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Früh und chronisch (beziehungs-)traumatisierte Kinder, die in den ersten Lebensjahren von ihren Bindungspersonen körperlich und seelisch vernachlässigt, mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurden, stellen Kinderanalytiker wie Pädagogen vor besondere Herausforderungen. Meist sind sie schon im Kindergarten verhaltensauffällig, werden spätestens in der Schule zu „Problemkindern“: Sie sind z.B. aggressiv, lügen, stehlen oder neigen zu unverständlichen Absencen, Amnesien sowie plötzlichen „Ausrastern“. Oft leiden sie unter schweren Lern-, Aufmerksamkeits- und Kontaktstörungen, haben erschreckende Empathiedefizite sowie brüchige bis korrupte Wertsysteme. In der Regel stammen sie aus ressourcenarmen sozialen Milieus, die mit multiplen Risiken belastet sind und dem Kind keine fördernde Umwelt bieten können. In ihren alltäglichen Beziehungen, vor allem in der Schule, inszenieren diese Kinder ihre frühen Traumatisierungen als sprachlose Enactments, die nicht verstanden werden und schnell zu eskalierenden Übertragungs- und Gegenübertragungsverstrickungen führen. Im Zusammenspiel mit institutionellen Ausschluß- und Ausstoßungstendenzen kommt es häufig zu Um- und Abschulungen, Trennung vom Elternhaus, scheiternden Jugendhilfemaßnahmen, scheiternden Psychotherapien, schnellem Wechsel zwischen unterschiedlichen Einrichtungen. Am Ende stehen nicht selten psychiatrische und dissoziale Karrieren mit Alkohol- und Drogenabusus.
Aber nicht nur Pädagogen stehen diesen „schwierigen Kindern“ oft hilflos gegenüber. Auch die Kinderanalyse, theoretisch wie behandlungstechnisch entwickelt an reif neurotischen Kindern aus bürgerlichen Elternhäusern des beginnenden 20. Jahrhunderts mit den entsprechenden psychischen, intellektuellen, sozialen und materiellen Ressourcen, stößt in ihren therapeutischen Bemühungen bei früh traumatisierten Kindern aus Hoch-Risiko-Familien an ihre Grenzen. Angesichts der basalen Mentalisierungsdefizite laufen Deutungen unbewußter Konflikte tendenziell ins Leere. Auch die für „Frühstörungen“ hilfreichen therapeutischen Haltungen des Holding (Winnicott) und Containing (Bion) schaffen zwar ein entwicklungsförderndes therapeutisches Milieu, reichen jedoch nicht aus, die affektiven Erregungszustände dieser Patienten zu beruhigen, ihre Dissoziationen zu beenden, den aggressiven Durchbrüchen zu begegnen, ihre abrupten Stimmungsumschwünge zu verstehen und sukzessive einer sprachlichen Symbolisierung zuzuführen. Insbesondere das quälende, sich über Wochen und Monate hinziehende posttraumatische Spiel, in dem sich in immer gleichen sadomasochistischen Handlungsabläufen traumatische Beziehungserfahrungen reinszenieren, läßt sich durch Containing oder verbale Deutungen nicht auflösen. Reif neurotische Patienten können im therapeutischen Spiel ihre inneren Konfliktszenarien externalisieren und mithilfe einer empathisch mitspielenden und deutenden Analytikerin1 erfolgreich durcharbeiten. Früh traumatisierte Patienten dagegen verfügen nicht über genügend psychische Ressourcen, um ihre traumatischen Re-Enactments in reife, symbolisch repräsentierte, aufschlußreiche Konfliktszenarien zu verwandeln. Ein klassisch-psychoanalytischer nondirektiver Umgang der Analytikerin mit dem posttraumatischen Spiel ihrer Patienten führt deshalb nicht zur Heilung, sondern trägt im Gegenteil ungewollt zu ständigen Retraumatisierungen in der Therapie dieser Kinder bei. Ähnliche Probleme ergeben sich in der Elternarbeit. Auch hier reichen die vorhandenen Ressourcen meist nicht aus; Elternfunktionen wurden oft nur rudimentär entwickelt. Den Müttern und Vätern, oft selbst lebensgeschichtlich multipel traumatisiert, fehlt die „selbstreflexive Kompetenz“ (Fonagy), ihren Kindern einen mentalen und psychischen Raum zur Verfügung zu stellen, um darin ihr Selbst und ihre Gefühle entdecken zu können. Eine analytische Elternarbeit, die durch Deutung unbewußter Konflikte sowie der Projektionen und Übertragungen der Eltern auf ihre Kinder eine konflikthafte Familiendynamik aufzulösen sucht, stellt für diese Eltern i.d.R. eine Überforderung dar. Im Vordergrund stehen für diese Eltern massive Alltagsprobleme, für deren Bewältigung die materiellen wie psychosozialen Ressourcen fehlen, so daß ohne zusätzliche Maßnahmen der Jugendhilfe und ohne Kontakte zu den pädagogischen Fachkräften in Kindergarten und Schule eine Therapie ihrer Kinder oft zum Scheitern verurteilt ist. Eine auf die intrapsychische Prozeßdynamik der Mutter/des Vaters fokussierte Behandlungstechnik läuft am Kern der Bedürfnisse der Eltern vorbei.
Die massiven Symptome dieser Kinder schränken oft den gesamten Entwicklungsspielraum des Kindes ein, beherrschen seinen Alltag und den seiner Eltern und Geschwister. Anstehende Entwicklungsaufgaben der Kinder können nicht mehr gemeistert werden. Positive Beziehungserfahrungen in der Familie werden immer seltener, stattdessen kommt es täglich zu Eskalationen, an deren Ende die unausgesprochenen Phantasien oder offen ausgesprochenen Drohungen eines erneuten Beziehungsabbruchs durch Fremdunterbringung stehen.
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Die Ohnmacht und hilflose Wut, die Kinderanalytiker im Kontakt mit diesen Patienten erleben, sind oft nicht nur die psychisch nicht repräsentierten Gefühle der Kinder, die sie in der Gegenübertragung spüren, sondern auch die ganz eigene Hilflosigkeit und Wut angesichts der Erkenntnis, daß sie mit dem, was sie in ihrer psychoanalytischen Ausbildung gelernt haben, diesen Kindern nicht wirklich helfen können.
Seit geraumer Zeit bereits haben Erkenntnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie die verheerenden Wirkungen insbesondere früher Traumatisierung durch Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch, aber auch durch chronische dissoziationsbedingte Beziehungsabbrüche im Blickkontakt auf das noch in der Entwicklung befindliche Gehirn des Säuglings und Kleinkinds belegt. Säuglingsforschern gelang es mit detaillierten Videobachtungen, die interaktive Mikrostruktur des frühen nonverbalen Dialogs zwischen Säugling und Fürsorgeperson zu identifizieren, die Bedingungen zu untersuchen, die über ein „Entgleisen“ dieses Dialogs, über gelingende und mißlingende Prozesse der Affektspiegelung und Affektregulation entscheiden. Bindungsforscher konnten anhand empirischer Beobachtungsstudien die Mechanismen gestörter, insbesondere desorganisierter Bindung traumatisierter Kinder aufzeigen, die im weiteren Entwicklungsverlauf massive kognitive und psychosoziale Kompetenzdefizite zur Folge hat. Neurobiologische Befunde konnten mit neuen Verfahren die Schädigung des kindlichen Stressbewältigungssystems mit den Folgen von „primären Reaktionen“ wie Hypererregung (fight/flight) und Dissoziation sowie die gestörte Informationsverarbeitung in Situationen traumatischer Überwältigung herausarbeiten, die zu „flash backs“ und Amnesien/Hypermnesien führen.
All diese psychotraumatologischen Forschungsergebnisse haben das Verständnis für die maladaptiven Entwicklungen, die durch frühe Beziehungstraumatisierung entstehen, bedeutend erweitern und vertiefen können.
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Allerdings scheint der Transfer dieses neuen interdisziplinären psychotraumatologischen Wissens in die pädagogischen wie kinderanalytischen Arbeitsfelder und Communities nicht recht zu gelingen. „Warum ist der Traumatisierungsbegriff …in der sonderpädagogischen Rehabilitation eine nahezu übersehene Kategorie? Lehrerinnen und Lehrer wissen nicht richtig, was eine Traumatisierung ist und schon gar nicht, was sie auch unter den Bedingungen eines speziellen Settings mit ihr anfangen sollen.“ (Ahrbeck, 2007a, S. 7). Und auch aus der Heimerziehung wird geklagt, daß „viele Befunde der Traumaforschung … bislang noch nicht auf pädagogische Arbeitsfelder bezogen worden (sind)… Die Pädagoginnen brauchen das Wissen um die Ursachen und Auswirkungen von Traumatisierungen, sie brauchen auch therapeutisches Wissen.“ (Weiß, 2006, S. 16 u. 130f.) Auf dem Hintergrund dieser „Traumablindheit“ der Pädagogik (Kühn, 2008, S. 321) haben sich in den letzten Jahren pädagogische Fachkräfte v.a. aus der ambulanten und stationären Jugendhilfe über Internetforen zusammengefunden und unter dem Fachbegriff der Traum a pädagogik verschiedene Modelle „als Anwort auf die Erfolglosigkeit oder Nichtwirksamkeit bestimmter Konzepte in den letzten Jahren direkt aus der pädagogischen Praxis“ entwickelt (ebd., S. 318). Zu nennen wären die „Pädagogik des Sicheren Ortes“ (Kühn, 2006, 2008), die „traumazentrierte Pädagogik“ (Uttendörfer, 2006) sowie das „Konzept der Selbstermächtigung“ (Weiß, 2008), die allesamt eine trauma- und bindungsorientierte Pädagogik im Auge haben. Dennoch sind dies lediglich erste Ansätze, die noch weit davon entfernt sind, in der pädagogischen Wissenschaft geschweige denn in der pädagogischen Praxis der Heimerziehung (in der nach einer neuesten repräsentativen Erhebung 75% der Kinder und Jugendlichen mindestens eine Form der Traumatisierung erlitten haben, vgl. Jaritz et al., 2008) modellbildend zu sein.
Wie steht es nun um die „Traumablindheit“ der Psychotherapie? Im Bereich nicht-psycho-analytischer Therapieverfahren hat sich das neue psychotraumatologische Wissen mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung gegenüber der Erwachsenentherapie in einigen Veröffentlichungen niedergeschlagen, die eine Vielfalt spezieller Behandlungmethoden für traumatisierte Kinder zum Gegenstand haben (Übersicht bei Landolt & Hensel, 2008, vgl. auch Hensel, 2007; Weinberg, 2005).
Im Bereich der psychoanalytisch-psychodynamischen Methode sind die Publikationen von Streeck-Fischer (1998, 2000, 2006, Streeck-Fischer et al., 2001, 2002, 2003) hervorzuheben. Allerdings beziehen sich diese zum einen primär auf Jugendliche, zum anderen auf stationär behandelte Patienten. Die im stationären Bereich gegebene Möglichkeit multimodaler und multiprofessioneller therapeutischer Behandlung und sozialpädagogischer Betreuung, die für traumatisierte Patienten unabdingbar sind, ist jedoch im ambulanten Sektor nicht gegeben. Deshalb sind diese Behandlungskonzepte auf die ambulante Praxis kaum anwendbar. Hinzu kommt, daß es zumindest grundsätzlich möglich ist, mit Jugendlichen, anders als mit Kindern, auf einer direkten sprachlich-selbstreflexiven Ebene therapeutisch zu kommunizieren, d.h das Erwachsenen-Paradigma psychodynamischer Therapie (wenn auch mit entsprechend adoleszenzspezifischen Modifikationen) anzuwenden.
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Gegenstand dieser Dissertation ist allerdings ausschließlich die Behandlung von Kindern. Dies deshalb, weil zwar für den Bereich traumatisierter Jugendlicher neuere Publikationen über psychodynamische behandlungstechnische Modifikationen vorliegen, für Kinder aber bisher keine überzeugenden psychodynamisch-traumatherapeutischen Ansätze existieren.
