ist stets eine kulturwissenschaftlich geborgte“ (ebd., S. 88), und die „Psychoanalyse, in ihrem Kern antinormativ, erfährt so ihre schlimmstmögliche, nämlich normative Wendung dadurch, daß Anpassung nun wieder ‚optimal’ oder ‚maladaptiv’ ist“ (ebd. S. 90). Sein Resumee über das genannte interdisziplinäre Werk: „Ein Rückfall hinter hundert Jahre Psychoanalyse“ (ebd.)
Eine gemäßigtere Position vertritt Hagner, der aus kulturkritischer Sicht die Konsequenzen einer „vom Hirnbild aus operierenden Anthropologie“ aufzeigt und betont, daß das, was die Psychoanalyse „an biografischen Details, Intimitäten und verborgenen Schichten hervorholt, … vermutlich keine Durchleuchtung des Gehirns jemals erreichen (wird).“ (2004, zitiert nach Leuzinger-Bohleber et al., 2008 b, S. 15). Stattdessen sieht er die Gefahr, „daß die Tiefenbohrungen des alten Denkens, für welches die Psychoanalyse … stellvertretend angesehen werden kann, durch den oberflächlichen Eindruck der Hirnbilder abgelöst werden.“ (ebd.). Dadurch würde „eine andere Anthropologie in Anschlag gebracht …, die tatsächlich nur noch – im doppelten Wortsinn – Oberflächenstruktur hervorbringt...“ (ebd.).
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Während Hagner als Wissenschafthistoriker naturgemäß eine größere Distanz zur Thematik hat, schauen Psychoanalytiker, die unmittelbar als Neurowissenschaftler forschen, enthusiastischer auf die gemeinsamen Projekte und neigen dazu, der Neurowissenschaft unmittelbare direkte Relevanz für die Psychoanalyse zuzubilligen. So knüpft Mark Solms an Freuds alten Traum von einer Validierung psychoanalytischer Theorie durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse an und ruft die Neurobiologie gewissermaßen zum „Schiedsrichter“ über konkurrierende psychoanalytische Theorien auf: „Besonders im Hinblick auf die wissenschaftlich seriöse Unterscheidung zwischen konkurrierenden Hypothesen sind der psychoanalytischen Methode unüberwindbare Grenzen gesetzt. Mithilfe von neurowissenschaftlich untermauerten Hypothesen könnten wir jedoch ganz im Sinne von Freuds Metapsychologie eine allgemeine Theorie des Geistes entwickeln.“ (2008, S. 33 f.)
Leuzinger-Bohleber und Mitarbeiter (2008 b) erachten die Befunde der Neurobiologie als indirekt relevant für die Psychoanalyse. Sie wissen um die Gefahr eines „eliminativen Reduktionismus“ psychischer Prozesse auf neurobiologische Vorgänge, die einer Geisteshaltung entspringt, die bekanntlich schon Habermas als „szientistisches Selbstmißverständnis der Psychoanalyse“ schalt, und verweisen auf die „divergierenden wissenschaftstheoretischen und –philosophischen Traditionen“. Dennoch scheinen die Perspektiven einer Zusammenarbeit für die Autoren faszinierend. Besonders in der Traumaforschung biete sich eine Kooperation geradezu an, denn um „psychische Traumata verstehen und adäquat behandeln zu können, braucht es das Wissen verschiedener Disziplinen sowie die Kooperation von deren Experten“ (ebd., S. 5). Als weiteres Beispiel erfolgreicher Zusammenarbeit nennen die Autoren die Forschungen zur Embodied Cognit i ve Science und die damit zusammenhängende Kontroverse um das Verhältnis von narrativer vs. historisch-biographischer Wahrheit. Was den Prozeß des Erinnerns und damit den klassischen klinischen Topos der Rekonstruktion von Erfahrung anbelangt, hat die Psychoanalyse hier bereits Abschied nehmen müssen von liebgewordenen Vorstellungen wie den Metaphern der Erinnerung als „Lagerhaus“ bzw. der des Analytikers als eines „Archäologen“ (Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, 1998). Erinnern ist demnach „nicht eine Reaktivierung statisch gespeicherter Informationen, sondern das Produkt dynamischer Re-Kategorisierungsprozesse im Hier und Jetzt der Übertragung.“ (Leuzinger-Bohleber et al., 2008 a, S. 166). Insbesondere die Entdeckung der Spiegelneuronen (Gallese, 2001; Rizzolatti et al., 1996) habe bewiesen, daß Erinnern immer „abhängig von der ‚System-Umwelt-Interaktion’ (d.h. einem inneren oder realen Dialog mit Objekten) (ist) und damit immer ‚embodied’. Erinnern ist sensomotorische Koordination …, denn auch innere Prozesse beruhen auf sensomotorischen Stimulationen.“ (Leuzinger-Bohleber, et al., 2008, S. 166).
Dieses veränderte Konzept von „Erinnerung“ als eines interaktiven, sensomotorisch fundierten gemeinsamen Konstruktionsprozesses in der analytischen Situation ist Ergebnis interdisziplinärer Zusammenarbeit von Psychoanalyse und Neurowissenschaften. Dabei berufen Leuzinger-Bohleber et al., ähnlich wie Solms, „neurobiologische Befunde und Konzepte …zu einer Art ‚Schiedsrichter’ zwischen konkurrierenden psychoanalytischen Theorien … Die kohärenter zur Neurobiologie passende Theorie ist dann die vorzuziehende.“ (ebd. S. 167 f.). Dies ist ein gutes Beispiel für die Forderung nach externer Kohärenz psychoanalytischen Wissens (Strenger, 1991), wie sie im Einleitungskapitel dieser Dissertation im Zusammenhang mit der These der indirekten Relevanz außeranalytischer Befunde für die Psychoanalyse formuliert wurde.
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Als abschließende Einschätzung der Beziehung zur Neurobiologie votiere ich deshalb für die These der indirekten Relevanz außeranalytischen Wissens für die Psychoanalyse. Auch wenn die Psychoanalyse primär ein hermeneutisches Verfahren ist, hat die Neurobiologie besonders in den Bereichen der Stressforschung und der traumabedingten Gedächtnisstörungen wertvolle Erkenntnisse geliefert, die nicht nur ein besseres Verstehen traumatisierter Patienten ermöglichen, sondern auch Anstoß für eine partielle Modifizierung der Behandlungstechnik geben.
Als leichte Irritation bleibt die Tatsache, daß die psychoanalytische Community durch die Hirnforschung, anders als durch die Säuglingsforschung, so stark fasziniert wird, daß sie bereit ist, aufgrund von Befunden der Neurobiologie gewisse „Revisionen“ althergebrachter Überzeugungen zu akzeptieren. Wie das genannte Beispiel des Abschieds von der Lagerhaus-Metapher zeigt, wird damit ja der grundlegende Anspruch der Psychoanalyse, die Vergangenheit des Patienten i.S. der „historischen Wahrheit“ zu rekonstruieren, erheblich relativiert. Zwar hat das „Dort und Damals“ in der Psychoanalyse nicht erst mit der Embodied Cognitive Science an Bedeutung verloren. Bereits wesentlich früher, mit der Entwicklung von der Ein-Personen- zur Zwei-Personen-Psychologie und der behandlungstechnischen Fokusverschiebung auf das „Hier und Jetzt“ der Übertragung ist die rekonstruktive Dimension der analytischen Arbeit mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Dennoch gehören das „Erinnern“ und die „Kultur des Erinnerns“ nach wie vor zu den zentralen Topoi der Psychoanalyse.
Fast könnte man den Eindruck gewinnen, die Psychoanalyse sehe die Neurobiologie als eine Art „Heilsbringerin“ für ihre Disziplin. Bestes Beispiel ist die Position von Zepf (2006), der zwar die Befunde der Säuglingsforschung für irrelevant erklärt und mit Wolff übereinstimmt, der bekräftigt, daß „all that is relevant for psychoanalysis must come from the couch“ (ebd., S. 139). Im Gegensatz dazu erklärt er sich aber überraschenderweise bereit, psychoanalytische Annahmen über ein intrauterines Seelenleben für obsolet zu erklären, falls die Neurobiologie nachweisen könne, „daß seelische Tätigkeiten an eine Myelinisierung der Großhirnrinde gebunden sind, die bei der Geburt aber noch nicht in ausreichendem Maße vorliegt …“ (ebd.).
