Bräuer, Siegfried: Wallfahrtsforschung als Defizit der reformationsgeschichtlichen Arbeit. Exemplarische Beobachtungen zu Darstellungen der Reformation und zu Quellengruppen |
Die Lutherstadt Eisleben, in der Wiege und Bahre dieses Gottesstreiters standen, lädt zur Wallfahrt an die geheiligten Stätten der Luthererinnerung ein<1> . Mit diesen Worten forderte der Eisleber Festausschuß zu Pfingsten 1933 die evangelischen Glaubensgenossen auf, an der Lutherfestwoche vom 19. bis 27. August teilzunehmen. Nach Auskunft von Grimms Wörterbuch hat schon Götz von Berlichingen Wallfahrt im übertragenen Sinn, d. h. für eine von vielen unternommene Wanderung an einen Ort oder zu einer Person verwendet<2>. Der Aufruf zur Wallfahrt zu den geheiligten Stätten der Luthererinnerung sprengt aber den Rahmen der traditionellen Bedeutungsnuancen. Immerhin gilt Luther als der Hauptverantwortliche, daß die Wallfahrten im evangelischen Bereich abgeschafft worden sind. Die Confessio Augustana von 1530 zählte sie zum kindische(n) unnötige(n) Werk, das keiner langen Erörterung bedürfe<3>.
Im Wirkungsbereich dieser Bekenntnisschrift bin ich aufgewachsen. Als Theologiestudent habe ich Anfang der fünfziger Jahre mit einer Gruppe der Jungen Gemeinde aus Leipzig eine Fahrradrüstzeit nach Südhessen und Franken unternommen. Ich weiß noch, daß ich damals von einer Riemenschneiderwallfahrt gesprochen habe, weil ich mich für das Werk Tilmann Riemenschneiders begeisterte und seine Altäre als Stationen unserer Fahrt mit eingeplant waren. Eigene Erfahrungen mit einer Wallfahrt im eigentlichen Sinn besaß ich nicht, obgleich ich in einem erzgebirgischen Grenzdorf aufgewachsen bin. Ich entsinne mich noch gut, wie verblüfft wir reagierten, als wir in der Pfarrkirche von Miltenberg am Main vor einer Wand voller Zettel standen, auf denen Heilige um Hilfe angerufen wurden. Noch stärker war der Eindruck zwei Tage später in der Walldürner Kirche. Da stießen wir auf eine ganz ungebrochene Ablaßverkündigung. Spontan fiel das Wort Mittelalter.
Ich will nicht verhehlen, daß mir Wallfahrten als Frömmigkeitsäußerungen weiter fremd geblieben sind. Dennoch habe ich mich ohne zu zögern bereit erklärt, mich dem Thema Wallfahrtsforschung als Defizit der reformationsgeschichtlichen Arbeit zu stellen, weil ich schon länger die Dominanz des theologiegeschichtlichen Aspekts in der Arbeit evangelischer Reformationshistoriker kritisch beäuge. Selten ist z. B. danach gefragt worden, wie sich eine reformatorische Frömmigkeit herausgebildet und welche Formen sie tatsächlich angenommen hat. Im Jahr des Wittenberger Universitätsjubiläums bietet es sich an, darauf hinzuweisen, daß wir zwar einiges über die Wittenberger Universitätslehrer und Theologen der Stadt wissen, aber fast nichts darüber, wie sich der Glaubensumbruch bei den Bürgern der Stadt sonst vollzogen hat. Es ist erstaunlich, wie wenig die städtischen Archivalien bislang danach befragt worden sind. Hinweise auf die Teilnahme von Wittenbergern an Wallfahrten sind mir in der reformationsgeschichtlichen Literatur kaum begegnet. Die Persönlichkeiten der Reformatoren, voran Luther, haben bis in die Gegenwart die Potenzen der Forschung zu erheblichen Teilen gebunden.