Für Kinder im Grundschulalter ist das am Erwachsenen- bzw. Jugendlichen-Modell orientierte direkte sprachlich-selbstreflexive Vorgehen m.E. weitgehend unanwendbar, jedenfalls für die Behandlung traumatischer Störungen. Bei Kindern ist primär ein indirekter Zugang über das therapeutische Spiel angezeigt, mit dem sie, geschützt durch die Abwehr der Verschiebung auf die Spielebene, als den „Sicherheitsabstand von der Bewußtheit des Dargestellten“ (Fahrig et al., 1999, S. 703), ihre traumatischen und konflikthaften Erfahrungen auf der „Bühne des Spiels“ in Szene setzen und dort durcharbeiten können (zur Differenz von Erwachsenanalyse und Kinderanalyse vgl. Kap. B.2.1., zur Problematik der Deutung vgl. Kap. B.2.2.6., zum posttraumatischen Spiel und zur „traumatischen Übertragung“ ,vgl. Kap. B.2.3.)
In den wenigen jüngeren psychodynamisch-traumatherapeutischen Behandlungskonzepten für Kinder wird genau diese Differenz zur Erwachsenentherapie nicht hinreichend beachtet. So nehmen die Arbeiten von Krüger und Mitarbeitern einen zu direkten Transfer des erwachsenentherapeutischen Paradigmas auf die Traumatherapie von Kindern vor (Krüger et al., 2004, 2006; Krüger & Reddemann, 2007). Die Psychoimaginative Tra u matherapie (PITT) von Reddemann (2004), auf der Krügers Konzept basiert, ist zwar für traumatisierte Erwachsene und modifiziert auch für traumatisierte Jugendliche sehr gut geeignet, doch ist m.E. die „Innere-Kind-Arbeit“ ein für Kinder unpassendes Modell. Die für Kinder viel entwicklungsadäquatere Form der Traumakonfrontation im posttraumat i schen Spiel wird dagegen bei Krüger und Reddemann nur sehr am Rande erwähnt. Das gilt auch für die – bisher erst in Aufsatzform vorliegende – Methode der Mehrdimension a len Psychodynamischen Traumatherapie für Kinder und Jugendliche (MPTT-KJ, Dreiner & Fischer, 2003), die ebenfalls eine Adaptation des Erwachsenen-Modells (MPTT, Fischer, 2000) ist und entsprechend sprachbezogen arbeitet (zu einer ausführlichen Kritik der genannten psychodynamischen Traumatherapieansätze vgl. Kap. B.2.1.3.2.). Diese KollegInnen lassen zudem eine Tendenz erkennen, in einem ausschließlich störungsspezifischen Sinne nur das Trauma behandlungstechnisch zu fokussieren und den gesamten lebensgeschichtlichen und psychodynamischen Zusammenhang, in den dieses Trauma eingebettet ist, eher unterzubelichten.
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Alternativ dazu wäre eine umfassende Perspektive zu entwerfen, die nicht nur das einzelne Trauma fokussiert, sondern die den gesamten komplexen pathogenen Prozeß der Destruktion von Entwicklung (Bindung, Affekt- und Selbstregulation, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Mentalisierung) durch frühe Beziehungstraumatisierung in den Blick nimmt. Die Auswirkungen dieser Destruktion auf die innere Objektwelt wären zu thematisieren und in einen biographischen Zusammenhang zu stellen. Grundsätzlich bietet die Kinderanalyse die Möglichkeit dieser umfassenden Perspektive, doch gerade in der Kinderanalyse findet das oben beschriebene „neue Wissen“ der Nachbardiziplinen, das für die Behandlung früh traumatisierter Kinder fruchtbar gemacht werden könnte, nur sehr langsam Eingang.
Während in der Erwachsenenanalyse zahlreiche Autoren die Befunde der Säuglings- und Bindungsforschung rezipiert und auf die Behandlungstechnik erwachsener Patienten zu übertragen versucht haben (Beebe & Lachmann, 1994, 2004; Fonagy, 2003 a; Fonagy et al., 2004; Köhler, 1990, 1992, 1999; Lichtenberg, 1983, 1987, 1990; Lichtenberg et al., 2000; Stern, 2000, 2005; Stern et al., 1998 b,c), tut sich im Bereich der Kinderanalyse in dieser Hinsicht wenig: „Few of the most prominent infant researchers are child analysts, and the integration of the infant observers’ contributions into child analytic thinking has lagged behind the flourishing dialogue between the infant researchers and adult analysts.“ (Seligman, 1998, S. 80). Zwar gibt es seit den 90er Jahren vereinzelte Beiträge, die aus den Befunden der Säuglingsforschung und Bindungstheorie Folgerungen für die Behandlungstechnik von „Frühstörungen“ ziehen (Einolf, 1991, 1996; Hédervári, 1996; Kugele, 1999; Moré, 1998). Speziell für früh traumatisierte Kinder werden in diesen Veröffentlichungen jedoch keine Überlegungen zu behandlungstechnischen Modifikationen angestellt.
An neueren Beiträgen zur Behandlung dieser speziellen Klientel sind Einolf (2005) zu nennen, die auf die präverbalen körpernahen Enactments traumatisierter Kinder hinweist sowie Gaensbauer (2006), der sich allerdings nur traumatisierten Säuglingen und Kleinstkindern widmet. Wenn aufgrund von Befunden der Säuglingsforschung und Neurobiologie die klassisch-analytische Deutungstechnik in der Kindertherapie infragegestellt wird, wie etwa in dem Aufsatz von Westram (2006), läßt die Kritik nicht lange auf sich warten (Dammasch, 2006; Einolf 2006; Löffler, 2006, alle im gleichen Heft).
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Der Begriff „Trauma“ taucht in theoretischen wie kasuistischen Veröffentlichungen häufig auf, denn „Trauma“ ist ein klassisch psychoanalytisches Konzept. Eine auf die spezifischen Bedingungen traumatischer Erfahrungen abgestimmte, psychotraumatologisch i n formierte Behandlungstechnik, die über die gängigen Konzepte von Holding (Winnicott) und Containing (Bion) hinausgeht und konkrete Modifikationen vorschlägt, ist jedoch in der kinderanalytischen Literatur – von wenigen Ausnahmen wie Naumann-Lenzen (1994, 1996, 2008) abgesehen – kaum zu finden.
Ich habe mithilfe der Datenbank PsycINFO (nach eigenen Angaben „the largest ressource devoted to peer-reviewed literature in behavioral science and mental health”) die beiden bundesdeutschen kinderanalytischen Zeitschriften, die Analytische Kinder- und Jugendl i chen-Psychotherapie (AKJP) und die Kinderanalyse nach Veröffentlichungen zum Thema „traumaspezifische Behandlungstechnik“, durchforstet. Dabei beschränkte ich mich zunächst auf den Suchbegriff „Trauma“ (trauma) in den Feldern „Aufsatztitel“ und „Abstract“, und zwar für den Zeitraum von 2000 bis 2008.
In der Zeitschrift AKJP gab es mit diesem Suchbegriff unter den insgesamt 204 Aufsätzen, die von 2000 bis 2008 erschienen, 24 Treffer. Von diesen 24 Aufsätzen hatte keiner zusätzlich den Terminus „Behandlungstechnik“ (technique), 9 Aufsätze allerdings den Terminus „Behandlung“ (treatment) in den Schlüsselwörtern. Die AutorInnen dieser 9 Aufsätze, die also besonderes Augenmerk auf die Behandlungstechnik von traumatisierten Kindern legten, vertreten jedoch durchweg einen klassisch-analytischen Standpunkt, der die Schwierigkeiten traumatischer Reinszenierungen in der Übertragung und die damit verbundenen Containing- und Gegenübertragungsprobleme zum Thema hat. Lediglich ein Beitrag (Davies, 2002) behandelt klinische Fragen der Therapie traumatisierter Kinder unter Einbeziehung neuerer Ergebnisse der Hirnforschung.
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Bei kombinierter Eingabe von Suchbegriffen gab es weder bei „Trauma“ und „Neuro“ (neuro) noch bei „Trauma“ und „Säuglingsforschung“ (infant research) Treffermeldungen. Bei der Kombination von „Trauma“ und „Bindung“ (attachment) erschien lediglich ein lesenswerter Aufsatz von Gerald Hüther (2002), der die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen für die weitere Hirnentwicklung beschreibt. Therapeutische Implikationen werden hier jedoch aus naheliegenden Gründen (Hüther ist Neurobiologe und kein Kliniker), nur am Rande gestreift. Im gleichen Heft referiert Sachsse (2002) sein klinisches Konzept traumazentrierter Erwachsenen-Psychotherapie (auf das in dieser Dissertation mehrfach Bezug genommen wird), das jedoch auf Kinder nicht unmittelbar anwendbar ist. Letzteres gilt leider auch für den Aufsatz von Rudolf, der sein innovatives behandlungstechnisches Konzept der „Strukturbezogenen Psychotherapie“ in einem AKJP-Beitrag (2007) zusammenfaßt. Dieses Konzept wurde für die Therapie strukturschwacher erwachsener Patienten entwickelt, ist daher lediglich für Jugendliche unmittelbar anwendbar und bezieht sich nicht explizit auf das Thema früher Traumatisierung. Auch die in der AKJP veröffentlichten hervorragenden Leitlinien Persönlichkeitsentwicklungsstörungen (Bauers et al., 2007) beziehen sich primär auf Jugendliche. Dies wird am Alter der in den „Ankerbeispielen“ zitierten Patienten deutlich.
Ein ähnlich karges Bild ergibt sich bei der Auswertung der Zeitschrift Kinderanalyse via PsycINFO. Von den insgesamt zwischen 2000 und 2008 veröffentlichten 165 Artikeln haben 11 den Suchbegriff „Trauma“ in Titel oder Abstract. Das zusätzliche behandlungstechnische Schlüsselwort „technique“/“treatment“ findet sich in 3 Beiträgen (Bürgin et al., 2001; Miller, 2004; Windaus, 2007), die jedoch wiederum die eher klassischen Themen der Übertragung und der Deutung diskutieren. Windaus, der Depression im Kindesalter zum Thema hat, behandelt zwar auch das Problem der frühen Traumatisierung und zieht hierzu auch neurobiologische und entwicklungspsychologische Befunde heran, doch beschränken sich seine behandlungstechnischen Überlegungen ebenfalls auf die klassischen Fragen des Holding, des Containing und der Grenzsetzung.
Die Kombination der Suchbegriffe „trauma“ und „neuro“ ergab 0 Treffer, ebenso wie „trauma“ und „attachment“ sowie „trauma“ und „infant research“.
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Der Vollständigkeit halber seien noch die Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse erwähnt, die nicht in PsycINFO gelistet sind. Im Zeitraum 2000-2007 fanden sich unter den insgesamt 71 Aufsätzen 3 Beiträge, in deren Titel der Begriff „Trauma“ erscheint: In Streeck-Fischers (2003) Aufsatz geht es um Transmission von Trauma, im Beitrag von Bründl (2005) um Trauma, Adoleszenz, symbolisierende Verwandlung und Elternschaft, und schließlich in Barrows` (2005) Artikel um Autismus, Trauma und Spielfreudigkeit. Zum Thema dieser Dissertation können also auch diese Veröffentlichungen nicht beitragen.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß das eingangs beschriebene „neue Wissen“ in der kinderanalytischen Community noch nicht recht zur Kenntnis genommen wird.
Die Rezeption und Umsetzung dieses „neuen Wissens“ in die klinische Praxis verlief auch in der Erwachsenenanalyse zunächst nur schleppend und stieß auf deutliche Widerstände in der Community. In den 90er Jahren wurden z.T. heftige Kontroversen zwischen „klassischer“ und „moderner“ traumazentrierter psychodynamischer Behandlung ausgetragen (vgl. Ehlert-Balzer, 1996; Reddemann & Sachsse, 1998). Dagegen finden in der kinderanalytischen „Szene“ bisher ähnliche Debatten nicht statt. Die Gründe für diese Zurückhaltung sind nicht eindeutig festzumachen.