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Liegt dieser deutlich größeren Toleranz der Psychoanalyse gegenüber der Neurobiologie vielleicht doch in erster Linie der heimliche Wunsch zugrunde, die Psychoanalyse endlich wieder „anschlußfähig“ zu machen und ihr aus dem kränkenden wissenschafts- und gesundheitspolitischen Schattendasein herauszuhelfen?
In diesem Kapitel wurden einige ausgewählte Befunde der Neurobiologie vorgestellt, die die maladaptiven Wirkungen früher Traumatisierung auf Gehirnentwicklung und Informat i on s verarbeitung demonstrieren.
Nach knapper Darstellung der Anatomie sowie der prä- und postnatalen Entwicklung des G e hirns wurde die Bedeutung der neuronalen Plastizität (Ciaranello et al., 1995) und der „gebrauch s abhängigen“ Entwicklung des Gehirns (Perry et al., 1998) hervorgehoben (Kap. A.3.3.1.1.). Aufbauend auf Panksepp (1999) und Sachsse (2003) wurde das durch Neurotransmitter vermittelte Zusammenspiel verschiedener Gehirnzentren mit dem Sympathikus und Parasympathikus beschrieben, um die „normale“ sowie die traumatische Stressphysiologie zu illustrieren (Kap. A.3.3.1.2.). Darauf folgte die Darstellung des Pr o zesses der postnat a len Reifung der kindlichen Stressbewältigungssysteme (Kap. A.3.3.2.1.). Dabei wurde auf Erkenntnisse der Säuglingsforschung zurückgegriffen, um die interaktive präverbale (rechtshemisphärische) „brain-brain-interaction“ (Trevarthen, 1993) zwischen Fürsorgeperson und Säugling zu beschreiben, über die beim Säugling erfahrungsabhängig die neuronalen Verschaltungen des Stressbewältigungssystems gebahnt werden.
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Frühe (chronische) Beziehungs-Traumatisierungen durch Überstimulation (Mißhandlung und Mißbrauch) oder Unterstimulation (Vernachlässigung) bedeuten für den Säugling anhaltende negative emotionale „states“. Die dadurch ausgelösten psychobiologischen Reaktionen der Übererregung mit anschließender Dissoziation (Perry et al., 1998) führen über die gleichzeitige Aktivierung von Sympathikus und Parasympathikus sowie antagonistischer Neurotransmitter zu Synapsentod, Abnahme der dendritischen Verästelung und damit zu Schädigungen des reifenden kindlichen Stressb e wältigungssystems (Kap. A.3.3.2.2.).
Traumatische Erfahrungen haben zudem massive Störungen der Informationsverarbe i tung zur Folge (Kap. A.3.3.3.). Dazu wurden in Kap. A.3.3.3.1. zunächst die gängigen Gedächtnism o delle unter zeitlichen (Ultrakurzzeit, Kurzzeit, Langzeit), prozeßbezogenen (Enkodierung, Konsolidierung, Speicherung, Abruf) und inhaltlichen Kriterien dargestellt (deklarativ-nondeklarativ, Squire, 1987 bzw. explizit-implizit, Schacter, 1987), von denen Tulvings (1995) hierarchisches SPI-Modell das ausgereifteste sein dürfte.
In Kap. A.3.3.3.2. wurden aktuelle Befunde zu mnestischen Verarbeitungsprozessen traumat i scher Erfahrungen referiert. Die Erkenntnisse konvergieren dahingehend, daß die Hauptursache für posttraumatische Gedächtnisstörungen in den spezifischen Enkodierungs- und Speicherungsprozessen unter traumatischen Stress-Bedingungen liegt (tra u matisches G e dächtnis, van der Kolk, 2000). Demnach kommt es aufgrund der verstärkten Freisetzung bestimmter Neurotransmitter zu einer funktionellen Entkoppelung von Amygdala, Hippocampus und präfrontalem Kortex, so daß die einströmenden Reize nicht fokussiert wahrgenommen und kontextualisiert, sondern lediglich als fraktionierte Sinnesmodalitäten abgespeichert werden können. Werden diese Reize als „flash backs“ getriggert, scheint das Broca-Sprach-zentrum blockiert zu sein (Rauch et al., 1996), was der klinischen Erfahrung mangelhafter sprachlicher Repräsentation des traumatischen Geschehens entspricht.
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Neben den „flash backs“, die sich als Hypermnesien („fotografische“ Erinnerungen) präsentieren, fallen andere Teile der traumatischen Szene nicht selten der partiellen bzw. t o talen Amnesie anheim. Diese Amnesien können sich, wie in Kap. A.3.3.3.3. gezeigt, in einer umfassen den Beeinträchtigung von Gedächtnisleistungen niederschlagen (mnestisches Blockadesyndrom, Markowitsch, 2001). Diese Störungen wirken sich bei früh traumatisierten Kindern im Verbund mit der traumabedingten Unfähigkeit zur Reizdiskrimierung, zur Aufmerksamkeitsfokussierung sowie den „primären Reaktionen“ (fight/flight/freeze) negativ auf die gesamte kognitive Entwicklung aus und lassen die Kinder nicht selten in Schule und Ausbildung scheitern.
Dissoziation als habituelles Muster, auf Stress zu reagieren, kann sich schließlich im Adoleszenz- und Erwachsenenalter in pathologische chronische Dissoziation auswachsen, die sich bis zur strukturellen Dissoziation (Nijenhuis et al, 2004) mit multiplen Selbstzuständen bzw. Teilpersönlichkeiten steigert (Kap.A.3.3.3.4.).
In Kap. A.3.3.4. wurde wie in den beiden vorherigen Kapiteln wieder unter methodologischem Gesichtspunkt die Frage aufgeworfen, inwieweit und unter welchen Bedingungen Psychoanalyse und Neurobiologie trotz ihrer unterschiedlichen Diskursrahmen in einen interdisziplinären Dialog eintreten können.
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Als eine Art Zusammenführung der bis hierher dargestellten Zugänge zum Thema soll im Folgenden ein integratives psychoanalytisches Modell vorgestellt werden, das die verschie-denen Beiträge von Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurobiologie zur psychoana-lytischen Theorie des Traumas verbindet. Sein Schwerpunkt liegt in der traumabedingten Störung der sog. Mentalisierungsfunktion. Es handelt sich um das Mental i sierungskonzept von Peter Fonagy und Mitarbeitern (Bateman & Fonagy, 2008; Fonagy & Target, 2000, 2001; Fonagy et al., 2004), aus welchem die Autoren behandlungstechnische Implikationen ableiten, die für die Therapie früh traumatisierter Kinder von besonderer Bedeutung sind (vgl. dazu den behandlungstechnischen Fokus „Mentalisierung“ in Kap. B.2.2.5.). Dazu soll zunächst die normale Entwicklung des Zusammenspiels von Affektregulation und Mentalisierung (Kap. A.4.1.) und anschließend die Störung dieses Entwicklungsprozesses durch Bindungstrauma-tisierung (Kap. A.4.2.) dargestellt werden.
In Kap. A.3.1.1.2. wurde der Prozeß primärer und sekundärer Affektregulation bereits be-schrieben. Dabei wurde unter Rückgriff auf die Theorie des sozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung (Gergely & Watson, 1996, 1999) die zentrale Bedeutung kon-gruenter und markierter Spiegelung der kindlichen Affektäußerungen durch eine feinfühlige Mutter dargelegt. Durch diese kongruente und markierte Spiegelung gelingt es dem Säugling, sekundäre Repräsentanzen seiner prozeduralen Selbstzustände zu bilden und über die erfolg-reiche Kontingenzkontrolle der mütterlichen Spiegelung i.S. der „Selbst-Urheberschaft“ ein Gefühl der Kontrolle über eben diese „states“ zu gewinnen.
