Norwegians, Swedes, and Danes are widely regarded as reluctant Europeans. However, students of European integration have not hitherto been able to give a comprehensive explanation of the relative strength of political opposition to the European Union in Scandinavia. Although political scientists have made considerable efforts to investigate the European issue during the 1990s, a review of recent academic literature on the subject from Scandinavia reveals that they have dedicated little attention to the real key actors among the anti-integrationist opposition, i.e. the extra-parliamentary “people's movements” against the EU. This article offers an overview of the Scandinavian “No to the EU” movements which have played a key role in all domestic conflicts over Europe since the 1960s. It is argued that, viewed from a historical perspective, these extra-parliamentary movements can be interpreted by contrasting them to post-war federalist movements. On a theoretical level, it is suggested that the concept of federalism could be used in order to analyse the processes of mobilisation and the relative political success of the Scandinavian opposition to the European integration.
Dänen, Schweden und Norweger genießen den Ruf widerwilliger Europäer. Das dänische Nein zum Euro hat das vorherrschende Bild des „euroskeptischen“ Nordens jüngst wieder bekräftigt. Worin liegen die Ursachen für die vergleichsweise starke Abwehrhaltung gegen die Integration in die Europäische Union in den skandinavischen Gesellschaften? Die politikwissenschaftliche Forschung über Skandinavien hat sich zwar eingehend mit den europapolitischen Entwicklungen und Entscheidungen des letzten Jahrzehnts beschäftigt, doch ist daraus bislang keine konsistente Gesamtinterpretation skandinavischer Integrationsgegnerschaft hervorgegangen. Ich argumentiere in diesem Beitrag zunächst, dass ein wesentlicher Grund für dieses Erklärungsdefizit in der unzureichenden direkten Beschäftigung mit den politischen Akteuren der EU-Opposition in Skandinavien zu suchen ist, insbesondere mit den in allen Ländern existierenden außerparlamentarischen Bewegungen gegen die EU. In dem anschließenden Versuch, Erklärungsansätze für die Entstehung und relative Stärke der skandinavischen Anti-EU-Bewegungen aufzuzeigen, plädiere ich darüber hinaus für die Verwendung einer in der politikwissenschaftlichen Europaforschung etablierten Theorie: den Föderalismus.
Im Folgenden werde ich zunächst einen knappen Überblick über die Entwicklung Skandinaviens im Prozess der europäischen Integration geben (1) und die Genese der in diesem Kontext entstandenen außerparlamentarischen Anti-EU-Bewegungen in Dänemark, Schweden und Norwegen nachzeichnen (2). Anschließend diskutiere ich den Stand der skandinavischen politikwissenschaftlichen Forschung im Hinblick auf mögliche Erklärungen für die Mobilisierung anti-integratorischer Opposition (3). Angesichts der dabei zu konstatierenden Defizite werde ich einen weiterführenden Erklärungsansatz vorschlagen, der aus der Kontrastierung der skandinavischen Anti-EU-Bewegungen mit der Bewegung der europäischen Föderalisten hergeleitet (4) und mit dem integrationstheoretischen Konzept des Föderalismus präzisiert werden kann (5). Abschließend resümiere ich die Forschungsperspektive, die sich durch ein solches föderalismustheoretisches Verständnis skandinavischer Integrationsgegnerschaft eröffnet.
Die skandinavischen Staaten sind im Hinblick auf die Teilnahme am europäischen Integrationsprozess nach 1945 unterschiedliche Wege gegangen.1 Im Gegensatz zu Dänemark, das bereits 1973 in die Europäische Gemeinschaft eintrat und über zwei Jahrzehnte als integrationspolitischer Vorreiter Skandinaviens gelten konnte, lehnten Norwegen und Schweden eine Vollmitgliedschaft in der Gemeinschaft ab und beschränkten sich lange Zeit auf die Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Freihandelszone (EFTA). Erst mit der Entstehung des gemeinsamen Binnenmarkts ab Mitte der achtziger Jahre setzte im Norden eine europapolitische Neuorientierung ein, die indes einmal mehr zu abweichenden Integrationsentscheidungen führte. Norwegen nahm 1992 zwar den EWR-Vertrag an, lehnte aber die Mitgliedschaft in der EU 1994 ein weiteres Mal nach 1972 ab. Demgegenüber trat Schweden 1995 gemeinsam mit Finnland und Österreich der EU bei. Das neue Mitglied Schweden folgte also dem alten Mitglied Dänemark, wohingegen Norwegen das alt-neue „Andersland“2 geblieben ist.
Auf dem Hintergrund gegenläufiger europapolitischer Richtungsentscheidungen gestalten sich die gegenwärtigen Beziehungen von Dänemark, Schweden und Norwegen zur EG/EU äußerst differenziert. Obwohl Schweden etwa alle finanz- und haushaltspolitischen Voraussetzungen zur Teilnahme an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) erfüllt, wird das Land vorläufig nicht in die dritte Stufe der EWWU eintreten und stellt die Einführung des Euro unter den Vorbehalt einer noch zu bestimmenden Wahl- oder Abstimmungsentscheidung. Schweden macht insofern faktisch von einem opt-out Gebrauch, das Dänemark nach der Zurückweisung des Maastricht-Vertrages 1992 vom Europäischen Rat vertraglich zugesprochen bekam und durch das Referendum vom 28. September 2000 bestätigt hat.3 Die Edinburgh-Erklärung, die im Juni 1993 in dem vielfach als Maastricht-II bezeichneten Referendum mit deutlicher Mehrheit ratifiziert wurde, enthält über den Euro-Vorbehalt hinaus Ausnahmebestimmungen bezüglich Dänemarks Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), der Verpflichtung zur Einführung einer Unionsbürgerschaft sowie der Mitwirkung an der Zusammenarbeit bei Inneres und Justiz. Letzteres schließt auch die Zusammenarbeit auf Grundlage der Schengener Konvention ein, die inzwischen als Teil des 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrags in die EU überführt worden ist. Angesichts dieser substantiellen Ausnahmeregelungen ist Dänemark inzwischen politisch und institutionell in weit geringerem Maße in die EU eingebunden als Schweden, das die Europäischen Verträge ungeachtet seiner Haltung zur EWWU ohne Einschränkung angenommen hat. In Bezug auf die Schengener Zusammenarbeit und die Bildung einer europäischen Krisenreaktionstruppe ist sogar Norwegen stärker als Dänemark in die EU integriert, obwohl Norwegen mangels formeller Mitgliedschaft keine Mitentscheidungsrechte in den Organen der EU wahrnehmen darf. Das neue Mitglied Schweden ist nicht ins Zentrum und das alte Mitglied Dänemark sogar an den Rand der EU gerückt, während das alt-neue Nicht-Mitglied Norwegen partiell in Kernbereiche der EU-Integration vorstößt.
Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 hat sich in der nördlichen Dimension der EU eine hochgradig variable Geometrie herausgebildet.4 Die skandinavischen Staaten sind einerseits Teil des Europäischen Binnenmarkts, andererseits nehmen sie jeweils Sonderstellungen im Kontext der politischen EU-Integration ein. Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, weil sie dem erklärten politischen Willen der Regierungen in Kopenhagen, Stockholm und Oslo zuwider läuft. Seit Mitte der achtziger Jahre haben alle sowohl sozialdemokratischen als auch bürgerlich-konservativen Administrationen Skandinaviens eine dezidiert pro-integratorische Politik verfolgt. Obwohl sie dabei von weiten Teilen der parteipolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Eliten unterstützt worden sind, ist es den jeweiligen „Establishments“ nicht gelungen, eine ausreichende demokratische Legitimation für die volle politische Integration in der EU sicherzustellen. Gerade dieser Kontrast zwischen der offenkundigen Integrationsbereitschaft der skandinavischen Staatsführungen und der sichtbaren Integrationsgegnerschaft in weiten Teilen der skandinavischen Gesellschaften macht die Region zu einem interessanten Studienobjekt für die Bedeutung politischer Opposition im Prozess der EU-Integration.
Die Mobilisierung anti-integratorischer Opposition in Skandinavien hat vor allem im Rahmen von außerparlamentarischen Bewegungen stattgefunden, deren Geschichte unterschiedliche Zeithorizonte eröffnet. Die dänische Anti-EU-Bewegung repräsentiert die älteste bestehende außerparlamentarische Opposition gegen die Integration in Europa. Ihre Ursprünge reichen zurück bis zum Beginn der 1960er Jahre, als in Dänemark erstmals innenpolitischer Streit über die beabsichtigte Mitgliedschaft in der damaligen EWG ausbrach. Die Entwicklung der ersten anti-integratorischen Initiativen blieb freilich ebenso im Ansatz stecken wie die beiden Mitgliedschaftsanträge 1962 und 1967, die von der dänischen Regierung nach dem wiederholten Veto des französischen Präsidenten de Gaulle gegenüber dem Aufnahmewunsch Großbritanniens vorzeitig aufgegeben wurden. Die organisatorische Sammlung der außerparlamentarischen Opposition erfolgte schließlich im Vorfeld der Volksabstimmung über den EG-Beitritt 1972. Im Januar 1972 schloss sich eine Anzahl aktiver EG-Gegner aus verschiedenen Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen zunächst zum „Gemeinsamen Ausschuss gegen die EG“ (Fællesudvalget mod EF) zusammen. Dieser Dachverband wurde drei Monate später in die eigenständige Bewegungsorganisation „Volksbewegung gegen EG“ (Folkebevægelsen mod EF) umgewandelt. Trotz Niederlage im Beitrittsreferendum setzte die Volksbewegung ihre Arbeit gegen die Mitgliedschaft Dänemarks in der EG ab 1973 fort. Bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1979 trat Folkebevægelsen mit einer eigenen Kandidatenliste an. Sie gewann auf Anhieb 21% der Stimmen und damit vier der insgesamt 16 dänischen Sitze. Seither ist die Volksbewegung, die 1992 mit ca. 15.000 Mitgliedern ihren bisherigen Höchststand erreichte, ununterbrochen im Straßburger Parlament vertreten.
Im Gefolge des Sieges beim ersten Maastricht-Referendum am 2. Juni 1992 kam es zur Spaltung innerhalb der dänischen Anti-EU-Bewegung und zur Gründung der „Junibewegung“ (JuniBevægelsen). Die Junibewegung lehnt zwar ebenfalls den EU-Vertrag ab, fordert aber im Unterschied zur Volksbewegung nicht länger den Austritt Dänemarks aus der Gemeinschaft. Neben der EU-feindlichen Volksbewegung ist seit den Europawahlen 1995 auch die EU-kritische Junibewegung mit eigenen Abgeordneten im EU-Parlament vertreten. Beide Organisationen agieren auf nationaler Ebene nach wie vor außerparlamentarisch, auf europäischer Ebene jedoch als Parlamentsfraktionen und damit eher als genuin europäische Parteien.