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Wegen des historisch-epistemischen Entstehungshintergrunds der Psychoanalyse, der „eine arkane ‚Gemeinschaft der wissend Eingeweihten und Bekennenden’ mit einer durchaus emphatisch zu denkenden psychoanalytischen ‚Identität’ begründete“ (Naumann-Lenzen, 2008, S. 51) sind „innerhalb der ‚institutionenbasierten’ Psychoanalyse, wie sie an den AKJP-Instituten gelehrt wird, nach wie vor Beharrungstendenzen gegen eine ‚Überfremdung’ psychoanalytischen Wissens mit exogenem Gedankengut erkennbar“, die „den zügigen Einbau neuen Wissens in unsere klinischen Optionen und Lehrpläne inbes. im Bereich der strukturschwachen Störungen behinder(n).“ (ebd.). Gerade in Zeiten, in denen der Psychoanalyse der gesundheitspolitische Wind ins Gesicht weht, geraten „innovative Denker“ schnell in den Verdacht, sich blind dem Zeitgeist anzupassen, die „Anschlußfähigkeit“ der Psychoanalyse um jeden Preis sichern zu wollen und dafür das „Gold der Psychoanalyse“ dem „Kupfer der Suggestion“ zu opfern. Dieser gereizte bis polemische Unterton prägt bisweilen die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern einer Integration der Befunde der Säuglingsforschung in den Theorie-Korpus der Psychoanalyse (vgl. z.B. die Green-Stern-Kontro-verse, Green, 2000; Stern, 2000).
Auf einer ganz alltagspraktischen Ebene könnte auch die Beanspruchung durch die klinische Praxis, die schon Bowlby als Grund für die mangelnde Akzeptanz seiner neuen Bindungstheorie anführte (vgl. Brisch, 1999, S. 93), das geringe Interesse der Community am „neuen Wissen“ erklären. Doch gegen dieses Argument spricht, daß nicht-analytische Kindertherapeuten eine deutlich höhere Bereitschaft erkennen lassen, die Befunde der Traumaforschung zu rezipieren und in neue Behandlungsoptionen umzusetzen.
Handelt es sich also um ein spezifisches Problem der kinderanalytischen Community? Könnte es sein, daß die Zurückhaltung der Kinderanalytikerinnen dem „neuen Wissen“ gegenüber daraus resultiert, daß sie befürchten, durch Rezeption dieses „neuen Wissens“ und durch offensive Diskussion der behandlungstechnischen Konsequenzen in den Verdacht zu geraten, „unanalytisch“ zu sein? Und würden sie diesen seit jeher gefürchteten Verdacht, im Vergleich zu den Erwachsenenanalytikern psychoanalytisch mangelhaft qualifiziert zu sein, nicht bestätigen, wenn sie sich diesen neuen Erkenntnissen bereitwillig aufschließen?
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Bekanntlich ist die Kinderanalyse „Wegbereiter“, aber auch „Stiefkind“ der Psychoanalyse (Stork, 1995). Seit den „controversial discussions“ der 1940er Jahre (King & Steiner, 1991) wird darüber gestritten, ob Kinderanalyse eigentlich „richtige Analyse“ oder doch nur „angewandte Analyse“ ist. „Is child analysis really analysis?“ fragt Yanof (1996). Nicht zuletzt aufgrund des unterschiedlichen Settings von freier Assoziation auf der Couch vs. freiem Spiel im Raum betrachten „manche Erwachsenenanalytiker die Kinderanalyse nicht als ‚Analyse im eigentlichen Sinne’…Auch Kinderanalytiker neigen dazu, ihre eigene Arbeit zu entwerten“ (Hurry, 2002, S. 71 f.). Diese Entwertung prägt das kinderanalytische professionelle Selbstbewußtsein und dämpft möglicherweise die Bereitschaft, sich auf „neues Wissen“ einzulassen – vor allem, wenn es aus interdisziplinärer Forschung stammt und deshalb nicht „auf psychoanalytischem Mutterboden gewachsen“ ist (vgl. dazu weiter unten). „Ich habe den Eindruck, daß dieser unterschwellige Zweifel an der eigenen Legitimität im Kreis der Kinderanalytiker eine defensive Atmosphäre erzeugt und sie zwingt, bahnbrechende (Forschungsergebnisse) … mit Mißtrauen zu betrachten.“ (Gilmore, 2001). Stattdessen entsteht der Eindruck einer eigenartigen „Identifikation mit dem Aggressor“ in der Community, die zum Ziel hat, durch strikte Orientierung am Vorbild der klassischen Analyse diese unterschwelligen Zweifel an der eigenen psychoanalytischen Professionalität zu beruhigen. Dies schließt nicht aus, daß in der klinischen Praxis durchaus eine Annäherung an neuere Positionen stattfindet, dies jedoch eher aus „intuitiven therapeutischen/ elterlichen Kompetenzen“ heraus als aus fachlicher Reflexion. Nicht selten schlägt sich diese Diskrepanz in dem unangenehmen Gefühl der Kinderanalytikerin nieder, zwar erfolgreich zu therapieren, aber „irgendwie nicht genügend analytisch zu sein“.
Festzuhalten ist, daß das „neue Wissen“ der Traumaforschung, die Befunde der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie, die ein vertieftes Verständnis traumatischer Entwicklungspathologien bei Kindern ermöglichen, von der Kinderanalyse nicht ausreichend rezipiert und vor allem nicht in traumazentrierte Behandlungsoptionen umgesetzt werden. Dies, obwohl früh traumatisierte Kinder, die früher in Institutionen der Jugendhilfe versorgt wurden, mehr und mehr in unsere niedergelassenen Praxen strömen (Naumann-Lenzen, 2008). Dieser Trend verstärkt sich, weil die sozial- und sonderpädagogischen Kolleginnen den Behandlungsbedarf dieser Kinder sensibler wahrnehmen und die fachlichen und institutionellen Grenzen der Jugendhilfe und Sonderpädagogik erkennen.
Die Kinderanalyse, die auf eine hundertjährige Tradition der Behandlung psychisch kranker Kinder zurückblicken kann, scheint auf Fälle früh traumatisierter Kinder nicht wirklich vorbereitet zu sein. Zwischen der Notwendigkeit, diesen Kindern therapeutische Hilfe zukommen zu lassen einerseits und den derzeit in der Kinderanalyse vorherrschenden theoretischen Erklärungsmodellen und behandlungstechnischen Möglichkeiten andererseits klafft eine Lücke.
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Die vorliegende Dissertation will dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.
Die Rezeption außeranalytischer Forschungsbefunde konfrontiert die psychoanalytische Forscherin zunächst mit grundlegenden wissenschaftstheoretischen Fragestellungen. Interdisziplinärer Austausch bietet zwar die Möglichkeit, durch den „fremden Blick“ auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand die eigene Perspektive zu erweitern. Eine Zusammenarbeit wird jedoch schwierig, wenn es sich um Wissenschaften handelt, deren epistemische Grundannahmen sowie daraus folgende Forschunglogiken sich von denen der Psychoanalyse grundlegend unterscheiden.
Ahrbeck differenziert zwei Arten interdisziplinärer Forschung. „Zum einen und in einem engeren Sinne geht es um ein gemeinsames Forschen an einem Gegenstand. In einem weiteren Sinne werden separat gewonnene Erkenntnisse aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen und unter einer Leitfrage diskutiert.“ (2007 a, S. 7). Da die vorliegende Arbeit die Leitfrage stellt, inwieweit Erkenntnisse der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie und der Neurobiologie für eine entwicklungsorientierte ps y chodynamische Th e rapie früh traumatisierter Kinder fruchtbar zu machen sind, handelt es sich um die zweite Art interdisziplinärer Forschung. Hier muß zunächst geprüft werden, ob die jeweiligen Befunde der Nachbarwissenschaften überhaupt ein Stellenwert im Diskursrahmen der Psychoanalyse haben. Denn bei einer interdisziplinären Kooperation unterschiedlicher Wissenschaften, „in der Erkenntnisse und Methoden der einen Wissenschaft in die andere integriert werden, ….muß es in der Regel eine Leitwissenschaft geben, an die sich anders gelagerte Erkenntnisse anlehnen.“ (ebd., S. 8).
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Da diese Leitwissenschaft für die vorliegende Arbeit die Psychoanalyse sein soll, ist zunächst zu klären, ob die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen der Nachbarwissenschaften mit denen der Psychoanalyse grundsätzlich kompatibel sind. Dazu müssen zunächst der wissenschaftliche Status der Psychoanalyse selbst definiert (Kap.2.1.) und die daraus resultierenden Formen psychoanalytischer Forschung bestimmt werden (Kap.2.2.). Auf dieser Basis kann dann geprüft werden, ob eine Integration empirischer Befunde von Nachbarwissenschaften in die Psychoanalyse grundsätzlich möglich ist und wenn nicht, ob diese Befunde trotzdem eine irgendwie geartete Relevanz für die Psych o analyse haben könnten (Kap. 2.3.). Nach der Klärung dieser Fragen soll dann der Beitrag der vorliegenden Dissertation zur interdisziplinären psychoanalytischen Konzeptforschung sowie zur traumabezogenen psychodynamischen Behandlungstechnik dargestellt und der weitere Aufbau der Arbeit skizziert werden (Kap. 3).
Um das Feld der Möglichkeiten interdisziplinärer Befruchtung von Psychoanalyse und anderen Wissenschaften zu umreißen, muß zunächst der wissenschaftstheoretische Status der Psychoanalyse bestimmt werden. Denn nur wenn die epistemischen Grundannahmen der Psychoanalyse sowie der zur Kooperation anstehenden Wissenschaft (philosophischer Hintergrund, Menschenbild, Definition des Forschungsgegenstandes, Verhältnis von Forschungssubjekt und Forschungobjekt sowie daraus folgende methodologische Zugänge und technische Verfahren) geklärt sind, kann darüber entschieden werden, ob die Psychoanalyse und die jeweilige Nachbarwissenschaft eine gemeinsame Sprache haben oder entwickeln können, um sich über Forschungsgegenstand und -prozeß zu verständigen.
Allerdings ist die Frage, ob die Psychoanalyse überhaupt eine Wissenschaft ist, und wenn ja, was für eine, nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Psychoanalyse seit jeher umstritten. Die auf den individuellen Einzelfall des Analyanden bezogene, sinnverstehende und deutende Methode der Psychoanalyse wird überwiegend als ideographisch-hermene u tisches Verfahren verstanden. Ob die Psychoanalyse deshalb auch eine Wissenschaft (oder nicht viel mehr eine „Kunst“ oder „Profession“, vgl. Buchholz, 1997, 1999) ist, oder ob ihre Metapsychologie auch einen nomothetisch-erklärenden Charakter hat, so daß sie eine „Wissenschaft zwischen den Wissenschaften“ (Modell, 1984; Lorenzer, 1985) ist, darüber herrscht kein Konsens. Diese wissenschaftstheoretische Frage zu vertiefen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen (als Literatur sei empfohlen: Buchholz, 1997; Dornes, 2006 a; Körner, 1985; Raguse, 1998; Strenger, 1991). Deshalb soll hier nur ein kurzer Abriß über die in der Psychoanalyse zu dieser Problematik vertretenen Positionen gegeben werden. Darauf aufbauend ist dann die für die vorliegende Arbeit relevante Frage zu klären, welche Möglichkeiten und Grenzen einer interdisziplinären Kooperation von Psychoanalyse und traumatheoretisch relevanten Nachbarwissenschaften (Säuglingsforschung, Bindungstheorie, Neurobiologie) bestehen.