„Wir haben also vier verschiedene Entwicklungsfunktionen, denen die mütterliche Affektspiegelung dient:
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Mit diesem letzten Zitat ist bereits der Zusammenhang zwischen Affektregulation und Mentalisierung angesprochen: Mütterliche Affektspiegelung befördert nicht nur die Affektregulation, sondern auch den Prozeß der Mentalisierung. Doch was ist darunter zu verstehen? Fonagy et al. beschreiben damit die „Fähigkeit, sich selbst und anderen intentionale mentale Zustände - Ziele, Wünsche und Überzeugungen – zuzuschreiben, um Handlungen und Verhaltensweisen zu erklären ...“ (2004, S. 262). Dieser Entwicklungsprozeß, der mit ca. 9 Monaten beginnt und mit 4-5 Jahren seinen Abschluß findet, ist als theory of mind traditionelles Forschungsgebiet der kognitiven Psychologie (Astington, 2000; Mitchell, 1997). Deren Modelle „beschreiben das Kind eher als isolierten Informationsprozessor, der mit Hilfe biologischer Mechanismen, deren Versagensquote bei suboptimaler Anlage des Kindes kalkulierbar ist, eine Theorie des Mentalen konstruiert.“ (Fonagy et al., 2004, S. 38). Fonagy versucht einen Brückenschlag von der Psychoanalyse zur kognitiven Psychologie, indem er die Entwicklung einer „theory of mind“ nicht nur als biologische Reifungserrungenschaft, sondern als Ergebnis der Qualität der frühen Interaktion zwischen Pflegeperson und Säugling/Kleinkind konzipiert.
Lecours & Bouchard (1997) verwenden den Begriff der Mentalisierung in einem anderen Sinn. Aufbauend auf Marty (1990) und Luquet (1987) verstehen sie darunter den gesamten Prozeß der Transformation äußerer, konkreter Erlebnisse in innere, psychische Erfahrung. „Mentalisierung“ i.S. Fonagys, d.h. die Entwicklung einer „theory of mind“, betrachten die Autoren dagegen lediglich als einen Aspekt des in ihrem Sinne viel komplexeren Mentalisierungsprozesses.
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Um Begriffsverwirrung zu vermeiden, soll im Folgenden mit dem Begriff der „Mentalisierung“ jedoch i.S. Fonagys die Entwicklung einer „theory of mind“ bezeichnet werden. Dies zum einen, weil diese Verwendung sich im psychoanalytischen Mainstream inzwischen weitgehend durchgesetzt hat, zum anderen weil der von Lecours & Bouchard mit diesem Begriff belegte umfassende psychische Transformationsprozeß in der Psychoanalyse gemeinhin als Prozeß der Symbolisierung bezeichnet wird (vgl. dazu die Ausführungen in Kap. A.2.2.5.).
Da die Fähigkeit zur Mentalisierung i.S. einer „theory of mind“ zentrale Voraussetzung gelingender Psychotherapie ist, verfolgen die Autoren als Kliniker auch das Ziel, die Bedingungen erfolgreicher und scheiternder Mentalisierung zu untersuchen, um daraus Konsequenzen für eine entwicklungsorientierte Psychotherapie abzuleiten (s. Kap. B.2.2.5.). Daher hat Fonagys Mentalisierungskonzept gerade für die vorliegende Dissertation eine herausragende Bedeutung. Es soll daher im folgenden Kapitel dargestellt werden.
Das „Neun-Monats-Wunder“
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Der Beginn der Entwicklung einer „theory of mind“ wird von den meisten Säuglingsforschern und Kognitionspsychologen auf etwa den 8./9. Lebensmonat datiert, wenn der Säugling zu ahnen beginnt, „that there are other minds out there“ (Stern, 1985). Dieser sozio-kognitive Reifungsschub, auch als Neun-Monats-Wunder (Tomasello, 1995, 1999) bezeichnet, wird gemeinhin an den neu erworbenen Fähigkeiten des Säuglings zur gemeinsamen Aufmerksamkeit (joint attention) wie Blickverfolgung, sozialer Rückversicherung (social ref e rencing) sowie nachahmendem Lernen festgemacht (Carpenter et al., 1998, Corkum & Moore, 1995). Tomasello (1995, 1999) schließt aus diesen neuen Fähigkeiten auf das Vorhandensein eines „intentionalen Standpunktes“, von dem aus Säuglinge nun in der Lage sind, die hinter dem Verhalten von Personen liegenden Intentionen zu erkennen.
Wegen der dialogischen Struktur der frühen Mutter-Säuglings-Interaktion (vgl. Kap. A.3.1.1.1.) setzen andere Entwicklungsforscher (Meltzoff & Gopnik, 1993; Stern, 1992; Rochat, 2001) den Beginn von Intersubjektivität i.S. wechselseitigen Verstehens der Intentionen des Anderen noch wesentlich früher an. So postuliert z.B. Trevarthen (1979, 1993, Trevarthen & Aitken 2001) eine von Geburt an vorhandene primäre Intersubjektiv i tät, mithilfe derer Säuglinge die den Interaktionen ihres Gegenübers zugrundeliegenden Motive, Gefühle und Absichten interpretieren können.
Die unterschiedliche Datierung des Beginns von Intersubjektivität hängt mit der Frage zusammen, ob beobachtbare interaktive Reziprozität zwischen Säugling und Bindungsperson als Kriterium für das Vorliegen von Intersubjektivität ausreicht, oder ob dafür auch ein Bewußtsein dieses geteilten Affektzustandes nötig ist. Weiter wird darüber debattiert, ab wann zusätzlich ein mentalistisches Verständnis der Gefühlszustände anderer einsetzt, wann also Säuglinge beginnen, nicht nur die Ziele der Handlungen des Anderen, sondern auch die seinen Handlungen vorausgehenden Gefühle, Wünsche und Absichten zu verstehen. Dann nämlich erst, so einige Autoren, sei es angebracht, von einem „intentionalen Standpunkt“ im engeren Sinne zu sprechen (zur Diskussion der intersubjektivistischen Position vgl. den umfassenden Überblick bei Fonagy et al., 2004, S. 217 ff. sowie Dornes, 2002).
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Teleologischer Modus
Fonagy et al. postulieren, daß die Phänomene des frühen sozial-affektiven Austauschs zwischen Mutter und Säugling auch ohne Annahme einer primären Intersubjektivität erklärbar sind, wie z.B. durch den bereits beschriebenen Mechanismus der Kontingenzen t deckung und –maximierung (Gergely & Watson, 1996, 1999, vgl. Kap. A.3.1.1.2.). Und auch die genannte Fähigkeit der „joint attention“ ließe sich nicht-mentalistisch als lediglich teleologisches Verhalten im Rahmen einer „naiven Theorie rationalen Handelns“ konzipieren (Gergely & Csibra, 1997). Mit „teleologisch“ meinen die Autoren Interpretationen von Handlungen, die sich „auf das Ergebnis (beziehen), das der Aktion folgt, während kausale Erklärungen auf eine notwendige Bedingung verweisen, die dem Ereignis vorausgeht.“ (Fonagy et al., 2004, S. 230). Demzufolge interpretieren Säuglinge eigene und fremde Handlungen als zielgerichtet, jedoch nicht zwingend als durch mentale Zustände veru r sacht. Diese Differenzierung ist z.B. bei der Einschätzung der mentalen Fähigkeiten von autistischen Kindern (Abell et al., 2000) sowie von Primaten (Call & Tomasello, 1999) von Belang, die sehr wohl zu zielgerichtetem Handeln in der Lage sind, nicht jedoch zur Entwicklung einer „theory of mind“ (zu den Vorzügen eines solchen „schlanken“ nicht-mentalistischen Modells vgl. die Diskussion bei Fonagy et al., 2004, S. 238 f.).