Im Vergleich zu Dänemark ist die schwedische Anti-EU-Bewegung noch jung. Wie im übrigen Skandinavien wurde auch in Schweden im Verlauf der sechziger Jahre kontrovers über eine Annäherung an die EWG/EG diskutiert, doch angesichts des parlamentarischen Votums gegen einen Mitgliedsantrag Anfang 1971 kam es nicht zur Formierung einer außerparlamentarischen Oppositionsbewegung. Dies geschah erst vor dem Hintergrund der neuen Integrationsdynamik in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Im August 1989 konstituierte sich in Verbindung mit dem öffentlichen Aufruf „Gegen die EG-Anpassung“ der ausschließlich durch Organisationen getragene „Rat für kritische EG-Information“ (Rådet för kritisk EG-information). Dieser wurde im April 1991 in die Mitgliederorganisation „Nein zur EG“ (Nej till EG) überführt. Vor dem EU-Referendum im November 1994 ging Nej till EG formal in der „Volksbewegung gegen EU“ (Folkrörelsen mot EU) auf, einem im April 1994 gebildeten Kampagnenbündnis von über dreißig Parteien und Organisationen. Faktisch jedoch wahrte die inzwischen in „Nein zur EU“ umbenannte Bewegungsorganisation ihre Selbständigkeit. Mit rund 13.000 Mitgliedern war sie 1994 die stärkste politische Kraft im Lager der schwedischen EU-Gegner. Nach dem EU-Beitritt 1995 zogen sich die meisten anderen Akteure aus dem Kampagnenbündnis zurück. „Nein zur EU“ entschied sich dagegen für das Fortbestehen der Organisation unter dem seither unveränderten Namen „Volksbewegung Nein zur EU“ (Folkrörelsen Nej till EU). Im Gegensatz zu ihren dänischen Schwesterbewegungen hat Folkrörelsen bislang nicht an Wahlen zum Europaparlament teilgenommen, sondern mit rein außerparlamentarischen Mitteln für die Forderung nach einem Referendum über den Austritt Schwedens aus der EU gekämpft.5
Die Entwicklung der anti-integratorischen Opposition in Norwegen zerfällt demgegenüber in zwei Epochen: eine historische Anti-EG-Bewegung von 1961 bis 1972 und eine neue Anti-EU-Bewegung seit 1988. Das erste Zeichen außerparlamentarischer Aktion setzte Anfang Januar 1962 der „Aufruf der 143“, hinter dem eine gleiche Anzahl von Hochschullehrern, Künstlern und Intellektuellen stand, die sich gegen die Aufnahme von Verhandlungen über eine norwegische EWG-Mitgliedschaft aussprachen. Dieser Kreis bildete zugleich die „Aktion gegen den Gemeinsamen Markt – die 143“ (Aksjon mot Fellesmarkedet – de 143). Eine zweite Initiative mit dem Namen „Norwegen und der Gemeinsame Markt. Informationsausschuss von 1962“ (Norge og Fellesmarkedet. Opplysningsutvalget av 1962) wurde demgegenüber vor allem von landwirtschaftlichen Interessenverbänden und der ihnen nahestehenden Zentrumspartei (Senterpartiet) getragen. Im August 1970 vereinigten sich beide Organisationen zur „Volksbewegung gegen eine norwegische Mitgliedschaft im Gemeinsamen Markt“ (Folkebevegelsen mot norsk medlemskap i Fellesmarkedet). Die Volksbewegung wuchs schnell auf ca. 130.000 Mitglieder und damit zur größten politischen Vereinigung des Landes heran. Nach dem Erfolg im EG-Referendum 1972 stellte die Organisation ihre Tätigkeit ein und beschloss 1982 offiziell ihre Auflösung.
Das Wiederaufleben der Bewegung in einem integrationspolitisch veränderten Kontext erfolgte 1988 durch die Bildung des „Informationsausschuss Norwegen und EG“ (Opplysningsutvalget om Norge og EF). Der Ausschuss wurde im August 1990 in die Mitgliederorganisation „Nein zur EG“ umgewandelt und trägt seit 1994 den heutigen Namen „Nein zur EU“ (Nei til EU). Der organisatorische Sammlungsprozess der Bewegung in den sechziger Jahren war im Hinblick auf die neue Anti-EU-Bewegung nicht erforderlich. Sowohl der Informationsausschuss als auch „Nein zur EG/EU“ repräsentierten von Anfang an eine breite Koalition von EU-Gegnern in einer eigenständigen Bewegungsorganisation. „Nein zur EU“ wiederholte und übertraf sogar den Mobilisierungserfolg der Volksbewegung von 1972. Im Verlauf von drei Jahren bis zum EU-Referendum im November 1994 schlossen sich Nei til EU über 140.000 Mitglieder an. In einem Land mit insgesamt 4,3 Millionen Einwohnern organisierte die Anti-EU-Bewegung damit fast 5% aller Wahlberechtigten und war deutlich größer als die traditionell dominierende politische Kraft Norwegens, die sozialdemokratische Arbeiderpartiet. Ebenso wie in Schweden sank die organisierte Anhängerschaft der norwegischen Bewegung nach der Volksabstimmung, doch mit über 25.000 Mitgliedern (1999) bewegt sich Nei til EU nach wie vor auf einem stabilen und hohen Niveau. Ohne Übertreibung kann die Entwicklung von Nei til EU als einer der größten Mobilisierungserfolge außerparlamentarischer Opposition in der europäischen Nachkriegsgeschichte eingestuft werden.
Schon diese knappe Überblicksdarstellung macht deutlich, dass die skandinavischen Anti-EU-Bewegungen nicht als vorübergehende Protestinitiativen abgetan werden können, die labile Nein-Allianzen im Vorfeld von Europa-Referenden mobilisieren. Wenn die Anti-EU-Bewegungen mehr als single issue-Gruppe darstellen, die diffuse Ängste und Sorgen in der Bevölkerung für temporäre politische Ziele instrumentalisieren, ist es von Interesse, eine kritische Analyse der politischen Vorstellungswelt von EU-Gegnerschaft vorzunehmen. Soweit „Euroskepsis“ als eine Ideologie im Sinne eines weltanschaulichen Systems von Überzeugungen verstanden werden kann, stellt sich zugleich die Frage nach einem geeigneten Untersuchungsansatz, um das politische Denken skandinavischer EU-Gegner erfassen und ihren innenpolitischen Einfluss auf die europapolitischen Entscheidungsprozesse insbesondere seit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 erklären zu können. Im nächsten Abschnitt ist daher zu fragen, inwieweit diese Fragestellung im Lichte der neueren politikwissenschaftlichen Forschung in Skandinavien beantwortet werden kann.