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Die klassische, um nicht zu sagen: orthodoxe Psychoanalyse mit frankophonem Schwerpunkt (Green, 2000; Laplanche, 1987) beschränkt sich einzig und allein auf die unmittelbare analytische Situation. Diese versteht sie jedoch nicht als klinische Forschung im Sinne von „Wissenschaft“. Green betrachtet die Psychoanalyse als „Disziplin“ (ebd., S. 446). Er erhebt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gar nicht erst, „denn eine solche Wissenschaft (der Psychoanalyse) existiert nicht…“ (ebd., S. 460). Er wendet sich strikt „gegen die Angemessenheit der sogenannten wissenschaftlichen ‚Methode’, die mir wegen ihrer Irrelevanz für den Gegenstand der Psychoanalyse ziemlich unwissenschaftlich vorkommt.“ (S. 458)
Green sieht die „Spezifität der Psychoanalyse“ in einem „psychoanalytischen Geisteszustand“, der seine Erfahrungen einzig und allein aus der „analytischen Situation“ bezieht und für den nur mittels der „psychoanalytischen Erfahrung“ gewonnene Erkenntnisse relevant sind. Veränderungen psychoanalytischer Konzepte und Theorien sind zwar grundsätzlich möglich, aber nicht durch externe Befunde, sondern eben nur aus dem Setting heraus, von dem aus neue Konzepte auch einzig und allein „überprüft“ werden können. „Es ist nicht so sehr die Tatsache, daß psychoanalytische Konzepte von der Couch kommen sollten, sondern vielmehr, daß sie sich auf das analytische Setting beziehen müssen ….es (stellt) eine Möglichkeit dar, eine einzigartige Form psychischen Funktionierens zu beobachten und daran teilzunehmen. Dies ist der einzige Weg, auf dem der ‚analytische Geisteszustand’ erfahren, integriert und überprüft werden kann…“ (ebd., S. 463)
Diese Position Greens stellt in ihrer radikalen Selbstbezüglichkeit eine Option dar, die zwar vertreten werden kann, dann aber als „die Theoretisierung einer Lebensform oder einer Berufs-/Lebenspraxis“ (Dornes, 2006 a, S. 41), die sich aus dem interdisziplinären wissenschaftlichen Dialog verabschiedet. „Wenn ich André Green richtig verstehe, .. so ist er so sehr auf die Forschungssituation hinter der Couch fixiert, daß es überhaupt keine übergreifenden, in das soziale Feld hineinreichenden oder an die Nachbarwissenschaften angelehnte Theoriebildung mehr geben kann. Die Psychoanalyse begrenzt sich damit selbst.“ (Ahrbeck, 2007 a, S. 4).
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Den Gegenpol zur oben skizzierten frankophonen ausschließlich klinischen Tradition bildet die angloamerikanische Tradition einer extraklinisch-empirischen Orientierung, der sich auch einige deutsche psychoanalytische Forschergruppen verpflichtet fühlen (vgl. die Übersicht bei Stuhr et al., 2001, s. auch Thomä & Kächele, 2006). Diese Tradition, die ihre Vorläufer in der nordamerikanischen Ich-Psychologie hat (Hartmann, 1950; Brenner, 1968) geht nicht so weit, eine blinde Anpassung an die Qualitätsstandards „harter“, d.h. quantitativer, empiristisch-experimenteller Naturwissenschaft zu fordern (zur Kritik des sog. RCT-Paradigmas vgl. weiter unten). Sie erachtet jedoch präzise Begrifflichkeit und Theoriebildung sowie die Transparenz des Forschungsprozesses, d.h. intersubjektive Überprüfbarkeit der theoretischen Konstrukte, der angewandten Methoden und der praktischen Ergebnisse für notwendig. Gemessen an diesen “Essentials” konstatiert z.B. Peter Fonagy als Chair des Research Committees der IPA für die Psychoanalyse: „There can be no question but that at the moment psychoanalysis is not a science“ (2000 a, S. 4). Auch wenn Fonagy konzediert, daß das Unbewußte als der spezifische Gegenstand der Psychoanalyse dem Bemühen, „harten“ Wissenschaftskriterien zu genügen, naturgemäß Grenzen setzt, so sieht er die Psychoanalyse doch genötigt, sich den Kriterien der „hard science“ anzunähern, wenn sie nicht in dem Schwebezustand „zwischen den Wissenschaften“ verbleiben wolle (ebd., S. 42). Deshalb fordert er eine „wissenschaftliche Grundhaltung“, die sich an den genannten Kriterien orientiert, ohne jedoch die spezifischen wissenschaftstheoretischen Bedingungen der Psychoanalyse aus dem Auge zu verlieren. So kritisiert er in einem für die vorliegende Dissertation besonders relevanten Artikel („The place of psychodynamic theory in developmental psychopathology“, 2000 b) die Zersplitterung der psychoanalytischen Theorie, die unpräzise Begrifflichkeit, den enumerativen Induktionismus sowie die rekonstruktive Ausrichtung der Theoriebildung, die mangelnde Deduzierbarkeit der Technik aus der Theorie, die unzureichende interkollegiale Diskussion sowie die Isolation der Psychoanalyse von den Nachbarwissenschaften (ebd.).
Zwischen diesen beiden Extrempositionen bemühen sich einige deutsche psychoanalytische Forschergruppen (Leuzinger-Bohleber, 1995; Leuzinger-Bohleber et al., 2002, 2004), aus einer spezifischen kontinentalen wissenschaftstheoretischen Tradition heraus (vgl. dazu Bohleber, 2004), einen „dritten Weg“ einzuschlagen. Sie bauen auf Lorenzer (1985) und Modell (1984) auf, die die Psychoanalyse zwischen Empirismus und Hermeneutik bzw. zwischen nomothetisch-generalisierender und idiographisch-individualisierender Wissenschaft verorteten. Denn die Psychoanalyse betrachtet den Patienten einerseits „von außen“, aus der Perspektive der Metapsychologie, d.h. der „naturwissenschaftlichen“ Beobachterposition, die nach verallgemeinernden Prinzipien sucht, andererseits aber „von innen“, d.h. aus geisteswissenschaftlich-hermeneutischer Perspektive Sinn-verstehender, empathischer Identifikation mit dem Einzigartigen des Einzelfalls. Dieser „Doppelcharakter (bereitete) immer schon Unbehagen …, weil er die Psychoanalyse zwischen alle gewohnten wissenschaftstheoretischen Zuordnungen placiert.“ (Lorenzer, 1985, S. 11). Während hier noch das überholte Paradigma der Trennung von Forschungssubjekt (dem Analytiker) und Forschungsobjekt (dem Patienten) sowie die klassische Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufscheint, geht Leuzinger-Bohleber (Leuzinger-Bohleber et al., 2002) noch einen Schritt weiter. Dies nicht zuletzt deshalb, „weil die Positionierung der Psychoanalyse als ‚Wissenschaft zwischen den Wissenschaften’ … problematische Tendenzen verstärkt, sich aus dem interdisziplinären Austausch in den psychoanalytischen Elfenbeinturm zurückzuziehen.“ (Leuzinger-Bohleber et al., 2004, S. 8)
Wissenschaftstheoretisch bezieht sich die Autorin auf Hampe (2001), der sowohl die Idee der Einheit aller Wissenschaften mit einem einheitlichen Theoriebegriff als auch die Trennung von Theorie und Erfahrung einer radikalen Kritik unterzieht. Angesichts der stetigen Ausdifferenzierung der Wissenschaften könne die „grobe Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften …die Vielfalt der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen nicht mehr adäquat abbilden“, so daß es nicht mehr möglich sei, „einen einheitlichen Theoriebegriff für all diese Wissenschaften zu formulieren.“ ( Leuzinger-Bohleber et al., 2002, S. 19). Auch könne „die Vorstellung der logischen Empiristen, Theorie und Erfahrung ließen sich fein säuberlich voneinander trennen, … nicht mehr aufrechterhalten werden.“ Diese Erkenntnisse führten zu einem „Aufweichen der Grenze zwischen wissenschaftlicher und Alltagserfahrung“ sowie der damit verbundenen „Notwendigkeit, Wissenschaft in neuer Weise zu definieren.“ Als Differenzierungsmerkmal diene dabei u.a. „die ‚Disziplinierung von Erfahrung’ bzw. der systematische Einsatz von Methoden.“ (ebd.) Daher sei die Vielfalt der Wissenschaften eine Vielfalt der Gegenstände, der Theorieformen, der wissenschaftlichen Erfahrungen, der Erkenntniswerte und der Methoden (ebd., S. 20). Aus dem weiter oben von Fonagy beklagten Dilemma, die Psychoanalyse entweder an die Kriterien der „hard science“ anzugleichen oder sie in dem Schwebezustand „zwischen den Wissenschaften“ zu belassen, sieht die Gruppe um Leuzinger-Bohleber deshalb einen ganz eigenen Ausweg:
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„Die Alternative könnte darin bestehen, den charakteristischen psychoanalytischen Erfahrungsbegriff und die damit verbundene ‚Werthaltigkeit’ herauszuarbeiten und dadurch die Spezifität der psychoanalytischen Wissenschaft mit ihren charakteristischen Forschungsmethoden und ihren spezifischen Prüf- und Wahrheitskriterien im Kanon anderer, ebenso spezifischer Wissenschaften offensiv zu vertreten.“ (ebd., S. 18) |
Dieses Plädoyer für eine offensive Positionierung der Psychoanalyse im wissenschaftlichen Diskurs ist gleichzeitig auch ein Plädoyer für den interdisziplinären Austausch mit den Nachbardisziplinen, der die Gefahr einer wissenschaftlichen Isolation der Psychoanalyse vermeidet. Denn damit steht die Psychoanalyse
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„… im Strom der heutigen Wissenschaften und ihrem Versuch, untereinander die Spezifität ihrer Disziplin transparent zu machen, darüber in einen kritischen Austausch zu treten und im besten Falle aus den unterschiedlichen Zugangsweisen zum gleichen Forschungsgegenstand eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu begründen.“ (ebd.) |
Um diese Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit der Psychoanalyse zu ventilieren und sie i.S. der vorliegenden Arbeit fruchtbar zu machen, sollen im folgenden Kapitel zunächst die spezifischen Forschungsmethoden der Psychoanalyse dargestellt werden.
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Hierzu soll eine auf das Wesentliche beschränkte Skizze genügen, um die vorliegende Arbeit im psychoanalytischen Forschungsfeld zu positionieren.
Betrachtet man psychoanalytische Forschung unter historischem Gesichtspunkt, so lassen sich mit Kächele (1992) drei Phasen ausmachen:
Die erste Phase, beginnend mit den 30er Jahren und kulmierend in den Jahren 1950 bis 1970, „ ist am Ergebnis zu Legitimationszwecken interessiert: Ihre typische Frage lautete: Nützt Psychotherapie bzw. Psychoanalyse überhaupt?“ (ebd., S. 265).
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Die zweite Phase „dominierend von 1960 bis 1980, fokussiert auf den Zusammenhang von Verlauf und Ergebnis… Ihre typische Frage lautet: Was muß im Verlauf geschehen, daß am Ende ein positives Ergebnis erwartet werden kann?“ (ebd.)
In der dritten Phase seit den 80er Jahren, wandte man sich wieder vermehrt dem naturalistischen Design zu und intensivierte „die Untersuchung der prozessualen Vorgänge … (Die) leitende Frage lautet(e): Welche mikroprozessualen Vorgänge konstituieren die klinisch konzipierten Makroprozesse?“ (ebd.).
Vielleicht sollte man noch eine vierte Phase erwähnen, die 1994 durch den Angriff Grawes auf die Psychoanalyse ausgelöst wurde. In seiner Berner Therapievergleichssstudie (Grawe et al., 1994; krit. Mertens, 1994 b; Tschuschke et al., 1995), in die Grawe nur randomisierte Kontrollstudien aufnahm, hatte er eine Überlegenheit kognitiv-behavioraler Therapie gegenüber nicht-behavioralen Therapien ermittelt. Eine Reanalyse der Daten durch zehn Experten (Tschuschke et al., 1998) ergab zwar, daß nur drei bis fünf der insgesamt 22 Studien die Eignung für einen Vergleich erfüllten und daß in diesen verbleibenden Studien kein „Gewinner“ mehr zu ermitteln war. Dennoch sah sich die psychoanalytische Community herausgefordert, sich dem Zeitgeist der „evidence based medicine“ entgegenzustellen, die Einzigartigkeit des psychoanalytischen Forschungsgegenstands herauszuarbeiten und die diesem Gegenstand angemessenen Forschungsmethoden zu verteidigen und weiterzuentwickeln (Leuzinger-Bohleber et al., 2002, 2004). Zu dieser Herausforderung gehörte auch, das Paradigma randomisierter Kontrollstudien einer grundlegenden Kritik zu unterziehen.