Die klinische Relevanz einer solchen Position „beruht auf der Annahme, ... daß bestimmte Individuen mit schweren Charakterstörungen zwar unfähig sind, sich in Bindungskontexten des intentionalen Standpunktes zu bedienen, dessenungeachtet aber teleologisch denken können und dies – mit ausgesprochen nachteiligen Folgen für ihre sozialen Beziehungen – tatsächlich tun.“ (Fonagy et al., 2004, S. 239). Als Beispiel bringen die Autoren den Fall eines Vaters, dem sein Sohn gesteht, er habe versehentlich eine Lampe zerbrochen. Der Vater zeigt zunächst Verständnis, weil er ihm glaubt, daß es unabsichtlich geschehen ist. Als der Vater jedoch entdeckt, daß es seine Lieblingslampe getroffen hat, wird er so wütend, daß er den Sohn schwer mißhandelt. Hier regrediert der Vater von einem zunächst mentalistischen, d.h. intentionalen Modus (der die Intentionen des Kindes berücksichtigt) unter dem Stress der negativen Affektüberflutung auf einen teleologischen Modus (der nur das Ergebnis des Handelns in Betracht zieht) (ebd., S. 363).
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Intentionaler Modus
Erst im Alter von ca. zwei Jahren lassen sich bei Kindern erste Anzeichen dafür entdecken, daß sie hinter den Handlungen von Menschen vorausgehende Intentionen erkennen. In Experimenten unterstellen sie Personen z.B. bestimmte Absichten, auch wenn sie die zielgerichtete Aktion selbst nicht beobachten können (vgl. die Studienübersicht bei Wellman & Phillips, 2000). Kinder dieses Alters können nun auch anderen Personen emotionale Zustände zuschreiben, die sich von ihren eigenen Affektlagen und Wünschen unterscheiden. Dies befähigt sie zu empathischen Reaktionen, die in prosoziale Verhaltensweisen münden (Bischof-Köh-ler, 1998; Thompson, 1998 b). Ein vielzitiertes Beispiel dafür stammt von Repacholi & Gopnik (1997): Werden achtzehn Monate alte Kinder gebeten, der Versuchsleiterin eine von zwei Speisen (Cracker bzw. Brokkoli) anzubieten, sind sie in der Lage, dasjenige Essen auszuwählen, für das die Versuchsleiterin im vorherigen Durchgang eine eindeutige Präferenz gezeigt hatte („hm, lecker!“ vs. „igitt!“). Dies auch dann, wenn die Präferenz sich von der der Kinder eindeutig unterscheidet.Vierzehn Monate alte Kinder sind dagegen noch nicht in der Lage, die Präferenz der Frau zu berücksichtigen, sondern bieten ihr dasjenige Essen an, das sie selbst am liebsten mögen.
Repräsentationaler Modus
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Während Kinder anderen Personen also schon mit zwei Jahren Wünsche und Intentionen zuschreiben können, die sich von ihren eigenen unterscheiden, gelingt ihnen dies bei G e da n ken und Überzeugungen erst mit ca. 4 Jahren, weshalb man erst ab diesem Alter von einer reif entwickelten „theory of mind“ spricht (Perner et al., 1987). Erst dann verstehen Kinder den repräsentationalen Charakter von Gedanken, d.h. Gedanken als Darstellungen von oder Perspektiven auf Realität, während sie vorher Gedanken als Abbilder der Realität erleben. Experimentell wird diese Errungenschaft gewöhnlich in sog. „false-belief“-Prozeduren nachgewiesen, denn erst, wenn ein Kind verstehen kann, daß man aufgrund von falschen Überzeugungen handeln kann, beweist es, daß es Gedanken als von der Realität unabhängige Repräsentationen begreift. Zur Illustration sei das in die Literatur eingegangene Maxi- Versuchsparadi ma von Wimmer und Perner (1983) beschrieben: In einer Puppenstube wird dem Versuchskind vorgespielt, wie eine Puppe namens Maxi eine Tafel Schokolade in eine Schublade legt und dann den Raum verläßt. Während sie draußen ist, erscheint eine andere Puppe, findet die Schokolade und legt sie in einen Schrank. Danach kehrt Maxi zurück. Das Versuchskind wird nun gefragt, wo Maxi die Schokolade suchen wird. Während ein vierjähriges die Frage korrekt beantworten kann („in der Schublade“), wird ein dreijähriges behaupten: „im Schrank“. Es kann sich noch nicht vorstellen, daß Maxi nicht über das gleiche Wissen verfügt wie es selbst, da es Wissen/Gedanken als Abbilder der Realität erlebt. Vierjährige dagegen sind in der Lage, Gedanken als Repräsentationen von Wirklichkeit zu begreifen, weshalb sie auch verstehen können, daß man aufgrund von falschen Überzeugungen handeln kann. Zur Diskussion über die Frage, warum das repräsentationale Verstehen von Überzeugungen erst soviel später als das von Wünschen und Intentionen auftaucht, vgl. den Überblick bei Fonagy et al., 2004, S. 250 f.).
Diese schrittweise Entwicklung einer Theorie des Mentalen ist, wie erwähnt, aus der Sicht von Fonagy et al. kein lediglich biologisch bedingter Reifungsprozeß, sondern sie hängt auch von der affektiv-interaktiven Qualität der Mutter-Kind-Beziehung ab. Die Autoren postulieren, daß das Kind zwischen eineinhalb und vier Jahren Gedanken und Gefühle grundsätzlich in zwei von einander getrennten Modalitäten erlebt, im sog. „Modus der psychischen Äquivalenz“ und im „Als-ob-Modus“. Zwischen diesen beiden Modi oszilliert das Kind zunächst, weshalb es eine responsive Pflegeperson braucht, die ihm hilft, sie in den „reflektierenden Modus“ zu integrieren (s. nächstes Kapitel). Die Autoren weisen darauf hin, daß Borderline-Patienten noch als Erwachsene zwischen diesen Modi hin- und herwechseln, weil ihnen aufgrund von traumatischen Erfahrungen eine Integration in den „reflektierenden Modus“ nicht gelungen ist (dazu weiter unten).
Nun zunächst zum Modus der psychischen Äquivalenz. In ihm operiert das Kind, „in dem es Vorstellungen nicht als Repräsentationen wahrnimmt, sondern als direkte Abbilder der Realität und infolgedessen immer zutreffend.“(Fonagy et al., 2004, S. 262). Innere und äußere Welt sind isomorph, und wenn die innere Welt auf die äußere projeziert wird, wird absolute Entsprechung erwartet. Das oben beschriebene „Maxi-Versuchsparadigma“ ist ein typisches Beispiel für das Erleben im Modus der „psychischen Äquivalenz“.
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Diese Isomorphie von innerem Erleben und äußerer Realität findet sich bei traumatisie r ten Patienten in den typischen flash backs, die sich „anfühlen“, als würde der Patient die traumatische Situation erneut erleben.
„Wie die akute Angst eines Dreijährigen vor seinen Phantasien („der Tiger“ unter seinem Bett) ist die posttraumatische subjektive Angsterfahrung (Flashback) überwältigend, resistent gegen Argumente und wird so lange als Gefahr empfunden, bis sie mentalisiert wird. Häufig weigern sich Überlebende von traumatischen Ereignissen über diese nachzudenken, weil das Nachdenken ein Wiedererleben bedeutet.“ (Fonagy, 2008, S. 135). |
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Anders der Als-ob-Modus. In ihm operiert das Kind, „indem es Gedanken als repräsentational wahrnimmt, ohne sie jedoch daraufhin zu untersuchen, ob sie der Realität entsprechen.“ (Fonagy et al., 2004, S. 262). Beispiel ist das typische Als-ob-Spiel von Kleinkindern, während dessen die Realität suspendiert wird, jedoch ohne daß das Kind sich bewußt ist, daß sein Spiel die Realität nur repräsentiert. Fragt man einen Zweijährigen, der einen Stuhl durchs Zimmer schiebt und „Panzer fahren“ spielt, ob „das Ding da“ ein Stuhl oder ein Panzer sei, bricht das Spiel zusammen, ohne daß das Kind eine Antwort wüßte (ebd., S. 266). Die Als-ob-Welt wird von der Realität abgekoppelt und kann deshalb nicht auf sie bezogen werden.