Das Verhältnis zur EU ist in Norwegen, Schweden und Dänemark das wichtigste innenpolitische Konfliktthema der neunziger Jahre gewesen. Die skandinavische politikwissenschaftliche Forschung hat sich entsprechend eingehend mit den verschiedenen europapolitischen Debatten und Entscheidungen auseinandergesetzt. Vor allem die dänischen Referenden über den Maastricht-Vertrag 1992/93 sowie die Volksabstimmungen über die EU-Mitgliedschaft in Norwegen und Schweden 1994 sind Gegenstand umfassender Untersuchungen im Rahmen der Meinungs- und Abstimmungsforschung gewesen.6 Die europapolitische Willensbildung im Vorfeld der Referenden ist ebenfalls dargestellt und analysiert worden,7 wobei hier medienwissenschaftliche Arbeiten besonders zahlreich sind.8 Einen dritten Schwerpunkt stellen schließlich Untersuchungen über die Europapolitik der politischen Parteien in Skandinavien dar. Überwiegend handelt es sich hierbei um Aufsätze über einzelne Parteien oder Parteigruppen,9 doch inzwischen sind auch erste Gesamtdarstellungen erschienen.10
Wie im letzten Abschnitt deutlich geworden ist, können die außerparlamentarischen Bewegungen gegen die europäische Integration auf eine zum Teil vierzigjährige Kontinuität zurückblicken und insofern als etablierte politische Akteure skandinavischer Europapolitik betrachtet werden. Dessen ungeachtet hat sich die skandinavische Politikwissenschaft bislang kaum mit den außerparlamentarischen Organisationen anti-integratorischer Opposition beschäftigt.11 Insbesondere die Nein-Bewegungen sind entweder gar nicht oder nur kursorisch im Rahmen von Meinungs- und Abstimmungsanalysen thematisiert worden.12 Es mangelt folglich nicht nur an empirischen Einzelfallstudien, sondern vor allem an vergleichenden Analysen der außerparlamentarischen Oppositionsbewegungen Skandinaviens. Das Wissen über das politische Denken und Handeln skandinavischer EU-Gegner ist begrenzt, weil bisher noch keine Untersuchungen durchgeführt worden sind, die die Organisationen der außerparlamentarischen EU-Opposition direkt zum Gegenstand der Analyse gemacht haben.
Nach dem gegenwärtigen Stand der politikwissenschaftlichen Forschung lassen sich vor allem Annahmen über das sozio-kulturelle und parteipolitische Profil skandinavischer Integrationsgegnerschaft machen, die auf den Erkenntnissen der Meinungs- und Parteienforschung beruhen. Übereinstimmend belegen zunächst die verschiedenen Abstimmungsanalysen die Relevanz einer Reihe sozio-ökonomischer Merkmale für das individuelle Stimmverhalten. In allen skandinavischen Ländern steigt danach die Wahrscheinlichkeit einer EU-negativen Einstellung und Stimmabgabe in Abhängigkeit von Wohlstand, Bildung und Prestige. Auch Geschlecht und Alter korrelieren auf signifikante Weise mit der Abgabe einer Nein-Stimme. Zugespitzt lässt sich im Lichte der Meinungsforschung ein Bild des idealtypischen skandinavischen EU-Gegners zeichnen. Dabei würde es sich um eine ältere Frau mit geringer Ausbildung handeln, die als einfache Angestellte im öffentlichen Dienst arbeitet und im Allgemeinen wenig an Politik interessiert ist. Höchst untypisch wäre dagegen ein Mann mittleren Alters und höherer Bildung, der ein gutes selbständiges Einkommen bezieht und politisch interessiert ist. In der Grundtendenz entfaltet sich EU-Gegnerschaft also in Bevölkerungsschichten, die sich im Unterschied zum gesellschaftlichen Establishment als ‚einfache Leute’ betrachten würden. Es sind mit anderen Worten Frau Nordmann, Frau Svensson und Frau Jensen, die der Umfragestatistik zufolge die gesellschaftliche Basis der Anti-EU-Bewegungen bilden.
Hinzu kommen überall Gruppen, die sich sogar eher als ‚Anti-Establishment’ definieren würden. EU-Gegnerschaft ist besonders ausgeprägt in unterschiedlichen gesellschaftlichen Randmilieus, beispielsweise in streng protestantischen Gemeinschaften in einigen Regionen Norwegens und Schwedens oder in der Enthaltsamkeitsbewegung, die vor allem in Schweden eine große organisierte Anhängerschaft besitzt. EU-kritische Einstellungen finden sich nicht nur verstärkt in religiös, ethisch oder sprachlich fundierten Minderheiten, die man in Norwegen unter dem Begriff der „Gegenkulturen“ zusammenfasst, sondern auch in alternativen und meist Urbanen Milieus wie z. B. der Umwelt- oder Friedensbewegung. Insgesamt wird hier eine sozio-kulturelle Konfliktstruktur zwischen ‚oben’ und ‚unten’ oder besser Zentrum und Peripherie der skandinavischen Gesellschaften deutlich.