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Unter randomisierten Kontrollstudien (randomized controlled trials, RCT) versteht man Studien, in denen die Klienten nach dem Zufallsprinzip einer Behandlungsgruppe und einer Kontrollgruppe zugewiesen werden. Klienten der Kontrollgruppe werden entweder mit einem alternativen Verfahren und/oder Setting behandelt oder gar nicht behandelt (in letzterem Fall i.d.R. auf eine Warteliste für eine anschließende Therapie gesetzt).
Psychoanalytiker haben in zahlreichen Veröffentlichungen das naturwissenschaftliche Paradigma der evidenzbasierten Medizin, auf das sich die Forderung nach randomisierten Kontrollstudien stützt, als ein für die Psychotherapie inadäquates Forschungsmodell kritisiert (Ahrbeck, 2008 b; Henningsen & Rudolf, 2000; Leichsenring, 2004; Tschuschke, 2005).
Das grundlegende Problem der RCTs besteht darin, daß die Bedingungen des experimentellen Designs von jedem Kontext abstrahieren. Gerade durch die Randomisierung der Zuteilung der Patienten zu den alternativen Behandlungsgruppen werden jene „Störvariablen“ ausgeschaltet, die als Kontextvariablen u.U. entscheidend zum Therapieerfolg beitragen. So werden wichtige Behandlungspräferenzen der Patienten wie der Therapeuten nicht berücksichtigt, beispielsweise der bewußte Wunsch vieler sexuell mißbrauchter Patientinnen nach einem weiblichen Therapeuten oder andere unbewußte Wünsche und Übertragungsbereitschaften des Patienten.
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Desweiteren wird im RCT-Design, in welchem aufgrund der störungsspezifischen Orientierung nur monomorbide Störungen zugelassen werden, von der im naturalistischen Beobachtungsfeld i.d.R. gegebenen höheren Komorbidität und Störungschronifizierung des Patienten abstrahiert. Die damit verbundenen Implikationen (erfolglose Vorbehandlung, größere Belastungsschwere, deshalb auch oft geringere Motivation etc.) werden ignoriert. Komorbidität und multiple Symptomatik sind gerade auch für früh traumatisierte Kinder typisch, ebenso wie familiäre Dysfunktionalität und psychosoziale Risikofaktoren, d.h. Variablen des engeren Bezugssystems, die in RCTs ebenfalls ausgeblendet werden, jedoch erheblichen Einfluß auf Compliance und Therapieerfolg haben.
Ebenfalls ausgeblendet werden die Patienten, die sich von vornherein einer Randomisierung widersetzen und daher gar keinen Eingang in die Studie finden, sowie die drop outs, d.h. Patienten, die die RCT-Therapie vorzeitig abbrechen. Gerade die Motive dieser Verweigerer und Therapieabbrecher hätten jedoch große Aussagekraft, denn anhand dieser Motive ließen sich diejenigen Patientengruppen identifizieren, deren Bedürfnisse von Therapien mit RCT-Design nur ungenügend erfaßt werden.
Ein weiteres Artefakt produziert das RCT-Design durch den Anspruch auf manualisierte Standardisierung der Behandlung, die von der individuellen Therapeutenpersönlichkeit ebenso abstrahiert wie von der situationsspezifischen Anpassung der Behandlungstechnik an die Befindlichkeit des Patienten, die im naturalistischen Feld der Regelfall ist: „Je heterogener die Population und die zu behandelnde Störung, je komplexer die möglichen Interventionen, desto bedeutender ist der reale, naturalistische Kontext für die Versorgungseffizienz, desto weniger generalisierbar sind Daten, die aus experimentell kontextfreien Settings mit sehr speziellen Randbedingungen stammen.“ (Henningsen & Rudolf, 2000, S. 369).
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Diese umfassende psychoanalytische Kritik am RCT-Design setzte sich zunehmend auch in nicht-analytischen Forscherkreisen durch. Durch die schulenübergreifende „Einsicht, daß wir zu wenig über die Effektivität von Psychotherapie unter Feldbedingungen wissen“ (Heekerens, 2005, S. 359), entwickelte sich ein Trend der Psychotherapieforschung „vom Labor ins Feld“, womit auch eine verstärkte „Rehabilitation“ psychodynamischer Verfahren verbunden ist, die durch das bisher vorherrschende RCT-Paradigma ins Abseits geraten waren. Zwar gilt das RCT-Design nach wie vor als der „Goldstandard“ der Psychotherapieforschung, doch sind naturalistische Studiendesigns unter Versorgungsbedingungen, wie sie die psychoanalytische Forschung präferiert, mittlerweile deutlich aufgewertet worden.
Aufgrund exakterer Ergebnisforschung hat sich im Mainstream der Psychotherapieforschung außerdem die Erkenntnis durchgesetzt, daß unterschiedliche Therapieverfahren zu ungefähr gleichen Ergebnissen kommen, was auch Grawe inzwischen konzediert: „Unstrittig ist .., daß der Unterschied, um dessen Bedeutsamkeit es geht, im Vergleich zum gesamten Therapieeffekt eher gering ist.“ (2005, S. 7).
Dieser gesamte Therapieeffekt wird nämlich, so das vielzitierte „Äquivalenzparadox“ (Shapiro, 1995), überwiegend nicht durch die spezifischen Wirkfaktoren der verschiedenen Therapieverfahren (also z.B. bei der Verhaltenstherapie: die kognitive Umstrukturierung, bei der Psychoanalyse: die Deutung unbewußter Konflikte), sonderen durch die u n spezifischen (oder generellen) Wirkfaktoren bedingt, allen voran durch die Qualität der therapeutischen Beziehung. „Die spezifischen Wirkfaktoren haben eine Effektstärke von maximal 0.20 und bedingen somit maximal 1% der Varianz der Outcomestudien ...Die allen Psychotherapien gemeinsamen, d.h. die generellen Wirkfaktoren, machen rund 70% der Gesamtwirksamkeit aus.“ (Berns & Berns, 2004, S. 40 f.)
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Aus diesem Grund konzentriert sich das Forschunginteresse zunehmend auf den komplexen therapeutischen Prozeß und die Untersuchung der Passung von Patient, Therapeut und Methode (Berns & Berns, 2004; Kriz, 2005). Genau dies ist der traditionelle Schwerpunkt der klinischen wie extraklinischen psychoanalytischen Forschung, die seit jeher das Verhältnis von Übertragung und Gegenübertragung im Fokus der Behandlung hat.
Das traditionelle Herzstück psychoanalytischer Forschung ist die klinische Forschung in der unmittelbaren psychoanalytischen Situation (Couch-Setting). Sie geht auf die alte Freudsche „Junktim-Forderung“ zurück, derzufolge der Prozeß des Heilens immer auch ein Prozeß des Forschens sein müsse (Freud, 1927).
Ausgehend von der psychoanalytischen Situation, so Leuzinger-Bohleber (2007), entwickelt der Analytiker mit seiner gleichschwebenden Aufmerksamkeit in einem zirkulären Erkenntnisprozeß gemeinsam mit dem Analysanden und dessen freier Assoziation indiv i duelle Mini-Theorien, die über einen sukzessiven Abstraktionsprozeß zu nicht-individuellen, kondensierten Metaphern, zu Konzepten und schließlich theoretischen Modellen führen. Diese „konzeptuellen und theoretischen Erkenntnisprozesse werden die Wahrnehmung der nächsten klinischen Situation beeinflussen“ (ebd., S. 977), so daß der zirkuläre Prozeß i.S. der „hermeneutischen Spirale“ (Stuhr, 2004) von neuem beginnt. Allerdings läuft dieser Forschungs- und Erkenntnisprozeß größtenteils vor- und unbewußt ab und bedarf deshalb einer ständigen Bewußtmachung und Reflexion, u.a. in Intervision und Supervision. Dies betrifft auch die sog. privaten Theorien des Analytikers, die sich aus seiner individuellen Lebensgeschichte und seinem psychoanalytischen Sozialisationsprozeß ergeben und seinen Erkenntnisprozeß unbewußt maßgeblich prägen (siehe dazu Bohleber, 2007).
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Die Ergebnisse dieser klinischen psychoanalytischen Forschung wurden seit jeher in Form von Einzelfallstudien vorgetragen, die jedoch aufgrund der „Gefahr der Suggestion, der selektiven Auswahl von Daten, … (der) mangelhafte(n) Überprüfbarkeit der Beobachtungen und Interpretationen durch Außenstehende u.a.m… zu wiederkehrenden Angriffen auf diese genuin psychoanalytische Forschungsstrategie sowohl durch Psychoanalytiker selbst …als auch durch Vertreter anderer Psychotherapieschulen (führten).“ (Leuzinger-Bohleber, 1995, S. 447).
Aus diesem Grunde begannen Psychoanalytiker, diese „Fallnovellen“ (Meyer, 1993) mehr und mehr zu systematisieren und einer intersubjektiven Überprüfung zugänglich zu machen. So nahm man z.B. Analysestunden auf Tonband auf und faßte sie anhand spezifischer Kriterien zu systematischen Fallbeschreibungen zusammen (Leuzinger-Bohleber, 1987). Ein weiterer Weg der „Objektivierung“ bestand darin, diese Verbatim-Protokolle Psychoanalytikern unterschiedlicher theoretischer Schulen vorzulegen und ihre Kommentare und Interpretationen als verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Forschungsgegenstand gegeneinanderzuhalten (vgl. z.B. Pulver, 1987).
Schließlich diskutierte man das kasuistische Material auch interdisziplinär mit Vertretern anderer Fachrichtungen, um einen „neuen, fremden Blick auf scheinbar schon Erkanntes“ zu ermöglichen. „Gerade weil interdisziplinäre Dialogpartner viele unserer impliziten Basisannahmen und unreflektierten ‚Sicherheiten’ kritisch hinterfragen, zwingen sie uns zu einer Sensibilität für viele Gefahren eines hermeneutischen Zugangs in der psychoanalytischen Situation.“ (Leuzinger-Bohleber, 1995, S. 460).
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Zur extraklinischen Forschung gehört die Konzeptforschung. Ihr Erkenntnisziel ist „die systematische Erforschung der Bedeutungen und der Verwendungen psychoanalytischer Konzepte samt deren Veränderungen, und dies bezogen auf klinische wie außerklinische Phänomene.“ (Dreher, 2004, S. 115). Leuzinger-Bohleber & Fischmann (2006) unterscheiden sieben Untergruppen von Konzeptforschung: klinische Konzeptforschung, theoretisch ambitionierte Konzeptforschung, historische Konzeptforschung, biographische Konzeptforschung, empirische Konzeptforschung, interdisziplinäre Konzeptforschung sowie Konzeptforschung „privater Theorien“.
Auch wenn Konzeptforschung „nachträglich“, d.h. nicht im klinischen, sondern im extraklinischen professionellen Umfeld stattfindet und sich systematisch angewandter Forschungsmethoden wie Literaturanalyse, computergestützter Konsistenzanalysen, Interviews, Fragebogen oder auch Expertenratings bedient, ist sie doch intensiv mit der klinischen Junktim-Forschung verwoben. Konzepte des Analytikers als theoretische Hintergrundannahmen haben nämlich deutlichen Einfluß auf die Wahrnehmung und Interpretation der klinischen Phänomene, worauf auch Leuzinger-Bohleber & Fischmann hinweisen: „..the processes of developing and applying concepts is – of course – connected with the processes of understanding clinical material in the psychoanalytic session. Thus, clinical and conceptual research are highly interwoven.“ (2006, S. 1375).