Streeck-Fischer (2006, S. 116) weist darauf hin, daß der Terminus „Als-ob-Modus“ bei Fonagy et al. insofern etwas unglücklich gewählt ist, „als wir beim Kind gerade dann von der Als-ob-Fähigkeit sprechen, wenn es zur spielerischen Kommunikation in der Lage ist.“ In diesem Sinne sprechen Fonagy et al. auch von entwicklungsförderlichem Als-ob-Spiel (s. dazu weiter unten), durch welches das Kind im spielerischen Umgang mit der Mutter lernt, die beiden Modi (Äquivalenz-Modus bzw. Als-ob-Modus) zu integrieren. Auf diese begrifflich etwas verwirrende Differenz zwischen „unreifem“ Als-ob-Modus und „reifem“ Als-ob-Spiel ist also zu achten.
Bei traumatisierten Patienten findet sich dieser Als-ob-Modus als Dissoziation wieder, bei der der Kontakt zur unerträglichen traumatischen Realität abgekoppelt wird.
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„Das Eindringen des Als-ob-Modus als Folge von Traumata und der eingeschränkten Mentalisierungsfähigkeit finden wir besonders bei dissoziativen Erlebnissen. Im dissoziativen Denken ist der Als-ob-Modus, in welchem die Phantasie von der realen Welt abgeschnitten wird, so extrem, daß überhaupt keine Zusammenhänge mehr möglich sind.“ (Fonagy, 2008, S. 135) |
Im vierten und fünten Lebensjahr werden der Äquivalenz-Modus und der Als-ob-Modus in den reflektierenden Modus integriert, in dem mentale Zustände als Repräsentationen, als unterschiedliche Perspektiven auf die Welt wahrgenommen werden können. Unterschiede, aber auch Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Realität treten zutage. Innen und Außen, Phantasie und Realität müssen weder gleichgesetzt noch dissoziiert werden.
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„Die Kinder beginnen anzuerkennen, daß Dinge unter Umständen anders sind, als sie zu sein scheinen, daß andere Menschen die Realität auf andere Weise wahrnehmen können als sie selbst, daß man Überzeugungen mit unterschiedlich hoher Gewißheit vertreten kann und daß sich ihre eigenen Eindrücke oder Überzeugungen im Laufe der Zeit verändern können.“ (ebd., S. 268 f.) |
Die Autoren stellen weiter fest, daß eben diese Integration in den „reflektierenden Modus“ nur gelingt, wenn die Fürsorgeperson dem Kind auf spielerische Weise hilft, Brücken zwischen Als-ob-Modus und Äquivalenz-Modus zu bauen. Der Erwachsene hat dabei die Aufgabe, im Als-ob-Spiel den mentalen Zustand des Kindes zu spiegeln, gleichzeitig jedoch den Rahmen der äußeren Realität zu halten, damit die innere Als-ob-Welt nicht zu bedrohlich wird: „Der mentale Zustand des Kindes muß genügend klar und exakt repräsentiert werden, damit dieses ihn erkennen kann; gleichzeitig muß er so spielerisch sein, daß das Kind von seinem Realitätsgehalt nicht überwältigt wird.“ (Fonagy et al., 2004, S. 272). Dies geschieht wie bei der Affektspiegelung im Säuglingsalter durch Markierung, d.h. eine gewisse Übertriebenheit und Künstlichkeit („wissende“ Blicke, leichtes Kopfneigen, hohe Tonlage etc.), mit denen die Fürsorgeperson im Spiel die inneren Zustände des Kindes spiegelt und ihm damit gleichzeitig signalisiert, daß diese Zustände nicht real sind und deshalb auch keine realen Folgen zu befürchten sind.
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Um das Als-ob-Spiel zu illustrieren, sei ein Beispiel gebracht: Nimmt eine Mutter beim (konkordanten) Spiel mit ihrem Kleinkind ein Spielzeug-Krokodil in die Hand und verzieht in Betrachtung dieses Untiers in markierter Übertriebenheit das Gesicht zu einem Ausdruck des Entsetzens, wobei sie für das Kind ein tröstendes „Augenzwinkern“ beimischt, so spiegelt sie dem Kind kongruent seine Angst. Gleichzeitig signalisiert sie ihm aber auch, daß sie selbst „in echt“ keine Angst hat. Sie hält also den Realitätsbezug aufrecht und demonstriert dem Kind, daß es in Wirklichkeit keinen Anlaß für die Angst gibt, sprich: daß eine andere Betrachtung der Realität möglich ist.
Das Spiel erfüllt also eine affektregulierende und gleichzeitig mentalisierende Funktion. Dieser Zusammenhang von Affektregulation und Mentalisierung wird auch deutlich, wenn das Spiel in komplementären Rollen stattfindet: Spielt ein Vater z.B. mit seinem kleinen Sohn Cowboy und „stirbt“, wenn er von ihm „erschossen“ wird, markiert-theatralisch, so signalisiert er seinem Sohn durch die Markierung, daß eine Verwechslung mit der Realität ausgeschlossen ist. Der Junge kann dadurch aggressive Impulse gegen den Vater lustvoll ausleben und gleichzeitig regulieren, weil sie durch die Folgenlosigkeit ihre Bedrohlichkeit verlieren: Das Kind kann nun mit der Realität spielen („playing with reality“, Fonagy & Target, 1996b, 2001).
Eine im Vergleich zur Affektspiegelung im Säuglingsalter zusätzliche Möglichkeit der Affektregulation besteht beim Als-ob-Spiel in der Variante der aktiven Modifizierung des affektiven Erlebens, was eine weitere Kontrolle des Affekts gewährleistet: So kann man z.B. das ängstigende Krokodil totschießen, es im Zoo einsperren, es füttern, bis es so satt ist, daß es einen nicht mehr fressen kann, es zähmen und als Haustier halten, um böse Einbrecher abzuschrecken etc. Insbesondere negative Affekte wie Angst und Wut können durch solche markierte Externalisierungen im Spiel reguliert werden. Aktuelle angst- oder aggressionsbesetzte Erfahrungen, z.B. eine schmerzhafte Impfung beim Kinderarzt, können verändert werden (z.B.durch Passiv-Aktiv-Umkehrung), wodurch das Kind ein Gefühl der Kontrolle über ängstigende Situationen gewinnt.
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In den bisherigen Erörterungen wurden Grundzüge gelingender Prozesse von Affektregulation und Mentalisierung auf der Basis sicherer Bindung sowie markierter und kongruenter mütterlicher Affektspiegelung vorgestellt.
Was geschieht, wenn diese Prozesse mißlingen, wie im Falle früher Traumatisierung, d.h. im Falle von Bindungstraumatisierung? Um den Zusammenhang von gestörter Bindung, Affektregulation und Mentalisierung zu beschreiben, greifen Fonagy et al. auf neuere Befunde der Neurobiologie zurück.
Wie in Kap. A.3.3.2.1. ausgeführt, ist eine sichere Bindung unverzichtbare Vorausssetzung für die interaktive Entwicklung des kindlichen Stressbewältigungsssystems und damit der zunehmenden Fähigkeit des Säuglings, heftige v.a. negative Affekte und damit das entstehende eigene Selbst zu regulieren (Schore, 2001 a). Wie schon Schore, der die entscheidende Bedeutung des präfrontalen Kortex als „senior executive of the social-emotional brain“ bezeichnet (ebd.), verweisen auch Bateman & Fonagy (2008) darauf, daß nicht nur eine gelingende Affektregulation, sondern auch die Mentalisierung „im wesentlichen von einem optimalen Funktionieren des präfrontalen Kortex ab(hängt).“ (ebd., S. 137). Die sichere Bindung als Voraussetzung für Affektregulation und Mentalisierung stellt ein interaktives Feld zur Verfügung, um auf der Basis absoluten Vertrauens zur Bindungsfigur über eigene und fremde mentale Welten nachzudenken: „Normalerweise ist Bindung der ideale ‚Trainingsplatz’ für die Entwicklungs von Mentalisierung, weil sie sicher ist und keinen Wettkampf erfordert.“ (Fonagy, 2008, S. 139).