Untermauert wird dieser Eindruck durch die ebenfalls ähnlichen politischen Akteurskonstellationen in den EU-Debatten. Unter den politischen Parteien sind es regelmäßig kleinere Parteien an den jeweiligen Rändern des ideologischen Spektrums, die in jedem Fall bei den EU-Referenden im Nein-Lager wiederzufinden sind. Während rechtsradikale Parteien in Skandinavien eine schwache organisatorische Basis und folglich begrenzte politische Relevanz haben, sind linkssozialistische oder (ex-)kommunistische Parteien in den Parlamenten aller Länder seit Jahrzehnten etabliert. EU-Entscheidungen erscheinen daher auf parlamentarischer Ebene als Rechts-Links-Konflikte, in denen sich traditionell pro-integratorische bürgerliche Parteien und traditionell anti-integratorische Linksparteien gegenüber stehen. In der Mitte steht die Sozialdemokratie, die in allen skandinavischen Ländern die jeweils mit Abstand größte politische Partei darstellt und darüber hinaus in Norwegen und Schweden über Jahrzehnte eine hegemoniale Machtstellung eingenommen hat. Die sozialdemokratischen Parteien sind sowohl in Norwegen und Schweden als auch in Dänemark gespalten. Obwohl die Parteiführungen bei den Volksabstimmungen 1992–1994 für die EU-Integration eintraten, organisierte sich stets erhebliche parteiinterne Opposition. Und trotz Ja-Empfehlungen der sozialdemokratischen Partei- und gegebenenfalls Regierungsspitzen stimmte in mehreren Fällen die Mehrheit der Parteianhänger gegen die EU. Anti-integratorische Opposition setzt also ideologisch am linken und rechten Rand des politischen Spektrums an, wird parteipolitisch nur auf der linken Seite sichtbar, reicht aber durchgängig bis in das sozialdemokratische Zentrum skandinavischer Politik.
Auf diesem Hintergrund sind im politikwissenschaftlichen Forschungsdiskurs drei Hypothesen zu erkennen, die sich als Faktoren der Mobilisierung anti-integratorischer Opposition in Skandinavien interpretieren lassen, nämlich eine (a) Links-Rechts-These sowie zwei Zentrum-Peripherie-Thesen in (b) ideologischer und (c) territorialer Ausprägung. Alle drei Ansätze können empirisch untermauert werden, weisen jedoch im Hinblick auf ihre Erklärungskraft anti-integratorischer Opposition jeweils auch Grenzen auf.13
Konflikte über die europäische Integration manifestieren einen Links-Rechts-Gegensatz in den skandinavischen Gesellschaften, wobei die Ablehnung der EU von rechts nach links zunimmt. Meinungsumfragen und Abstimmungsanalysen haben für alle drei Länder festgestellt, dass die parteipolitische Orientierung der Wähler signifikant mit ihrer Einstellung in Integrationsfragen korreliert. Etwa 3/4 der Anhänger linker Parteien, d. h. Sozialisten und (Ex-)Kommunisten, stimmen regelmäßig gegen die EU-Integration, während die Wähler bürgerlich-konservativer Parteien in gleichem Maße für die EU votieren. Dazwischen befinden sich die jeweiligen sozialdemokratischen Parteien, deren Wählerschaft in allen drei Ländern ziemlich genau zur Hälfte gespalten ist. In Schweden ist die Links-Rechts-Polarisierung der Europapolitik relativ am stärksten ausgeprägt, in Norwegen am schwächsten. Die europapolitischen Konflikte sind indes nur teilweise als Links-Rechts-Konflikte zu analysieren, weil die Anhängerschaften sowohl rechter Parteien als auch anderer Parteien, die in der Mitte des ideologischen Spektrums zu verorten sind, von diesem Muster deutlich abweichen. Aus diesem Grund ist die Links-Rechts-These um zwei weitere Erklärungsansätze zu ergänzen.
Obwohl die Zustimmung zur EU-Integration von links nach rechts wächst, nimmt sie unter den Anhängern derjenigen Parteien, die am rechten Rand des ideologischen Spektrums der skandinavischen Staaten einzuordnen sind, wiederum signifikant ab. Dies gilt vergleichsweise am stärksten für Dänemark, wo die Anhänger der Fremskridtsparti bzw. ihrer Nachfolgeparteien sowie der Dansk Folkeparti ebenso klare Gegner der EU-Integration sind wie die Anhänger der Linksparteien. Auch die Wähler der norwegischen Fortschrittspartei haben mehrheitlich gegen die EU gestimmt. Schweden bildet in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme, weil rechtsorientierte Wähler hier in höherem Maße durch die Partei der Moderaterna integriert werden als dies durch vergleichbare Parteien in Dänemark (Konservativ Folkeparti) und Norwegen (Høyre) der Fall ist. Die Anhänger der kleinen rechtsradikalen Partei Ny Demokrati jedoch, die Anfang der neunziger Jahre im Stockholmer Reichstag mit einigen Abgeordneten vertreten war, erwiesen sich in Europafragen ebenso gespalten wie die dänischen und norwegischen Fortschrittlichen. Insofern liegt die These nahe, dass europapolitische Konflikte zur Polarisierung zwischen der demokratischen Mitte und beiden Rändern des ideologischen Parteienspektrums führen. Allerdings muss auch diese These qualifiziert werden, da sich die Parteien der Mitte und ihre Anhänger in EU-Fragen sehr unterschiedlich positionieren, womit schließlich auf den dritten Erklärungsansatz verwiesen ist.
Der Zentrum-Peripherie-Gegensatz kann nicht nur in ideologischer, sondern auch in territorialer Dimension verstanden werden. Die Abstimmungsanalysen der skandinavischen EU-Referenden weisen aus, dass neben der parteipolitischen Orientierung auch der Wohnort ausschlaggebend für die Haltung zur EU-Integration ist. Vor allem in Norwegen ist dieses Muster besonders deutlich zu beobachten. Dort sind in den dicht bevölkerten und Urbanen Landesteilen, allen voran in der Hauptstadtregion Oslo, die EU-Befürworter zum Teil deutlich in der Mehrheit, während die Zahl der EU-Gegner mit wachsendem geografischen Abstand zum Zentrum und sinkender Bevölkerungsdichte zunimmt. Die Hochburgen anti-integratorischer Opposition liegen in der nördlichen Peripherie Norwegens, wo 1994 zum Teil über 90% gegen die EU-Mitgliedschaft stimmten. Die geographische Stimmverteilung im EU-Referendum 1994 ist zudem fast identisch mit dem Ergebnis des EG-Referendums 1972.