Neben der Konzeptforschung betreiben psychoanalytische Forscher auch empirisch-experi-mentelle Forschung. Allerdings wurde dabei stets auf die spezifischen Bedingungen des psychoanalytischen Forschungsgegenstands hingewiesen (vgl. die Kritik der RCT-Paradigmas). So vermied man anfangs jede Art quantifizierender Instrumente wie Fragebögen oder Tests und stand auch Tonbandmitschnitten von Analysestunden eher kritisch gegenüber, da diese Instrumente Einfluß auf Übertragung und Gegenübertragung haben. Stattdessen begnügte man sich mit nachträglicher Konzeptforschung z.B. auf der Basis von Inhaltsanalysen schriftlicher Fallbeschreibungen oder nutzte die Möglichkeit von Computersimulation (Leuzinger-Bohleber, 1995).
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Als die Psychoanalyse verstärkt unter Legitimationsdruck geriet, Effektivität und Effizienz ihres Verfahrens empirisch zu belegen (vgl. die o.g. „vierte Phase“ nach Grawes Kritik), begann man jedoch schließlich auch mit systematischen Langzeitstudien. Geschah dies zunächst noch im retrospektiven Design, zum einen aus Praktikabiliätsgründen, zum anderen wieder, um Eingriffe in laufende Analysen zu vermeiden, so ging man angesichts der bekannten Kritik an dieser Forschungsstrategie (vgl. Hoffmann, 2001; Schulte, 2001) schließlich auch zu prospektiven Designs über. Neben der audiographischen Dokumentation werden dabei nicht nur der behandelnde Analytiker, sondern auch der Patient in bestimmten Abständen zu fragebogengestützten Einschätzungen der Symptomschwere, des Therapieverlaufes etc. gebeten, in bestimmten Studien auch zu Befragungen durch externe Bewerter. (Überblick zu den verschiedenen Studien bei Leuzinger-Bohleber et al., 2002; Stuhr et al., 2001). In jüngster Zeit entschloß man sich unter dem Druck der Forderungen des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie auch zu einer wenigstens partiellen Anpassung an das RCT-Design (vgl. die noch laufenden Langzeitstudien des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts zu ADHS sowie zu chronischer Depression, LAC, www.sfi-frankfurt.de).
Schließlich ist die interdisziplinäre Forschung zu erwähnen. „Interdisziplinäre Forschung ist so alt wie die Psychoanalyse“ (Hau, 2004, S. 304). Jedoch gilt es zu differenzieren.
„Je nachdem, welche wissenschaftstheoretischen Begründungen vorliegen, bestimmen sich auch die interdisziplinären Kooperationsmöglichkeiten. So ist natürlich die Anschlußfähigkeit einer streng empirischen Position an naturwissenschaftlich forschende Disziplinen a priori besser gegeben. Und ein streng hermeneutisches Vorgehen mag sich trotz der Eigenständigkeit der Disziplin zum Beispiel mit Teilen der Literaturwissenschaft hervorragend vertragen.“ (Ahrbeck, 2007 a, S. 4) |
So gab denn auch der Austausch der Psychoanalyse mit den Geisteswissenschaften wie Philosophie, Literatur-, Erziehungs-, Kunst- oder Geschichtswissenschaft etc., die auf eine ausgeprägte hermeneutische Tradition zurückblicken können, in der Vergangenheit seltener Anlaß zu grundlegenden wissenschaftstheoretischen Kontroversen, da bestimmte theoretische Richtungen dieser Disziplinen ähnlich der Psychoanalyse einen qualitativ-empirischen Forschungsansatz bevorzugen. Daher waren diese Beziehungen i.d.R. gegenseitig befruchtend (vgl. z.B. Freyberg & Wolff, 2004; Grünberg, 2004)
Handelt es sich jedoch um naturwissenschaftliche Fächer mit ihrem nomothetisch-empiristischen Wissenschaftsmodell, gelingt der Dialog weniger leicht. Ein typisches Beispiel ist das nach wie vor schwierige Verhältnis der Psychoanalyse zur experimentellen Säuglings- und Kleinkindforschung, das in der Vergangenheit immer wieder zu heftigen Kontroversen zwischen klassischen Psychoanalytikern und psychoanalytisch ausgebildeten Säuglings- und Bindungsforschern führte (vgl. Ahrbeck, 2007 b; Dornes, 2001, 2006 b, 2007; Green, 2000; Stern, 2000; Wolff, 1996; Zepf, 2006). Deutlich entspannter gestaltet sich dagegen der wissenschaftliche Austausch zwischen Psychoanalyse und Neurowisssenschaften (vgl. Buchheim et al., 2008; Leuzinger-Bohleber & Pfeifer, 1998, Leuzinger-Bohleber et al., 2008 a, b; Kaplan-Solms & Solms, 2000; Solms, 2008). Doch auch hier gibt es mahnende Stimmen, die in solchen Kooperationen einen „Rückfall hinter hundert Jahre Psychoanalyse“ wittern (Boller, 2001).
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Im folgenden Kapitel soll deshalb diesem schwierigen Verhältnis zwischen Psychoanalyse und empirischen Nachbarwissenschaften nachgegangen werden.
Die Problematik interdisziplinärer Forschung besteht also in erster Linie darin zu klären, ob sich der idiographisch- individualisierende hermeneutische Ansatz der Psychoanalyse, die versucht, das unsichtbare Unbewußte eines Individuums zu verstehen, mit einem n o mothetisch-generalisierenden Ansatz empirisch orientierter Forschung, die sichtbare Verhaltensphänomene beobachtet und „erklärt“, vereinbaren läßt.
In der Vergangenheit wurde diese Frage u.a. anhand der Kontroverse diskutiert, ob empirische Ergebnisse der Kleinkindforschung (z.B. die eines „wachen“, interaktiven „kompetenten Säuglings“, vgl. Dornes, 1993) entwicklungspsychologische Annahmen der Psychoanalyse (wie die des Konzepts der „Symbiose“ oder des „primären Narzißmus“) widerlegen können oder nicht (Ahrbeck, 2007 b; Dahl, 2001; Metzger, 1999).
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Ohne hier auf die forschungsimmanenten Details dieser Kontroverse einzugehen (s. dazu die Kap. A.3.1.4., A.3.2.3. und A.3.3.4.), soll analog den weiter oben dargestellten wissenschaftstheoretischen Positionen der Psychoanalyse im folgenden diskutiert werden, welche Relevanz Befunde aus empirischen Wissenschaften für die Psychoanalyse haben, die ihren zentralen metapsychologischen Postulaten widersprechen.
Psychoanalytiker, die die Psychoanalyse als reine „Disziplin“ verstehen und nur Daten anerkennen, die unmittelbar aus dem psychoanalytischen Setting stammen, betrachten konkurrierende Befunde aus Nachbarwissenschaften als irrelevant. So verfährt z.B. Green, der die Säuglingsforschung als pseudowissenschaftlich bezeichnet. Die „Säuglingsforschung kann ihren Mangel an Bedeutung nicht verbergen. Die Kluft zwischen den Fakten und den Ideen ist nicht kleiner als in Melanie Kleins phantastischsten Spekulationen…Schließlich wirken die Resultate mehr wie Science-fiction als wie Science, außer daß sie nicht so phantasievoll sind.“ (2000, S. 453).
Eine weniger radikale Position vertritt Wolff (1996; krit. Seligman, 1996; Nahum, 1996), der die Befunde der Säuglingsforschung zwar anerkennt, aber lediglich als „source for new theories of social-emotional development“ (ebd., S. 369). Aus einer streng hermeneutischen Position, die die Psychoanalyse als „psychology of meaning and unconscious ideas“ begreift, kritisiert er jedoch die „eclectic research strategies“ sowie die „enumerative inductions“ der Säuglingsforschung, d.h. ihre Methode, aus einzelnen, mehr oder weniger beliebig herausgegriffenen Befunden weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen. „For all these reasons I conclude that psychoanalytically informed infant observations are essentially irrelevant for psychoanalysis as a theory of personal meanings and hidden motives.” (Wolff, 1996, S. 386)
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In ähnlicher Weise vertritt auch Zepf (2006) die Irrelevanz-These. Er begründet dies zum einen mit dem epistemologischen Argument, „daß ohne eine methodologische Vermittlung beider Methoden die Befunde der Säuglingsbeobachtung nicht in psychoanalytischen Kontexten gelesen werden können“ (ebd., S. 126). Zum anderen versucht er anhand der Kritik zweier ausgewählter Theoriebestandteile der Säuglingsforschung, der von ihr postulierten Affekt-Gefühls-Konkordanz sowie Sterns Theorie des Kern-Selbst, die Irrelevanz der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse zu belegen. Mit einer gewissen Süffisanz hält Dornes (2006 b) dem entgegen, daß Zepf damit genau den enumerativen Induktionismus betreibe, den Wolff, auf den er sich ausführlich bezieht, der Säuglingsforschung vorwerfe. Die These der Irrelevanz sei, so Dornes, zwar vertretbar, führe aber in die wissenschaftliche Isolation. Eine Psychoanalyse, die sich derart radikal aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausklinkt, „schneidet …. (sich) ein Stück weit vom Rest der Welt ab, und das könnte dazu beitragen, daß sie irrelevant wird.“ (Dornes, 2006 a, S. 42).
Nach klassisch naturwissenschaftlichem Wissenschaftsverständnis (Psychoanalyse als „hard science“) wären dagegen empirische Befunde der Säuglingsforschung (z.B. der, daß der Säugling seine Mutter als von sich selbst getrennt wahrnimmt und mit ihr interagiert, vgl. Kap. A.3.1.1.1.) geeignet, metapsychologisch-psychoanalytische Hypothesen zu falsifizieren, die diesen Befunden widersprechen (z.B. die Hypothese des primären Narzißmus, vgl. Dahl, 2001). Die Befunde der Säuglingsforschung hätten also eine direkte Relevanz für die Psychoanalyse.
Die Weigerung vieler Psychoanalytiker, eine solche direkte Relevanz anzuerkennen, resultiert jedoch nicht nur aus mangelnder „Wissenschaftlichkeit“. Denn ebenso wie der primäre Narzißmus sind auch manche naturwissenschaftliche Zusammenhänge (z.B. schwarze Löcher) nicht direkt beobachtbar. Ursprünglich galten in der Naturwissenschaft Theorien über unbeobachtbare Entitäten deshalb nur so lange als „wahr“, wie die aus ihr abgeleiteten Auswirkungen oder Implikationen bezüglich dieser Entität nicht widerlegt wurden (Dornes, 2001). Dornes verweist jedoch auf naturwissenschaftliche Überlegungen zu einem erweiterten Falsifikationsbegriff, die darauf hinauslaufen, daß nach heutiger Auffassung durch Falsifizierungen von Hypothesen einer Gesamttheorie diese in ihrem Kern nicht widerlegt, sondern nur in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt werden könne (ebd.).
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In diesem Sinne wäre also die metapychologische Annahme eines primären Narzißmus des Säuglings in ihrem Geltungsbereich einzuschränken. Dies hieße, so Dornes, „nicht mehr das Neugeborene in toto wäre narzißtisch, sondern nur noch das Neugeborene während des Schl a fes oder während des Alleinseins“ (ebd.). Zieht man diese Konsequenz nicht - wie Dahl (2001), der die metapsychologische Theorie des primären Narzißmus von der klinischen trennt und erstere als „Form des psychoanalytischen Denkens“ verteidigt (vgl. ebd.) -, nähert man sich wieder der o.g. Position der „Irrelevanz-These“ an. Man bewegt sich dann argumentativ eher auf der Ebene eines „System(s) von Axiomen (die etwas ermöglichen) als (auf einer Ebene) von Hypothesen (die man überprüfen kann).“ (Dornes, 2001, S. 615).