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Im Falle von Bindungstraumatisierung jedoch erweist sich diese Eigenschaft von Bindung als zerstörerisch, denn die Aktivierung des Bindungssystems unterdrückt tendenziell die Mentalisierung. Dies illustrieren neuere Befunde der Hirnforschung wie z.B. die von Bartels & Zeki (2000, 2004), die mit bildgebenden Verfahren zwei Arten von Bindungen, nämlich mütterliche Bindung an ihr Kind sowie erotische Bindung von Liebespartnern, untersuchten. Die Aktivierung der für beide Bindungsarten jeweils zuständigen Hirnareale (die durch die Betrachtung entsprechender Fotos der eigenen Babys resp. Liebespartner ausgelöst wurde) deaktivierte gleichzeitig „a common set of regions associated with negative emotions, social judgment and ‚mentalizing’, that is, the assessment of other people’s intentions and emotions.“ (2004, S. 1155). Dieser Vorgang, sprichwörtlich als „Liebe macht blind“ bekannt, erweist sich nun im Falle von Bindungstraumatisierung als geradezu fatal. Da durch Traumatisierungen wie Vernachlässigung, Mißhandlung, aber auch unberechenbare, dissoziationsbedingte Beziehungsabbrüche durch die Mutter gleichzeitig das Bindungsssystem hyperaktiviert wird, um Schutz und Trost zu suchen, entsteht ein biologischer Teufelskreis: Das Kind sucht die Nähe der traumatisierenden Bindungsfigur, die durch ihr Verhalten das Bindungssystem des Kindes weiter hyperaktiviert. Auf der Verhaltensebene läßt sich dies als die typische desorganisierte Bindung mißhandelter Kinder beobachten (vgl. Kap. A.3.2.2.). Aus diesem Teufelskreis entwickelt sich eine biologisch fundierte Abhängigkeit des Kindes von seinem Peiniger, über dessen mentale Zustände nachzudenken durch die Unterdrückung der Mentalisierungsfunktion unmöglich wird. Fonagy zieht daraus den Schluß, daß die bei Borderline-Patienten klinisch zu beobachtenden Mentalisierungsstörungen ihre biologisch-entwicklungs-psychopathologische Ursache in diesem Teufelskreis haben: „Die Mentalisierungshemmung bei traumatisierten, hyperaktivierten Bindungsbeziehungen führt sehr wahrscheinlich zu einer prä-mentalistischen psychischen Realität, die weitgehend zwischen psychischer Äquivalenz und dem Als-ob-Modus gespalten ist.“ (2008, S. 139).
In der Regel wird im Falle von Bindungstraumatisierung auch die Spiegelung der kindlichen Affekte durch die traumatisierende Bindungsperson inkongruent und/oder unmarkiert erfolgen. Dabei führt eine chronisch inkongruente Spiegelung der Affekte des Kindes bei diesem zu einer narzißtischen, dem „falschen Selbst“ ähnlichen Struktur mit der Tendenz, die innere Welt im Als-ob-Modus zu erleben. Eine chronisch unmarkierte Spiegelung der Affekte führt beim Kind dagegen zu einer Borderline-Struktur mit der Tendenz, die innere Welt im Modus der psychischen Äquivalenz zu erleben (Bateman & Fonagy, 2008, S. 141).
Damit wird auch die Repräsentation der Affekte massiv beeinträchtigt: Während im Als-ob-Modus die Repräsentationen der Affekte keine Verbindung zum eigentlichen affektiven Erleben haben, kommt es im Äquivalenz-Modus zu keinen intrapsychischen Repräsentationen der Affekte, sondern diese werden „da draußen“ im Objekt wahrgenommen, d.h. auf dem Wege der projektiven Identifikation im Gegenüber deponiert (s. dazu weiter unten). In beiden Fällen findet keine Regulation der Affekte statt: Im Falle des Als-ob-Modus wird nur der „falsche“ Affekt (pseudo)reguliert, so daß der eigentliche Affekt unreguliert bleibt. Im Falle des Äquivalenz-Modus wird ebenfalls nicht reguliert, sondern es wird im Gegenteil durch den realen, i.d.R. negativen Affekt des Objekts die Erregung noch gesteigert.
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Wie schon Schore (2001 a, b) und Perry et al. (1998), die die erhöhte Stressvulnerabilität früh traumatisierter Kinder beschrieben (vgl. Kap. A.3.3.2.2.), verweisen auch Bateman & Fonagy auf die Veränderungen des Arousal-„Schalters“, die durch chronische Nicht-Regula-tion traumabedingter Hypererregungszustände entstehen. Diese Veränderungen zementieren über die „Abschaltung“ des präfrontalen Kortex nicht nur die Unfähigkeit zur Selbst-und Affektregulation, sondern auch die „primitiven“ Erlebensweisen des Als-ob-Modus und der psychischen Äquivalenz. Wie weiter oben erwähnt, sind die traumatypischen Phänomene der flash backs und der Dissoziation als ein Oszillieren zwischen diesen beiden Modi zu beschreiben (Bateman & Fonagy, 2008, S. 154).
Mit der durch dieses Oszillieren verbundenen Mentalisierungsstörung, die für Borderline-Störungen typisch ist, ist auch eine gestörte Aufmerksamkeitskontrolle verbunden. Denn gelingende Mentalisierung setzt voraus, daß das Individuum in der Lage ist, seinen unmittelbaren Handlungsimpuls als Reaktion auf eine (z.B. vermeintlich provozierende) Aktion des Gegenübers vorübergehend zu unterdrücken, um über die Motive des Interaktionspartners nachzudenken. „Die Hemmung einer impulsiven Reaktion ist eine Vorbedingung für das Mentalisieren … Konzepte für mentale Zustände ermöglichen es dem Gehirn, die Aufmerksamkeit selektiv den Eigenschaften der entsprechenden mentalen Zustände von Akteuren zuzuwenden und diese Eigenschaften kennenzulernen.“ (ebd., S. 145). Die Autoren zitieren zahlreiche Studien (wie z.B. die Untersuchungen spät adoptierter rumänischer Waisenkinder mit schwerer Bindungsdesorganisation), die einen Zusammenhang zwischen früher Traumatisierung und gestörter Aufmerksamkeitsregulation belegen (ebd.). Hier ergeben sich Überschneidungen mit dem ADHS-Syndrom, das sich, wie psychoanalytische Forschungen zeigen (z.B. Leuzinger-Bohleber et al., 2007), aus höchst unterschiedlichen frühkindlichen Bedingungskonstellationen heraus entwickeln kann, zu denen auch frühe Traumatisierung zählt (zur psychoanalytischen ADHS-Diskussion vgl. Ahrbeck, 2007 c, 2008 a; Heinemann & Hopf, 2006; Leuzinger-Bohleber et al., 2006).
Die Traumafolge desorganisierter Bindung wurde bereits ausführlich besprochen (vgl. Kap. A.3.2.2.). Bateman & Fonagy (2008) betrachten die desorganisierte Bindung hauptsächlich unter dem Aspekt der Mentalisierung, indem sie auf Studien verweisen, die die eingeschränkte reflexive Funktion von Müttern desorganisiert gebundener Kleinkinder belegen (ebd., S. 148). Die unzureichende Mentalisierungsfähigkeit der Bindungsperson ist es, die das Kind daran hindert, sein Selbst im „mind“ der Mutter als wünschendes und wollendes Selbst zu entdecken. Stattdessen ist das Kind gezwungen, immer wieder Teile seines desorganisierten Selbst, die es als fremd und nicht zum Selbst gehörig erlebt, zu externalisieren, um die Kohärenz seines Selbst kurzfristig wiederherzustellen.