Der Vorteil der territorialen Zentrum-Peripherie-These liegt darin, dass sie eine plausible Erklärung für Unterschiede zwischen den skandinavischen Ländern bietet. Abweichende territoriale Stimmmuster korrespondieren vor allem mit unterschiedlichen Einstellungen zur EU unter den Beschäftigten im Landwirtschaftssektor und spiegeln sich zudem auf parteipolitischer Ebene wider. In Norwegen und Schweden gelten die jeweiligen Zentrumsparteien als Interessenvertreter der ländlichen Peripherie. Während sich jedoch die norwegische Senterpartiet (SP) 1994 als radikalste Anti-EU-Partei profilierte und ihre Vorsitzende Anne-Enger Lahnstein zur „Nein-Königin“ avancierte, befürwortete die schwedische Centerpartiet (C) trotz gespaltener Parteibasis den EU-Beitritt Schwedens. In Schweden trat in der Folge beim EU-Referendum zwar auch ein Gefalle zwischen pro-integratorischen Mehrheiten in Stockholm und anderen Großstadtregionen und anti-integratorischen Mehrheiten vor allem in den nördlichen Distrikten des Landes zutage. Das geographische Stimmmuster war aber nicht nur weit weniger deutlich ausgeprägt als in Norwegen, sondern könnte angesichts der europapolitischen Haltung der schwedischen Zentrumspartei auch als ausschlaggebender Faktor für die mehrheitliche Zustimmung zum EU-Beitritt zu werten sein, die im Norwegen der EU-feindlichen SP nicht zustande kam.
Ein gravierender Nachteil der territorialen Zentrums-Peripherie-These ist jedoch der Fall Dänemarks. Hier existiert zwar keine Zentrumspartei wie in Schweden oder Norwegen, doch die Mitteparteien mit bedeutender ländlich-agrarischer Basis gehören zu den ausgewiesen pro-integratorischen politischen Kräften Dänemarks. Zudem ist das geografische Stimmmuster in Dänemark genau entgegengesetzt zu dem in den beiden Nachbarländern. Dänische EU-Gegnerschaft ist im Großraum Kopenhagen konzentriert, wo bislang bei allen Referenden mehrheitlich gegen europäische Integrationsvorhaben gestimmt worden ist. Die ländlichen Regionen auf dem Festland dagegen sind ganz überwiegend pro-integratorisch orientiert. Die Unterstützung der EU-Integration seitens der ländlich-agrarischen Bevölkerung und ihrer politischen Interessenvertreter hat zwar wie in Schweden dazu beigetragen, eine nachhaltige gesellschaftliche Mehrheit für die EG-Mitgliedschaft sicherzustellen, die Siege der EU-Opposition bei den Referenden über den Maastricht-Vertrag und die Währungsunion zeigen jedoch, dass gesellschaftliche Akzeptanz der EU-Integration in der räumlichen Peripherie Skandinaviens nicht ausreicht. Zumindest in Dänemark war es primär das Zentrum des Landes, das erfolgreich gegen die EU mobilisiert hat.
Die Europapolitik ruft in Skandinavien eigentümliche politische Konstellationen hervor, die sich in keiner der geläufigen Kategorien der Wahl- und Parteienforschung angemessen abbilden lässt. Die Links-Rechts-These sowie die verschiedenen Varianten der Zentrum-Peripherie-These können weder für sich genommen noch in ergänzender Kombination eine befriedigende Erklärung für die relative Stärke anti-integratorischer Widerstände in der Region bieten. Der Hauptgrund dafür liegt m.E. in der zu starken analytischen Orientierung auf die Peripherien der politischen Systeme Skandinaviens, seien dies die parteipolitisch-ideologischen, sozio-kulturellen oder territorialen Ränder der Gesellschaften. Wir sollten vielmehr umgekehrt vermuten, dass Integrationsgegnerschaft auch im Zentrum der skandinavischen Gesellschaften entsteht und gerade dort politischen Einfluss entfaltet. Gleichzeitig werden die Bewegungen der außerparlamentarischen EU-Opposition von der politikwissenschaftlichen Forschung weitgehend vernachlässigt. Ihre bessere theoretische und empirische Erfassung kann uns jedoch helfen, neue analytische Perspektiven auf die Zentrum-Peripherie-Problematik im Rahmen integrationspolitischer Prozesse in Skandinavien zu entwickeln.
Die EU bildet eine eigenständige und zunehmend relevante politische Konfliktlinie in Skandinavien. Doch trotz der Fülle von Forschungsarbeiten zu Einzelaspekten der europapolitischen Entscheidungsprozesse der letzten Jahre zeichnet sich in der politikwissenschaftlichen Literatur keine Synthese im Sinne einer Gesamtinterpretation skandinavischer „Euroskepsis“ ab. Mit Blick auf die außerparlamentarische EU-Opposition schlage ich daher einen weiterführenden Ansatz zur Erklärung skandinavischer Integrationsgegnerschaft vor. Meine These ist, dass im Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über die Integration in Europa ein Konflikt ideeller Natur steht, der am besten mit Bezug auf die Theorie des Föderalismus zu verstehen ist.