Andere hermeneutisch orientierte Analytiker gehen zwar ebenso wie Dahl (2001) von einer epistemologisch nicht überwindbaren Trennung von Metapsychologie und Empirie aus, postulieren aber, daß außeranalytische Erkenntnisse dennoch eine indirekte Rel e vanz für die Psychoanalyse haben können. So ist Daniel Stern sich durchaus mit seinem Kontrahenten André Green einig, daß „Säuglingsbeobachtungen … niemals einen theoretischen oder klinischen Lehrsatz der Psychoanalyse beweisen oder widerlegen (können)“ (2000, S. 467). Andererseits betont Stern, daß es außerhalb der Psychoanalyse ein „Wissen über die Welt“ gibt, das den Hintergrund dafür bildet, ob psychoanalytisch-metapsychologische Postulate plausibel sind. „Die Lehrsätze der Psychoanalyse, obwohl sie erkenntnistheoretisch vor wissenschaftlichen ‚Wahrheiten’ geschützt sind, (sind) dennoch …offen für und empfindlich gegenüber Zweifeln … und vielleicht ist das Kriterium der Plausibilität die größte Quelle dieser Zweifel.“ (ebd., S. 468).
Ähnlich argumentieren psychoanalytische Forscher wie Leuzinger-Bohleber, die unter Berufung auf Strenger (1991) betont, „daß sich die Psychoanalyse nicht mit der internen na r rativen Kohärenz ihrer Deutungen begnügen kann, sondern diese durch eine externe K o härenz ergänzen muß.“ (1995, S. 444). Diese externe Kohärenz beinhaltet, „daß sich eine Theorie als kohärent mit dem allgemein akzeptierten Wissensstand erweisen muß“ (Strenger, 1991, zit. nach Leuzinger-Bohleber, ebd.), was sich weitgehend mit Sterns Begriff der Plausibilität deckt. Ist diese externe Kohärenz bzw. Plausibilität einer Theorie nicht gegeben, drohe nämlich, so Stern, die Welt das Interesse an der Psychoanalyse zu verlieren. Dann höre „der psychoanalytische Diskurs auf, interessant zu sein und … (gerate) ins Hintertreffen. Nicht etwa, weil er falsch oder richtig wäre, sondern weil er den Kontakt mit und die Bedeutung für die restliche intellektuelle Kultur verloren hat.“ (2000, S. 468 f.)
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Allerdings darf die Notwendigkeit dieser externen Kohärenz auch nicht überschätzt werden, worauf Dornes (2006 a, S. 43 ff.) hinweist. Erstens sei es für neue Theorien typisch, daß sie zunächst einmal weniger extern kohärent sind als alte (bekanntes Beispiel ist die Kritik des geozentrischen Weltbildes durch Kopernikus). Zweitens sei oft nicht klar, was als übriges gesichertes Weltwissen überhaupt gelten kann, worauf gerade auch Naturwissenschaftler immer wieder hinweisen. „Bei soviel Vorläufigkeit von Wissen, scheint die Rede vom restlichen Weltwissen, mit dem das der Psychoanalyse nicht im Widerspruch stehen soll, eher eine regulative Idee als ein durchführbares Programm.“ (Dornes, 2006 a, S. 45).
Wenn man die genannten psychoanalytischen Positionen zur Frage einer interdisziplinären Kooperation mit empirischer Forschung aneinanderhält und versucht, zu einer abschließenden Einschätzung zu gelangen, so ist zunächst festzuhalten, daß eine metatheoretische Vermittlung hermeneutischer und empirischer Verfahren i.S. eines „Kompatibilismus“ (vgl. Dornes, 2006 b, S. 155) zwar vereinzelt gefordert wird (s. Zepf, 2006, S. 126), überwiegend aber als nicht möglich erachtet und deshalb auch nicht angestrebt wird.
Zwischen den Extremen eines orthodoxen Purismus sensu Green und der naiven Orientierung an einem streng naturwissenschaftlich orientierten Paradigma erscheint mir der Mittelweg einer „postempiristischen“ Psychoanalyse auf hermeneutischer Grundlage, aber unter Beachtung der externen Kohärenz, wie sie die Gruppe um Leuzinger-Bohleber vertritt, als die überzeugende Option. Ich befürworte diese Indirekte-Relevanz-These deshalb, weil ich als Kinderanalytikerin und als Traumatherapeutin sehr auf externe Kohärenz und Information durch die Entwicklungswissenschaften angewiesen bin, um meinen Patienten, die sich ja noch im Entwicklungsprozeß befinden, adäquate Hilfe zukommen zu lassen.
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Dennoch ist es mir wichtig, meine Arbeit „auf psychoanalytischem Mutterboden“ zu verorten und den Erfahrungprozeß zu verdeutlichen, durch den ich auf dem Wege klinischer und extraklinisch- interdisziplinärer psychoanalytischer Konzeptforschung zu den in dieser Arbeit vertretenen Positionen gelangt bin. Im folgenden Kapitel möchte ich deshalb den Beitrag der vorliegenden Arbeit zur interdisziplinären psychoanalytischen Konzeptforschung i.S. eines genuin psychoanalytischen Forschungsprozesses umreißen.
Anstoß für meinen psychoanalytischen Forschungsprozeß in der Behandlung früh traumatisierter Kinder war das zunächst diffuse Gefühl, daß mein bisheriges theoretisches Konzept-Verständnis von „ich-struktureller Störung“ oder „ich-strukturellem Defizit“ nicht ausreichte, die klinischen Phänomene dieser Patienten, die ich damals noch pauschal als „frühgestört“ diagnostizierte, zu erklären. Dieses Unbehagen, das ich mit Kollegen aus der Intervisionsgruppe teilte, setzte einen Suchprozeß in Gang, der sich zunächst an klinischem Material in der einschlägigen Literatur orientierte. Dabei stieß ich auf ein Zitat Streeck-Fischers, die nach der klinischen Falldarstellung eines komplex traumatisierten Kindes resumiert: „Ein neurosenpsychologisches Verständnis von primitiven Abwehrmechanismen und ich-strukturellen Defiziten sowie mangelnder Selbstobjektdifferenzierung reicht hier nicht aus, um die Problematik …umfassend zu erkennen und zu behandeln.“ (Streeck-Fischer et al., 2002, S. 61)
Durch solche Stimmen in meiner klinischen Erfahrung bestätigt, setzte ich meine Suche fort: „Was der Analytiker zunächst nur intuitiv erfassen und nur vage verbalisieren kann, sucht er mit Konzepten und Theorieelementen zu verbinden, um ihm eine präzisere Gestalt und Bedeutung geben zu können“ (Bohleber, 2007, S. 999). Dabei spielen Metaphern eine wichtige Rolle, die „durch ihre bildliche und symbolische Anziehung auf die Vorstellungswelt (wirken) und …dadurch viel stärker erkenntnisleitend werden (können) als abstrakte Begriffe und Konzepte.“ (ebd.). So erlebte ich, wie mein traditionelles metaphorisches Konzept-Verständnis von „Trauma“ als „Fremdkörper im Ich“ (Bohleber, 2000) unter dem klinischen Eindruck der Komplexität früher Traumatisierung sukzessive ins Wanken geriet. Im klinischen Übertragungs- und Gegenübertragungserleben verwandelte sich diese „kondensierte Metapher“ (Leuzinger-Bohleber, 2007) des „Fremdkörpers im Ich“ in eine „Organismus“-Metapher, d.h. in eine von zunächst diffuser „rêverie“ getragene Vorstellung, das Trauma habe den gesamten psychischen „Organismus“ des kindlichen Patienten erfaßt. Anders als bei erwachsenen Patienten, die ein „spätes“ Trauma erlitten, sei es dem früh traumatisierten kindlichen Patienten nicht gelungen, den traumatischen „Erreger“ in einen Fremdkörper „einzukapseln“, um weiterleben und seine Entwicklungsaufgaben annähernd bewältigen zu können.
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Diese weitgehend intuitiv erfaßten Metaphern und Gedanken waren Anlaß, mich systematisch mit alternativen Trauma-Konzepten und –theorien (Naumann-Lenzen, 2003; Panksepp, 1999; Perry et al., 1998; Sachsse, 2003; Schore, 2001 a, b, 2002; van der Kolk, 2000 a,b) zu beschäftigen. Dies wiederum beeinflußte fundamental meinen „Blick“ auf den Patienten. Der „neue Blick“ veränderte meine Gegenübertragung und in der Konsequenz auch meine Behandlungstechnik.
In den weiter oben dargestellten zirkulären Erkenntnis- und Forschungsprozeß der klinischen Situation (Leuzinger-Bohleber, 2007) gehen also nicht nur unterschiedliche, z.T. miteinander konkurrierende Theoriekonzepte aus dem Spektrum des psychoanalytischen Pluralismus ein. Es fließen auch Erkenntnisse und Befunde aus interdisziplinärer Forschung mit ein, die ein anderes Verständnis der Übertragungsphänomene und damit auch eine andere Interventionsweise nahelegen. Diese Tatsache scheint mir in der Konzeptforschung ein wenig unterbelichtet, wird doch gerne darauf verwiesen, daß Konzeptforschung eben keine klinische Forschung sei (Leuzinger-Bohleber & Fischmann, 2006, S. 1375). Meines Erachtens läßt sich aber die Wirkung veränderter theoretischer Konzepte auf die Wahrnehmung des klinischen Materials und eine daraus folgende Infragestellung überkommener Behandlungstechnik gar nicht vermeiden. Gerade die neuen Befunde aus den Nachbarwissenschaften erzeugen, wenn man sie wahrzunehmen und kritisch zu reflektieren bereit ist, einen starken Veränderungsdruck für den Kliniker. Darauf weist auch die psychoanalytische Konzeptforscherin Dreher hin:
„Einen solchen Veränderungsdruck gab und gibt es eigentlich immer. Wir erleben ihn gerade z.B. in der Säuglingsforschung, wo einige unserer entwicklungspsychologischen Konzepte auf dem Prüfstand stehen und etwa mit Vorstellungen aus der Attachment-Forschung konfrontiert sind. Wir erleben ihn auch dort, wo neue Befunde aus bildgebenden Verfahren in den Neurowissenschaften vielleicht ja auch unsere Vorstellungen darüber verändern, wie das Gedächtnis funktioniert und wie z.B. Traumata verarbeitet werden. Letzteres könnte nicht nur unsere theoretischen Vorstellungen über bewußte und unbewußte Vorstellungen verändern, es könnte sogar Konsequenzen für die klinische Arbeit mit traumatisierten Menschen zeitigen.“ (Dreher, 2004, S. 116). |
In diesem Sinne sollen also in der vorliegenden Arbeit nicht nur die „theoretischen Vorstellungen“ über Bedingungen und Folgen traumatischer Entwicklungsprozesse, sondern insbesondere auch die daraus folgenden „Konsequenzen für die klinische Arbeit“ entfaltet und kritisch diskutiert werden. Insofern ist die vorliegende Dissertation nicht nur ein Beitrag zur interdiziplinären psychoanalytischen Konzeptforschung. Indem sie aus einem veränderten Trauma-Konzept klinische Konsequenzen zieht, ist sie auch ein Beitrag zu einer traumabezogenen „modifizierten tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie“ (Ermann, 2004).
Bevor diese Konsequenzen, d.h. die klinischen Implikationen in Teil B dieser Dissertation ausgeführt werden, soll zunächst in Teil A der Forschungsstand zur frühen Traumatisi e rung aufgearbeitet werden.
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Dazu soll in Kap. A.1. eine erste Annäherung an die Phänomenologie früher Traumatisi e rung erfolgen (Begriffsklärung, Verlauf psychischer Traumatisierung, Traumafolgestörungen) und insbesondere auf die thematische Eingrenzung der Arbeit auf die Problematik „früher“, d.h. chronischer, kumulativer und komplexer Beziehungstraumatisierung von Kindern durch ihre Bindungspersonen in den ersten Lebensjahren hingewiesen werden (Kap. A.1.1.2.)