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Was ist damit gemeint? Im Falle aktiv traumatisierender Eltern ist das Kind mit heftigen, negativen Affektausdrücken der Bindungsperson wie Haß, Ekel, Sadismus, Verachtung etc. konfrontiert. Fonagy et al. (2004) gehen davon aus, daß das desorganisierte Kleinkind diese unmarkierten Affekte der Bindungsperson, auch wenn es sie nicht als integrierte Affekte psychisch repräsentieren kann, dennoch „auf die primären, prozeduralen Selbstzustände des konstitutionellen Selbst kartiert ... Unter diesen Umständen wird der internalisierte Andere in den Strukturen des konstitutionellen Selbst als unverbundener Fremdkörper installiert“ (Fonagy et al., 2004, S. 360). Diesen unverbundenen, nicht repräsentierten Affektausdruck als Widerspiegelung des kindlichen Selbst, der eigentlich Selbstausdruck der traumatisierenden Bindungsperson ist, nennen die Autoren das fre m de Selbst (ebd.). Dieses fremde Selbst (das weitgehend dem psychotraumatologischen Begriff des Täter-Introjekts gleicht, vgl. Hirsch, 1998 a; Sachsse, 2004 a) spielt in der Therapie von Borderline-Patienten eine zentrale Rolle. Es erzeugt, so argumentieren die Autoren, eine verfolgende Wirkung und übt dadurch einen starken intrapsychischen Druck aus, der das desorganisierte Kind/den Borderline-Patienten dazu bewegt, das „fremde Selbst“ durch Projektion auf andere wieder auszustoßen: „Solange der internalisierte, quälende Fremdanteil auf einen Anderen projiziert werden kann, erreicht das Selbst ein vorübergehendes (und illusorisches) Gefühl der Kontrolle und Sicherheit“ – ein Mechanismus, der „als prototypisches Beispiel für das psychoanalytische Konzept der projektiven Identifizierung“ dienen kann (ebd., S. 361 f.) und gleichzeitig als typischer Abwehrmechanismus der Borderline-Störung bekannt ist (Kernberg, 1978, 1988).
Mit dem Mechanismus der Externalisierung des fremden Selbst, so die Autoren, läßt sich schließlich auch das in Kap. A.3.2.2.3.1. beschriebene typische kontrollierende Verhalten desorganisiert gebundener Vorschulkinder erklären:
„Dieser fremde Teil der Selbstrepräsentation muß externalisiert werden, denn sonst kann das Kind keine innere Kohärenz entwickeln. Vielleicht ist dies der Grund dafür, daß sich kleine Kinder, deren frühe Bindung als ‚desorganisiert‘ klassifiziert wurde, ungewöhnlich kontrollierend gegenüber ihren Eltern verhalten. Das Objekt muß pausenlos kontrolliert werden, damit der fremde Selbstanteil erfolgreich in ihm untergebracht werden kann.“ (Fonagy et al., 2004, S. 473) |
Aus den bisherigen Überlegungen zu den Wirkungen von Bindungstraumatisierung auf die Entwicklung der Mentalisierung lassen sich zusammenfassend verschiedene Formen gestörter Mentalisierung ableiten.
Zunächst besteht die Möglichkeit einer grundlegenden Hemmung der Mentalisierung.
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„Wenn das Denken zu einem gewissen Grad teleologisch geblieben ist und die innere Welt tendenziell weiterhin im Modus der psychischen Äquivalenz repräsentiert wird ..., wird das Kind um so eher dazu neigen, jedes Nachdenken über die mentalen Zustände der mißhandelnden Betreuungsperson auszuschalten.“ (Fonagy et al., 2004, S. 355). |
Neben der Gleichsetzung von innerer und äußerer Realität (Äquivalenz-Modus) kann sich die Mentalisierungsstörung bei früh traumatisierten Kindern auch in einer vollständigen Abkoppelung von der äußeren Realität (Als-ob-Modus) manifestieren.
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„Der Mißbrauch verstärkt auch den Als-ob-Modus, weil dieser dem Kind unter Umständen als einzige Möglichkeit dient, um die Verbindung zwischen seinen inneren Zuständen und einer unerträglichen äußeren Realität zu durchtrennen.“ (Fonagy et al., 2004, S. 383). |
Daneben findet sich bei früh traumatisierten Kindern eine weitere Variante gestörter Mentalisierung, nämlich die der hyperaktiven Mentalisierung.
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„Der mentale Zustand der Betreuungsperson erzeugt intensive Angst ... das Kind muß auf Kosten des Reflektierens eigener Selbstzustände unangemessene Ressourcen einsetzen, um das Verhalten der Mutter zu verstehen ... (dies kann) zur Folge haben, daß desorganisiert gebundene Kinder zu wachsamen ‚Lesern‘ des mütterlichen Zustands werden, sich über ihre eigene mentalen Zustände aber kaum Klarheit verschaffen können.“ (Fonagy et al., 2004, S. 352) |
Eine weitere Möglichkeit gestörter Mentalisierung ist die fraktionierte Mentalisierung. Die Autoren vermuten,
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„..daß Mißhandlungserfahrungen mit einer aufgaben- oder bereichsspezifischen ‚Fraktionierung‘ oder Spaltung der Reflexionsfunktion einhergehen …, (so daß) die Reflexionsfähigkeit, die in einem bestimmten Bereich der menschlichen Interaktion bereits verfügbar ist, noch nicht auf andere Bereiche generalisiert (ist).“ (ebd. S. 356). |
All diese Formen gestörter Mentalisierung erhöhen das Risiko für eine Retraumatisierung, da sie es dem Individuum erschweren, die Intentionen potentieller Täter rechtzeitig zu erkennen. Doch auch dann, wenn keine reale Gefahr droht, kann es zu einer Retraumatisierung auf der Ebene des psychischen Erlebens kommen, weil im Äquivalenz-Modus Erleben und Realität in eins gesetzt werden. Dies erklärt die typischen Affektüberflutungen früh traumatisierter Kinder bzw. von Borderline-Patienten.
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„Mentalisierung dient als Puffer: Wenn wir mit bestimmten Aktionen anderer Personen nicht gerechnet haben, ermöglicht die Mentalisierung uns, Hilfshypothesen bezüglich ihrer Überzeugungen zu konstruieren, die automatischen bedrohlichen Schlußfolgerungen vorbeugen. Erneut wird deutlich, daß das traumatisierte Individuum doppelt benachteiligt ist. Weil seine inneren Arbeitsmodelle auf der Grundlage des Mißbrauchs konstruiert wurden, hält es böswillige Absichten des Anderen für nicht unwahrscheinlich; seine Unfähigkeit, Hilfshypothesen zu bilden – insbesondere unter Stress -, bestätigt es in der Überzeugung, in Gefahr zu sein. Der Modus der psychischen Äquivalenz läßt die gefürchtete Gefahr zur Realität werden.“ (ebd., S. 365.) |
Im vorangegangenen Kapitel wurde das Mentalisierungskonzept von Peter Fonagy und Mitarbeitern (Bateman & Fonagy, 2008; Fonagy & Target, 2000, 2001; Fonagy et al., 2004) vorgestellt, das geeignet ist, die verschiedenen Beiträge von Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Neurobiologie zur psychoanalytischen Theorie des Traumas zu integrieren.
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Dazu wurde nach einem kurzen kognitionspsychologischen Abriß der Entwicklung der theory of mind die Bedeutung adäquater mütterlicher Affektspiegelung für die zunehmende Fähigkeit des Säuglings/Kleinkinds herausgehoben, frühe Modi des Erlebens psychischer Realität (Modus der psychischen Äquivalenz, Als-ob-Modus) zu einem „reflektierenden Modus“ zu integrieren. Diese Entwicklung wird dem Kind durch die spielerische Haltung des Erwachsenen ermöglicht, der im Als-ob-Spiel dem Kind dessen innere Realität angemessen spiegelt. Dabei baut er durch das Aufrechterhalten des Bezugs zur äußeren Realität jedoch Brücken, die zwischen Innen und Außen, zwischen Phantasie und Realität vermitteln können. So kann das Kind zunehmend die Fähigkeit entwickeln, Gefühle und Gedanken nicht als Abbild, sondern als Repräsentation von Realität zu sehen und somit „mit der Realtität zu spielen“ („playing with reality“).
Im Falle von chronischer Bindungstraumatisierung kommt es nicht nur zu Störungen der Affektregulation und der Aufmerksamkeitskontrolle, sondern auch der Mentalisierungsfähigkeit, die Entwicklungsarretierungen im Als-ob-Modus und im Modus der psychischen Äquivalenz zur Folge haben können.