So ist es nicht verwunderlich, daß ich bei den evangelischen Reformationshistorikern sehr wenige Vorarbeiten für mein Referat fand. Otto Clemens Überblick Die Frömmigkeit des ausgehenden Mittelalters erschien bezeichnenderweise als drittes Heft von Will Erich Peuckerts Studien zur religiösen Volkskunde 1937 und war für breitere Kreise bestimmt<4>. In der lokal- und territorialgeschichtlichen Literatur ist die Situation etwas günstiger, wenngleich auch hier große Unterschiede in der Berücksichtigung der Wallfahrtsthematik festzustellen sind. Für die nördlichen deutschen Regionen liegen bislang nur zu Pommern zureichende neuere Arbeiten von Hellmuth Heyden und Norbert Buske vor<5>. Zum ehemaligen Antoniterkloster und Wallfahrtsort Eicha bei Naunhof in Sachsen erschien erst kürzlich eine Publikation mit interdisziplinärer Fragestellung<6>. Damit ist bereits angedeutet, daß ich mich im wesentlichen auf das vor allem protestantisch geprägte mittlere und nördliche Deutschland beschränken will. Bei der Wallfahrtsforschung hat es bislang nicht im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Es ist mir auch von meiner eigenen reformationsgeschichtlichen Arbeit her vertrauter und entspricht außerdem der Tagungsthematik. Unter der Vorbereitung wurde mir aber bald deutlich, daß ich mich damit begnügen muß, einige Fährten durch die Fülle des teilweise recht unterschiedlichen Materials zu legen, sie zu verfolgen und einige exemplarische Beobachtungen mitzuteilen. Herantasten möchte ich mich an die Thematik zunächst durch einen Blick in Gesamtdarstellungen der Reformationsgeschichte von protestantischen Autoren. Ich erhoffe mir davon Aufschluß über die generelle Beurteilung von Wallfahrten und über einige Probleme, die mit der Thematik Wallfahrtsforschung und reformationsgeschichtliche Arbeit verbunden sind.
Fußnoten: | |
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Stadtarchiv Eisleben, D XVI 12 Lutherfestwoche 1933, Vorakten und Festspiele. | |
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 13. Leipzig 1922, Sp. 1301f. | |
Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 5. Aufl. Berlin 1960, S. 75 (Art. 20) und S. 98 (Art. 25). | |
Neudruck in: Otto Clemen: Kleine Schriften zur Reformationsgeschichte (1897-1944), hrsg. von Ernst Koch, Bd. 7. Leipzig 1985, S. 273-318, hier S. 297-302 (Wallfahrten). Clemen empfiehlt, zur weiteren Orientierung zu dem ausgezeichneten Buche von Willy Andreas: ‚Deutschland vor der Reformation’ zu greifen (ebenda, S. 274). | |
Hellmuth Heyden: Das Wallfahrtswesen in Pommern, in: Blätter für Kirchengeschichte Pommerns 22/23 (1940), S. 7-20. - Ders.: Kirchengeschichte Pommerns. 2., umgearb. Aufl., Bd. 1. Köln-Braunsfeld 1957, S. 147-150 (= Osteuropa und der deutsche Osten, R 3, 5). - Ders.: Stralsunder Wallfahrten, in: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 8 (1968/69), S. 29-37. - Norbert Buske: Die Marienkapelle in Levenhagen, in: Baltische Studien NF 55 (1969), S. 33-43. - Ders.: Die Marienkapellen auf dem Gollen, dem Revekol und dem Heiligen Berg bei Pollnow. Ein Beitrag zur Geschichte der Wallfahrtsorte in Pommern, in: Baltische Studien NF 56 (1970), S. 17-40. - Ders.: Die Verehrung des Hl. Ewald und die Errichtung der Bodstedter Kapelle. Ein Beitrag zur Patrozinienkunde und zur Geschichte der Wallfahrtsorte in Pommern, in: Baltische Studien NF 58 (1972), S. 19-32. - Ders.: Mittelalterliche Kirchen und Gnadenorte als Küstenstationen im Bereich des ehemaligen Herzogtums Pommern, in: Herbergen der Christenheit 9 (1973/74), S. 9-30. - Ders.: Kenz als mittelalterlicher Wallfahrtsort und späterer Gesundbrunnen, in: Herbergen der Christenheit 11 (1977/78), S. 7-32. Vom ersten Aufsatz abgesehen, sind Buskes Beiträge Teile seiner ungedruckten Greifswalder theol. Diss. von 1968: Mittelalterliche Küstenstationen als Gnadenorte, ein Beitrag zur mittelalterlichen Kirchengeschichte des ehemaligen Herzogtums Pommern. | |
Lutz Heydick und Uwe Schirmer (Hrsg.): Kloster Eicha. Wallfahrts-, Antoniter-, Reformations- und Ortsgeschichte. Beucha 1997 (= Heimatgeschichtliche Schriften der Rudolf-Kötzschke-Gesellschaft, 1). |
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