Bräuer, Siegfried: Wallfahrtsforschung als Defizit der reformationsgeschichtlichen Arbeit. Exemplarische Beobachtungen zu Darstellungen der Reformation und zu Quellengruppen

Kapitel 8. Abschließende Bemerkungen und Ausblick

Mit den Erfahrungen eines Reformationshistorikers sollten Fährten durch ein sehr unterschiedliches Quellenmaterial gelegt und verfolgt sowie einige exemplarische Beobachtungen mitgeteilt werden. Was könnte aus der Fülle der herangezogenen und ausgewerteten Quellen festgehalten werden?

  1. Ein angemessener Umgang mit Formen der vorreformatorischen Frömmigkeit, einschließlich der Wallfahrten, gehört noch nicht zu den Selbstverständlichkeiten der reformationsgeschichtlichen Arbeit. Die Verwendung von Begriffen wie „Volksreligion“ oder „Volksfrömmigkeit“ verstellen mehr das Verständnis als sie es erhellen. Aus den Quellen ist außerdem eindeutig, zu belegen, daß an den Wallfahrten alle Stände und Schichten beteiligt waren, wenn auch die Wallfahrten von Fürsten, Grafen und Herren besonders gut dokumentiert sind.
  2. Es war bekannt, daß die spätmittelalterliche Frömmigkeit am kursächsischen Hof bis in die Anfangsjahre der Reformation praktiziert wurde. Im Zentrum des Interesses stand jedoch vor allem die Reliquienverehrung Kurfürst Friedrich des Weisen. Kaum im Blick war bislang die Wallfahrten Herzog Johanns, seiner Familie und seines Hofpersonals sowie die Unterstützung von Wallfahrern durch sie. Dem Prozeß des Umbruchs wäre in den Quellen (Rechnungen !) genauer nachzuspüren.
  3. Wallfahrten der Harzgrafen waren durch territorialgeschichtliche Veröffentlichungen schon nachgewiesen, fanden in der Forschung aber relativ geringe Beachtung, obgleich sie auch für die Erforschung von einzelnen Wallfahrtsstätten, voran Elende, von Belang sind. Völlig übersehen wurde bisher die Darlehnsnahme der Stolberger Grafen bei den Antonitern in Eicha, die ein neues Licht auf die vor allem von Luther immer wieder attackierte Wallfahrt wirft.
  4. In den Darstellungen zum Ende der Wallfahrten beherrschen in der Regel Formulierungen wie „durch die Reformation“ oder ähnlich das Feld. Anlaß, politische Situation, agierende Personen und Form (z. B. Desakralisierung wie in Eilenburg oder Wilsnack, Visitation wie in Nikolausberg oder Grimmenthal, reformatorische Verkündigung und Polemik wie in Schwerin) sind in jedem einzelnen Fall neu zu untersuchen.
  5. Die bisher edierten Testamente vermitteln den Eindruck, daß in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Dotationen von Fernwallfahrten rückläufig waren, die Dotationen von Wallfahrten zu inländischen Zielen aber eine Zunahme zu verzeichnen haben. Für Stralsund ist für diese Erscheinung auf wirtschaftliche Gründe (schwindende Bedeutung der Hanse) hingewiesen worden. Das ist zu prüfen, denn die kursächsischen Hofrechnungen weisen zumindest für Wallfahrten nach Santiago keinen Rückgang aus. Die Entstehung neuer Wallfahrtsstätten ist in diesem Zusammenhang ebenfalls neu zu bedenken.
  6. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts scheinen sich testamentarische Verfügungen für den religiösen Bereich überwiegend auf die Kirchen, Spitäler, Bruderschaften u.ä. in der eigenen Stadt gerichtet zu haben. Dieser Entwicklung wäre gründlicher nachzugehen und die Frage eines Zusammenhangs mit dem wachsenden Bürgerbewußtsein zu erörtern.
  7. Keine der für die Wallfahrtsthematik relevanten Quellengruppen ist für den mitteldeutschen Raum in ausreichendem Maße erschlossen oder gar ediert. Durch neue Recherchen sind mit Sicherheit auch neue Aufschlüsse zu einzelnen Wallfahrtsstätten zu erwarten. Quellenkritische Untersuchungen sind bei der chronikalischen Überlieferung unerläßlich, wie die Berichte von Stolle, Fritzler und Winnigstedt zeigen.
  8. Die Schwierigkeiten bei der Identifizierung von Wallfahrtsstätten, die in Testamenten und Rechnungen genannt werden, machen das Fehlen einer territorialen Wallfahrtstopographie für den mitteldeutschen Raum schmerzlich bewußt. Nach einer kartographischen Aufbereitung werden sich weitergehende Fragen stellen, z. B. die nach einer regionalen Verflechtung (Mehrfachwallfahrten), nach wallfahrtsfreien Zonen, nach flankierenden Entstehungsbedingungen und Nutzungen (z. B. Schiffahrtssignale, Repräsentation, Handelswege).