Das Fatale an Bindungstraumatisierungen ist, daß durch die Traumatisierungen einerseits das Bindungssystem hyperaktiviert, bei aktiviertem Bindungssystem jedoch, wie bildgebende Verfahren beweisen, andererseits das Mentalisierungssystem deaktiviert wird. Daraus ergibt sich der biologisch fundierte Teufelskreis, daß das Kind als Reaktion auf die Mißhandlung o.ä. die Nähe der mißhandelnden Bindungsperson sucht, um (vergeblich) „Schutz und Trost“ zu finden, gleichzeitig aber daran gehindert wird, über die Motive seines Peinigers in mentalisierendem Sinne „nachzudenken“.
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Insbesondere die unmarkierten Affekte von Wut, Verachtung, Sadismus, die die traumatisierenden Bindungspersonen dem Kind als fremdes Selbst einpflanzen, entwickeln sich zu „inneren Verfolgern“, weshalb das Kind bzw. der spätere Borderline-Patient dazu neigt, dieses „fremde Selbst“ immer wieder in einen ihm nahestehenden Menschen i.S. projektiver Identifikation zu externalisieren. Der Preis für diese vorübergehende Kohärenz des Selbst sind hochpathologische interpersonale Beziehungen mit erhöhtem Reviktimisierungsrisiko.
Die spezifischen Mentalisierungsstörungen, die sich aus Bindungstraumatisierungen ergeben, lassen sich schließlich als Arretierungen im Modus der psychischen Äquivalenz, des Als-ob-Modus, als hyperaktive und/oder fraktionierte Mentalisierung beschreiben.
Das hier nur grob skizzierte Konzept der Mentalisierung von Fonagy et al. hat bei aller innovativen und integrativen Kraft, die von ihm ausgeht, jedoch auch Anlaß zur Kritik gegeben (ich beziehe mich im folgenden überwiegend auf die Zusammenfassung bei Dornes, 2004 a). So wird zum einen bemängelt, daß das Konzept zu kognitionslastig sei, was die Autoren inzwischen selbst einräumen (Fonagy & Target, 2003, zit. nach Dornes, 2004 a). Zudem wird kritisch vermerkt, das Konzept gelte weniger für Neurosen als für schwere Persönlichkeitsstörungen und fokussiere zu sehr auf einen einzigen Mechanismus, die Mentalisierung. Auch lasse das Konzept zu wenig Raum für einen späteren Verlust der Mentalisierungsfähigkeit durch Traumata in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter (ebd.). Zudem sei zu wünschen, so die Kritiker, daß die Autoren das Verhältnis des Mentalisierungs-Modells zum psychoanalytischen Konzept der Symbolisierung bzw. zum Konzept der unbewußten Phantasie weiter ausarbeiteten (vgl. Kap. A.2.2.5.).
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Schließlich dränge sich der Eindruck auf, mit dem Mentalisierungskonzept werde „alter Wein in neuen Schläuchen“ präsentiert, sei doch die Nähe dieser Theorie zum Bionschen Containing-Konzept augenfällig (worauf allerdings die Autoren selbst hinweisen). Auf die in die Kritik geratenen entwicklungspsychologischen Prämissen des kleinianisch begründeten Containing-Konzepts wurde bereits hingewiesen (vgl. Kap. A.2.2.5.).
Allerdings bauen Fonagy et al. ihr Mentalisierungskonzept auf der entwicklungspsychologisch „anerkannten“ theory-of-mind-Forschung auf und untermauern es mit aktuellen bindungstheoretischen, neonatologischen und neurowissenschaftlichen Befunden. Damit docken sie die moderne Psychoanalyse an den entwicklungspsychologischen „state of the art“ an. Man mag diesen Beitrag zur „Anschlußfähigkeit“ der Psychoanalyse als Anpassung an den Zeitgeist des „medizinisch-psychiatrischen Modells“ mißbilligen, nicht zuletzt, da Fonagy et al. auch eine konsequente empirische Beforschung der psychoanalytischen Therapieverfahren befürworten. Aber diese Skeptiker sollten einräumen, daß die Bestrebungen, die Effektivität wie die Effizienz psychoanalytischer Verfahren zu dokumentieren, der gesamten psychoanalytischen Community zugute kommen. Auch die Kollegen, die Psychoanalyse als „Kunst“ oder „Disziplin“ verstehen und ihrer Verwissenschaftlichung distanziert bis polemisch begegnen (vgl. die Ausführungen im Einleitungskapitel), ernten die Früchte einer Öffnung zur Empirie.
Für die kinderanalytische Praxis sind die von Fonagy et al. empfohlenen mentalisierungsgestützten Behandlungsstrategien in besonderer Weise relevant. Die Autoren sehen nämlich neben ihrer Arbeit mit erwachsenen Borderline-Patienten einen Schwerpunkt ihrer Arbeit im kinderanalytischen Londoner Anna-Freud-Centre, das bekanntlich die analytische Tradition hochhält. Deshalb sind ihre Veröffentlichungen auch indikativ für Veränderungen in der „offiziellen“ Kinderanalyse. Das Konzept der Mentalisierung kann durchaus als Relativierung des Deutungs-Paradigmas von „offizieller“ Seite aus verstanden werden. Zumindest in der Behandlung frühgestörter Patienten sorgt dieses Paradigma schon seit einiger Zeit für Unbehagen in der kinderanalytischen Community. In einem Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Mentalisation and the Changing Aims of Child Psychoanalysis“ empfehlen Fonagy & Target denn auch unmißverständlich eine Abkehr vom klassisch analytischen Deutungsstil bei früh traumatisierten Patienten:
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„We recommend a shift in analytic technique for certain particularly disturbed or traumatised children, from the conflict- and insight-oriented approach to a focused, mentalisation-oriented therapy, which, we believe is already widely used by those treating severe psychological disturbance.” (2000, S. 137 f.) |
Daneben wird aus dem Hause Anna-Freud-Centre für eine entwicklungsfördernde Behandlungstechnik geworben (Fonagy & Target, 1996 a, 2000; Hurry, 2002), die die Übergänge von analytisch-deutenden zu pädagogisch-entwicklungsorientierten Interventionen als fließend betrachtet und die entwicklungsfördernde Funktion des kindlichen Spiels hervorhebt. Auch im Mentalisierungs-Konzept von Fonagy et al. wird die zentrale Rolle des mütterlichen Als-ob-Spiels betont, das dem Kind helfen soll, Äquivalenz- und Als-ob-Modus zu einer „spielerischen mentalen Haltung“ zu integrieren. Es liegt nahe, daß bei der Behandlung früh traumatisierter Kinder das therapeutische Spiel optimal geeignet ist, an deren zentralen Mentalisierungsdefiziten zu arbeiten. Langfristig werden sie dadurch befähigt, auch von eher klassischen konfliktorientierten Deutungen zu profitieren (zur mentalisierungsfördernden Arbeit und dem Problem der Deutung vgl. auch Kap. B.2.2.5.).
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Damit ist der Bogen geschlagen zu den behandlungstechnischen Implikationen nicht nur des Mentalisierungskonzepts, sondern der gesamten in Kap. A.3.1 bis A.3.3. dargestellten traumatheoretisch relevanten Befunde der Nachbarwissenschaften.
Aus der Aufarbeitung des Forschungsstandes zur frühen Traumatisierung (Kap. A) sind grundlegende Entwicklungsdefizite früh traumatisierter Kinder in den Bereichen Selbst- und Affektregulation, Bindung, Aufmerksamkeitskontrolle, Mentalisierung, Stresstoleranz und Gedächtnis deutlich geworden. Sie führen zu weitreichenden emotionalen, kognitiven und sozialen Kompetenzmängeln und erfordern daher eine behandlungstechnische Orientierung, die an eben diesen Entwicklungsdefiziten ansetzt. Für früh traumatisierte Kinder ist also ein entwicklungsorientierter psychodynamischer Therapieansatz zu entwerfen, der nun im folgenden Teil B dargestellt werden soll.
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