In Kap. A.2. soll dann der Reichtum der Theorien der Psychoanalyse zu Bedingungen und Folgen früher Traumatisierung dargestellt werden, wobei anhand der Theoriegeschichte des psychoanalytischen Trauma-Begriffs (Kap. A.2.1.) die unterschiedlichen (triebtheoretischen, ich-psychologischen, objektbeziehungstheoretischen, selbstpsychologischen) Perspektiven des psychoanalytischen Verständnisses der Entstehung und Wirkungen von Traumatisierung nachgezeichnet werden. Dabei sollen jedoch anhand des Verhältnisses von Trauma- und Konfliktpathologie (Kap. A.2.2.) auch die Grenzen eines psychoanalytischen Ansatzes aufgezeigt werden, der traditionsgemäß den Fokus auf den unbewußten symbolisierten Konflikt legt. Denn mit einem konfliktzentrierten Zugang zum Patienten lassen sich traumatische Erfahrungen, die aus der präverbalen und damit präsymbolischen Phase stammen, nicht erreichen. Ganz ähnlich können auch Manifestationen des Gegenwarts-Unbewußten durch die traumabedingte Beschädigung der gesamten Symbolisierungsfunktion und der daraus resultierenden gravierenden Mentalisierungsdefizite im Rahmen sprachlich vermittelter Kommunikation nur bedingt bearbeitet werden. Stattdessen „erzählen“ die Patienten ihre Geschichte in Form von präverbal somatosensorisch repräsentierten Enactments, die die Analytikerin verstehen und entwicklungsadäquat „beantworten“ muß, um den Patienten zu erreichen. Genau dieses vertiefte Verständnis ermöglichen nun wiederum die genannten Nachbarwissenschaften.
In Kap. A.3. sollen deshalb ausgewählte traumatheoretisch relevante Befunde von Nac h ba r wissenschaften dargestellt und kritisch diskutiert werden.
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Die Säuglingsforschung (Kap. A.3.1.) hat hierzu wichtige Erkenntnisse beigetragen, welche die Bedingungen gelingender und entgleisender präverbaler Dialoge zwischen Säugling und Fürsorgeperson betreffen und im Falle chronischer Unter- und Überstimulation sowie mißlingender Affektspiegelung zu gestörter Affektregulation führen (Kap. A.3.1.2.).
Die Bindungstheorie (Kap. A.3.2.) hat auf die Entwicklung gestörter Bindung durch frühe Beziehungstraumatisierung, insbesondere desorganisierter Bindung (Kap. A.3.2.2.) hingewiesen, die innerhalb des Spektrums unsicherer Bindung das höchste Risiko für Entwicklungspathologien birgt.
Die Neurobiologie (Kap. A.3.3.) hat die pathogene Wirkung traumatischen Stresses (Kap. A.3.3.2.) auf das noch in der Entwicklung befindliche Säuglingsgehirn belegt sowie die spezifischen Störungen der Informationsverarbeitung (Kap. A. 3.3.3.) in Situationen traumatischer Überwältigung herausgearbeitet.
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In Kap. A.4. sollen dann die genannten Befunde in einem integrativen Modell zusammengefaßt werden, das die psychoanalytische Forschergruppe um Peter Fonagy in den letzten Jahren entwickelt hat. Es beschreibt, wie durch frühe Beziehungstraumatisierung, insbesondere eine desorganisierte Bindung zur Mutter der Prozeß der Selbst- und Affektregulation des Kindes ebenso gestört wird wie der Prozeß der Mentalisierung, der die grundlegende Voraussetzung dafür bildet, sich selbst und andere als intentionale Wesen zu erleben und über eben diese Intentionen mit einem „signifikanten Anderen“ nachdenken zu können.
In Teil B dieser Dissertation sollen nun auf der Basis eines durch die Befunde der genannten Nachbarwissenschaften ermöglichten vertieften Verständnisses der Prozesse früher Traumatisierung die klinischen Implikationen dieser Befunde beschrieben und ein entwic k lungsorientierter psychodynamischer Therapieansatz für früh traumatisierte Kinder entworfen werden. Nachdem sich diese frühe Traumatisierung, wie eingangs erwähnt, metaphorisch eben nicht als „Fremdkörper im Ich“, sondern eher als „Infektion“ des gesamten „Organismus“ beschreiben läßt, die alle relevanten Entwicklungsdimensionen des kindlichen Werdens erfaßt, ist auch ein Behandlungsansatz in erster Linie unter der Perspektive der Entwicklungsorienti e rung zu konzipieren.
Dieser Ansatz beinhaltet grundlegende, an den spezifischen Entwicklungsdefiziten früh traumatisierter Kinder ansetzende Modifikationen der klassisch psychoanalytischen Behandlungstechnik. Er umfaßt zum einen eine Außenperspektive psychodynamischer Ind i kationsentscheidung und Therapieplanung, die von einem biopsychosozialen Entwicklungsmodell ausgeht und im Falle früh traumatisierter Kinder bestimmte Interventionen im sozialen Feld in den Blick nimmt (Kap. B.1.). Daneben steht eine Innenperspektive der unmittelbaren Analytiker-Patient-Beziehung, die spezifische Foki im analytischen Raum beachtet, welche sich wiederum aus den erwähnten Befunden der Nachbarwissenschaften ableiten lassen (Kap. B.2.).
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Was die genannte Außenperspektive anbelangt, so müssen zunächst, ausgehend von der psychischen Verfaßtheit früh traumatisierter Kinder und ihrem i.d.R. ressourcenarmen Milieu, die Grenzen eines ausschließlich klinisch-psychoanalytischen Behandlungsansatzes aufgezeigt und die Notwendigkeit zusätzlicher (sozial)pädagogischer Interventionen begründet werden (Kap. B.1.1.2.). Hierbei sind insbesondere Rolle und Funktion der Analytikerin zu diskutieren, die diese Interventionen nicht selbst ausführt, sie aber in Absprache mit den Bezugspersonen in die Wege leitet und z.T. auch koordiniert. Mit dieser zielgerichteten, entwicklungsorientierten Interventionsplanung, die eben anders als in der klassischen Psychoanalyse nicht „gleichschwebend“ neutral und abstinent ist, ist das seit den Anfängen der Kinderanalyse spannungsreiche Verhältnis von Psychoanalyse und Päd a gogik angesprochen, das deshalb in Kap. B.1.1.3. diskutiert werden soll. Auf dem Hintergrund eines Konzepts psychodynamischer Therapie, das sowohl psychoanalytisch-deutende wie pädagogisch-entwicklungsfördernde Elemente umfaßt, wie es auch in neueren psychoanalytischen Ansätzen vertreten wird, sollen sodann Charakteristika entwic k lungsorientierter Psychotherapie (Kap. B.1.2.) bestimmt und auf die Ebene konkreter Behandlungstechnik für früh traumatisierte Kinder heruntergebrochen werden (Kap. B.1.2.4.). Anschließend werden zwei mit dem Konzept „entwicklungsorientierter Psychotherapie“ zusammenhängende Problemfelder diskutiert: die Problematik einer „allgeme i nen bzw. integrativen“ Psychotherapie, die sich aus einem multiperspektivischen Interventionsansatz ergibt (Kap. B.1.3.1.) sowie die Probleme multiprofessioneller Kooperation (Kap. B.1.3.2.).
In Kap. B.2. soll dann die Innenperspektive der Analytiker-Patient-Beziehung entfaltet werden, welche die Entwicklungsorientierung im analytischen Raum darstellt. Dazu ist zunächst der in dieser Dissertation vorgestellte psychodynamisch-entwicklungsorientiert-traumazen-trierte Kindertherapieansatz im Spektrum psychoanalytisch-psychodynamischer Verfahren, in Abgrenzung zur Erwachsenenanalyse (Kap. B.2.1.1.) und zur Kinderanalyse (Kap.B.2.1.2.) zu verorten.
Mein eigener Ansatz (Kap. B.2.1.3.) läßt sich danach als psychodynamischer, einer modernen objektbeziehungstheoretischen Position verpflichteter Ansatz mit „Brücken zur Selbstpsychologie“ beschreiben, der eine entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung mit einer traumazentrierten Vordergrundhaltung verbindet. „Entwicklungsorientierte Hintergrundhaltung“ bedeutet, daß zentrale entwicklungsorientierte Behandlungziele verfolgt werden, nämlich Bindungssicherheit, Veränderung nonverbal kommunizierten impliziten Beziehungswissens, verbesserte Selbst- und Affektregulation und Mentalisierung, welche aus den in Teil A dieser Dissertation dargestellten Befunden der Nachbarwissenschaften ableitbar sind und als spezifische Foki der Behandlungstechnik formuliert werden können (s.u.). Mit „traumazentrierter Vordergrundhaltung“ ist eine störungsspezifische Orientierung gemeint, die sich nicht nur auf die traumatische Symptomatik bezieht, sondern insgesamt „trauma-informiert“ ist, d.h. die spezifischen neurobiologischen Verarbeitungsprozesse traumatischer Erfahrungen kennt und die daraus resultierenden Folgen einzuschätzen und therapeutisch adäquat darauf zu reagieren weiß. Dies beinhaltet, v.a. in der Anfangsphase der Therapie, auch den Einsatz von Techniken der emotionalen Stabilisierung sowie direktiver Interventionen insbesondere im posttraumatischen Spiel. Sie haben das Ziel, auftauchendes traumatisches Material zwar zur Rekonstruktion und Integration zu nutzen, es aber gleichzeitig auch einzudämmen, um retraumatisierende Affektüberflutungen zu verhindern. Der Einsatz dieser Techniken und direktiven Interventionen wird daher ständig auf dem Hintergrund von Übertragung und Gegenübertragung reflektiert.
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In Kap. B.2.2. wird dieser Ansatz sukzessive entfaltet. Zunächst wird eine grundlegende psychoanalytische Haltung umrissen, welche durch traditionelle „Essentials“ psychoanalytischer Behandlungstechnik (wie gleichschwebende Aufmerksamkeit, Wahrnehmung von Übertragung und Gegenübertragung, „holding“ und Empathie, „containing“) gekennzeichnet ist (Kap. B.2.2.1.) Darauf aufbauend werden die erwähnten entwicklungsorientierten Behandlungsfoki dargestellt, wie Bindung, nonverbale Kommunikation, Affekte, Mentalisierung, die sich aus den spezifischen Entwicklungsdefiziten früh traumatisierter Kinder herleiten lassen und die anhand von Fallvignetten illustriert werden. Im Zusammenhang mit dem Fokus „Mentalisierung“ wird auf das Problem der Deutung in der analytischen Kindertherapie im allgemeinen und in der Therapie früh traumatisierter Kinder im besonderen eingegangen.
Schließlich wird der schwierigste Bereich auf dem Feld der Traumatherapie, der Umgang mit der traumatischen Übertragung (Kap. B.2.3.) diskutiert, d.h. die verschiedenen Varianten von Täter-, Opfer- und Retter-Übertragungen des Patienten auf die Analytikerin. Dazu sollen zunächst verschiedene psychoanalytische theoretische wie behandlungstechnische Positionen referiert und insbesondere auf die bereits angesprochene Kontroverse zwischen „klassisch“ psychoanalytischer und „moderner“ psychodynamisch-traumazentrierter Psychotherapie sowie vermittelnde Positionen eingegangen und anschließend eine eigene Stellung bezogen werden. In Kap. B.2.3.3. sollen dann anhand von Fallvignetten spezifische Beziehungsdynamiken thematisiert werden, die sich aus den drei genannten zentralen traumatischen Übertragungsmustern (Täter-Opfer-Retter) ergeben und sowohl Chancen der Bearbeitung bieten als auch Risiken der Retraumatisierung bergen. In einer letzten Fallvignette aus einer fortgeschrittenen Therapie wird die Verschränkung von Trauma- und Konfliktdynamik demonstriert. Eine Zusammenfassung beschließt die Arbeit.
1 ∗ Da der weit überwiegende Teil der Kinderanalytiker weiblichen Geschlechts ist, verwende ich im Folgenden die weibliche Form
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