Luther hat sich in seiner letzten Predigt in Eisleben am 15. Februar 1546 in drastischer Weise dazu geäußert, daß immer noch Leute zum Heiligen Rock in Trier oder zu Josefs Hosen und Marias Hemd in Aachen wallfahren, obgleich Gott in Predigten und Büchern täglich mit den Menschen rede: „Sind wir aber nicht tol und töricht, ja vom Teufel geblendet und besessen, Da sitzt der Kautz zu Rom mit seinem Geuckelsack und locket alle Welt zu sich mit jrem gelt und gut etc. Da ein jeglicher zu seiner tauff, Sacrament und Predigstuel lauffen sollte. Denn wir sind ja damit hoch gnug geehret und reichlich geseligt, das wir wissen, das Gott mit uns redet und mit seinem Wort uns speiset, gibt uns seine Tauffe, Schlüssel etc. Aber da sagen die rohen, gottlose Leute dagegen, was Tauffe, Sacrament, Gottes wort? Josephs hosen die thuns<228>.“ Wort und Sakrament sind nach Luther die von Gott geordneten Mittel der Gegenwart Gottes. Ergänzende Handlungen sind weder nötig, noch möglich. Gegner wie der Zisterzienserabt von Zelle, Paul Bachmann/Amnicola, warfen ihm vor, er setze in „verkehrter Weise die leiblichen Übungen und Bräuche der Zeremonien hintan“ und verweise „das grobe viehische Volk auf den nackichten, bloßen toten Glauben ... als auf die vollkommene Gerechtigkeit“. Darum wachse „ein zaunlos geil Volk, ein Volk schnell zum Argen, ein hoffärtig, auffrührerisch Volk ohne Gottesfurcht auf“<229>. Bei aller polemischen Verkürzung könnte der altgläubige Kontroverstheologe Gefahren angesprochen haben, die kaum durch Luther selbst, eher schon durch intellektualistische Tendenzen in der lutherischen Kirche gegeben waren. Die rituelle Gestaltung des Glaubens ist längst kein Thema mehr für interkonfessionelle Grundsatzkontroversen. Im evangelischen Dom von Bremen fand ich kürzlich eine Wand voller Gebetswünsche, allerdings durchweg an Gott oder Christus gerichtet. Selbst das Wallfahrtsthema begegnet den Lesern evangelischer Kirchenzeitungen hin und wieder. Zu fragen ist aber, ob die reformatorisch-theologischen Einsichten genügend zu Rate gezogen worden sind, wenn Pfarrer junge Pilger segnen, bevor sie sich auf den Jakobsweg begeben oder wenn auf einem Gedenkstein für eine ehemalige Wallfahrtsstätte unter anderm zu lesen ist., daß Pilger aus ganz Norddeutschland die „dem Heiligen Jodokus geweihte Kapelle“ aufsuchten, „um durch den Besuch der Wallfahrtsstätte Sündenvergebung und Heilung zu erlangen“.<230>

Zeugnisse eines entspannteren Umgangs mit der Wallfahrtsthematik, wenn auch vereinzelt, sind bei evangelischen Theologen schon viel früher zu finden. Der sächsische Pfarrer Christian Gerber in Lockwitz bei Dresden, ein Vertreter der Frömmigkeit Philipp Jakob Speners, veröffentlichte 1732 eine Geschichte der sächsischen Kirchenzeremonien, die noch heute für die Kirchengeschichte und die Praktische Theologie von Wert ist. Bei der Darstellung des Festes von Mariä Geburt greift er auf eine eigene Erfahrung zurück. Er schildert ausführlich und ohne Polemik eine Wallfahrt, die er an diesem Festtag 1697 im benachbarten böhmischen Graupen erlebte. Er weist dann darauf hin, daß man auch zu Anfang der Reformation dieses Fest noch etliche Jahre begangen habe. Anschließend gibt er große Passagen aus Luthers Predigt über Matth. 1, 1-17 vom 8. September 1522 wieder, einschließlich der Aufforderung, nicht nach Grimmenthal, Eicha, Einsiedel, Sternberg und anderen Orten zu laufen, sondern in des hilfsbedürftigen Nachbarn Haus. Luther habe seinen Zuhörern mit der Aufforderung, Maria zu ehren, ohne Christus zu verdunkeln und die Armen zu vergessen, „die rechte Mittel-Strasse gewiesen“<231>. Gerber hat mit seinem respektvollen Umgang mit der Wallfahrtsfrömmigkeit in Verbindung mit den reformatorischen theologischen Einsichten eine Leitlinie vorgegeben, die auch in der reformationsgeschichtlichen Arbeit der Gegenwart beherzigt werden sollte.


Fußnoten:

<228>

(Wie Anm. 188), S. 193, 19-26.

<229>

Clemen: (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 273 (aus Amnicolas Schrift von 1537 „Von Ceremonien der Kirche“).

<230>

Johannes Göhler: Die Kapelle „zum Trost“ im Moor. Die mittelalterliche Wallfahrt der Norddeutschen zu St. Joost, in: Jahrbuch der Männer vom Morgenstern 77/78 (1998/99), S. 91-120, hier S. 99.

<231>

Christian Gerber: Historie Der Kirchen-Ceremonien in Sachsen; Nach ihrer Beschaffenheit in möglichster Kürtze mit Anführung vieler Moralien/ und specialen Nachrichten. Dresden und Leipzig 1732, S. 194-198. - Zur Lutherpredigt vgl. (wie Anm. 188), S. 312-331. - Zur großen Verbreitung der Lutherpredigt in 16 Drucken von 1522/23 vgl. Susanne bei der Wieden: Luthers Predigten des Jahres 1522. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung. Köln, Weimar, Wien 1999, S. 326-331 (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Luthers, 7).


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Thu Oct 31 14:04:17 2002