Der Föderalismus ist der älteste theoretische Ansatz in der politikwissenschaftlichen Diskussion über die europäische Integration. Als die ersten bedeutenden Theoretiker des Föderalismus gelten die nordamerikanischen Verfassungsväter Alexander Hamilton, John Jay und James Madison, die 1787/88 in den Federalist Papers erfolgreich um die Zustimmung der dreizehn konföderierten Staaten zur Gründung der Vereinigten Staaten warben. Ausgehend von den USA wurde der Föderalismus auch in anderen Ländern zum leitenden Prinzip nationalstaatlicher Verfassungen, insbesondere in Kanada und Australien, der Schweiz sowie später auch in Deutschland und Österreich. Weil die theoretischen Konzepte des Föderalismus unzertrennlich mit der realhistorischen Entwicklung föderaler Staatswesen verbunden sind, werden ihnen zum Teil lediglich „beschreibende und im empirisch-analytischen Sinne vortheoretische Eigenschaften“14 zugesprochen. Tatsächlich rekurriert der Föderalismus in erster Linie auf die Prinzipien eines gesellschaftspolitischen und staatlichen Ordnungsmodells und erst in zweiter Linie auf die integrativen Prozesse, mit denen die Bildung staatlicher oder überstaatlicher Föderationen erklärt werden könnte. Im europäischen Kontext ist das Föderalismus-Konzept demnach durch eine gewisse Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits dient es zur Bezeichnung eines Theorieansatzes, der vornehmlich zur historischen und national-vergleichenden Analyse politischer Systeme dient, der aber auch auf den europäischen Integrationsprozess angewendet wird. Andererseits verbindet sich mit dem Begriff eine spezifische politische Bewegung, die für die Konstituierung einer staatlichen Föderation Europas eintritt und den Integrationsprozess vor allem im ersten Nachkriegsjahrzehnt unmittelbar geprägt hat. Wir müssen daher zwei Dimensionen des europäischen Föderalismus unterscheiden: zum einen den historischen Beitrag der politischen Föderalismus-Bewegung zum europäischen Integrationsprozess und zum anderen das integrationstheoretische Argument, das daraus im Hinblick auf die EWG/EG/EU entwickelt worden ist.
Die politische Bewegung der europäischen Föderalisten basiert auf zwei Säulen. Zum ersten waren bereits in der Zwischenkriegszeit verschiedene Organisationen wie die „Paneuropäische Bewegung“ entstanden, die den politischen Zusammenschluss zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ forderten.15 Die zweite Säule der europäischen Föderalismus-Bewegung bildete sich während des Zweiten Weltkrieges in den Reihen verschiedener nationaler anti-faschistischer Widerstandsbewegungen, die sich im Hinblick auf die Gestaltung einer europäischen Nachkriegsordnung auf das Ziel einer „Föderalen Union der europäischen Völker“ verständigten.16 Diese beiden föderalistischen Strömungen mündeten nach Kriegsende in die „Europäische Bewegung“. Die 1948 in Den Haag gegründete Organisation dehnte sich schnell auf 29 europäische Staaten aus und zählte führende Staatsmänner wie den britischen Premierminister Winston Churchill oder den französischen Sozialistenführer Léon Blum zu ihren Mitgliedern. Der föderalistischen Bewegung gelang es, in den ersten Nachkriegsjahren einen ideologische und nationale Grenzen überschreitenden „grounds-well of support for European unity“17 zu erzeugen. Symptomatisch für die zeitgenössische Aufgeschlossenheit gegenüber föderalistischen Ideen unter den politischen Eliten Europas war die Zürcher Rede Churchills vom September 1946, in der er dazu aufrief, „a kind of United States of Europe“ zu schaffen. Obwohl darauf hingewiesen werden muss, dass Churchill explizit nicht an eine Teilnahme Großbritanniens dachte, sah er im Aufbau einer europäischen Föderation gleichwohl den einzigen Weg, damit sich der Kontinent „in peace, in safety, and in freedom“ entwickeln könnte.18
Die europäische Föderalismus-Bewegung entfaltete signifikanten Einfluss auf das Zustandekommen der ersten Integrationsvorhaben. Dies ist nicht nur für die Errichtung des Europarates 1948 zu konstatieren, sondern auch für die vertraglichen Anfange supranationaler Zusammenarbeit im kleineren Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), die sich in der Folge zur institutionellen Keimzelle der späteren EWG/EG/EU entwickelte. Bezüglich der Frage möglicher politischer Widerstände gingen die Föderalisten davon aus, dass das größte Hindernis auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa bei den europäischen Regierungen und politischen Eliten zu suchen war, die ihre im Schutz souveräner Nationalstaatlichkeit historisch gewachsenen Machtpositionen wahrscheinlich mit allen Mitteln verteidigen würden. Die Föderalisierung Europas musste daher in Form einer demokratischen Bewegung ‚von unten nach oben’ durchgesetzt werden. Die Föderalisten setzten ihre politischen Hoffnungen vorrangig auf den demokratischen Souverän der europäischen Bürger.
Diese Hoffnung bestätigte sich nicht. Aufgrund innerer Zerrissenheit scheiterten die europäischen Föderalisten zum einen in dem Versuch, eine transnationale Volksbewegung aufzubauen, die für den notwendigen politischen Druck der Basis auf die nationalen Regierungen hätte sorgen können. Zum anderen schien sich die politische Konstellation im ersten Nachkriegsjahrzehnt allmählich umzukehren. Die politischen Eliten ließen sich offenbar stärker von föderalistischem Gedankengut inspirieren als die Masse der europäischen Bürger. Deutlich wurde dies am Schicksal der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Der EVG-Plan, der Anfang der fünfziger Jahre unter der Federführung des französischen Verteidigungsministers René Pleven ausgearbeitet wurde, war ein dezidiert föderalistisches Integrationsprojekt, insofern mit dem Aufbau einer gemeinsamen Armee und militärischer Infrastruktur die Europäisierung traditioneller Kernbereiche nationalstaatlicher Souveränität angestrebt wurde. Gleichzeitig war die EVG als konstitutioneller Nukleus einer politischen Union gedacht, deren institutionelle Ausgestaltung parallel zum Pleven-Plan in Angriff genommen wurde. Während sich die sechs Regierungen der späteren Gründerstaaten der EWG trotz schwieriger Verhandlungen auf die Unterzeichnung des EVG-Vertrages einigen konnten, scheiterte das Vorhaben im August 1954 am negativen Votum der französischen Nationalversammlung. Nicht eine nationale Regierung, sondern eine direkt vom Volk legitimierte Parlamentsmehrheit brachte das föderalistisch inspirierte Integrationsprojekt einer übernationalen Verteidigungsgemeinschaft zu Fall. Die EVG-Initiative erwies sich als dramatische Niederlage für die europäische Föderalismus-Bewegung, denn mit dem politischen Misserfolg verlor das föderalistische Paradigma auch generell an Anziehungskraft. Zumindest auf der Ebene des öffentlichen politischen Diskurses wurde der europäische Integrationsprozess fortan und in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr an föderalistischen, sondern an funktionalistischen Vorstellungen ausgerichtet. Der europäische Föderalismus galt weitgehend als praktisch gescheitertes Integrationskonzept.19
Erst mit dem in den 1980er Jahren lancierten Plan einer Europäischen Union und mehr noch mit dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Einheit 1990 kehrte föderalistisches Gedankengut wieder in den öffentlichen Diskurs auf europäischer Ebene zurück. Die historischen Parallelen zu den Jahren nach 1945 sind durchaus bemerkenswert. Das Ende des Kalten Krieges versetzte Europa gewissermaßen erneut in eine Nachkriegszeit, womit auch wieder die Frage einer grundlegenden Neuordnung des europäischen Staatensystems aufgeworfen war. Die Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht wurden auf diesem Hintergrund besonders von Seiten der deutschen und französischen Regierung im vollen Bewusstsein der historischen Tragweite dieser kritischen Phase in der Entwicklung Europas geführt, denn es ging, wie etwa Bundeskanzler Helmut Kohl später wiederholt betonte, um politische Weichenstellungen, die über Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert entscheiden würden. Die Gründung der EU war infolgedessen nicht nur als Komplement zur wiedergewonnenen Souveränität eines vereinten Deutschlands und damit als Schritt zur endgültigen Lösung der deutschen Frage in Europa gedacht. Maastricht war darüber hinaus auch mit dem ausdrücklichen Versuch verbunden, das Projekt einer europäischen Föderation zu verwirklichen oder zumindest unumkehrbar auf den Weg zu bringen.
Im Unterschied zum EVG-Plan dreieinhalb Jahrzehnte zuvor wurde die EU-Gründung nicht zum politischen Desaster, doch ebenso wenig zu einem föderalistischen Erfolg auf ganzer Linie. Zum einen konnte der Terminus „Föderation“ auf britischen und dänischen Widerstand hin nicht wie vorgeschlagen in der Präambel des Maastrichter Vertragsentwurfs verankert werden.20 Zum anderen zog auch die begrifflich entschärfte Fassung des EU-Vertrages bekanntermaßen eine schwere Ratifikationskrise nach sich.21 In den drei größten Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und Großbritannien geriet der Maastricht-Vertrag an den Rand des Scheiterns. In Dänemark kam es schließlich zur Ablehnung im Referendum vom Juni 1992, womit der gesamte Maastricht-Prozess nach den Buchstaben europäischen Rechts eigentlich Schiffbruch erlitten hatte und nur dank eines kreativen Krisenmanagements auf dem Europäischen Gipfel in Edinburgh Ende 1992 gerettet werden konnte. Wie im Fall der EVG in den fünfziger Jahren war die föderalistische Ambition der Maastrichter EU-Gründung nicht nur Ausfluss historisch einzigartiger Rahmenbedingungen, sondern zugleich Auslöser bedeutender anti-integratorischer Widerstände in den Mitgliedstaaten.
Der Föderalismus scheint wie kein zweites Paradigma der europäischen Integration dazu geeignet, innerstaatliche Opposition auf den Plan zu rufen. Immer dann, wenn bei der Durchführung einzelner Integrationsvorhaben föderalistische Motive zum Vorschein kommen, manifestieren sich im Gegenzug signifikante anti-integratorische Widerstände auf gesellschaftlicher Ebene, die sich unter Umständen auch gegen den Führungsanspruch nationaler politischer Eliten Geltung verschaffen. Die Anti-EU-Bewegungen in Dänemark, Schweden und Norwegen erscheinen somit als das Resultat eines dialektischen Wirkungszusammenhangs der europäischen Integration. Je mehr es der Bewegung der europäischen Föderalisten gelingt, ihre Idee eines föderalstaatlich vereinigten Europa auch in den Reihen der politischen Eliten der europäischen Nationalstaaten durchzusetzen, desto stärker mobilisiert der Föderalismus auch politische Gegenkräfte in den Gesellschaften dieser Länder. Die außerparlamentarische EU-Opposition in Skandinavien wäre aus dieser Perspektive dann als eine antiföderalistische Oppositionsbewegung zu charakterisieren. Der analytische Erkenntnisgewinn einer solchen Charakterisierung wird deutlich, wenn wir den Föderalismus nicht allein als Ideologie einer europäischen Integrationsbewegung betrachten, sondern auch als theoretisches Konzept der europäischen Integrationsentwicklung.
Angesichts des Scheiterns der Föderalismus-Bewegung im Zusammenhang mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verschwand die föderalistische Idee wie gesehen lange Zeit aus dem europäischen politischen Diskurs. Da das föderalistische Integrationskonzept offenkundig im Ansatz stecken geblieben war, galten auch föderalismustheoretische Erklärungen des Integrationsprozesses als obsolet. Dennoch wurde der Föderalismus immer wieder neu entdeckt und in die politikwissenschaftliche Europa-Debatte eingeführt.22 Die theoretische Relevanz des Föderalismus wird dabei zumeist hergeleitet aus der Kritik an konkurrierenden Theorieansätzen, die Integration lediglich als pragmatische ökonomische Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten verstehen und die Europäische Gemeinschaft daher hauptsächlich als institutionellen Rahmen politischer Entscheidungsprozesse (policy-making) analysieren. Theoretiker des Föderalismus halten dieser Auffassung zum einen entgegen, dass Ideen in der Politik wichtig sind, weil sie politische Wirklichkeit verändern, und dass zum anderen die EWG/EG/EU weniger als politischer Prozess denn als ein organisches Ganzes begriffen werden muss. Die politisch-ideologische Dimension überstaatlicher Einigungsprozesse einerseits und die institutionelle Gewaltenteilung zwischen supranationaler und nationaler Ebene andererseits bilden die beiden Kernelemente im föderalistischen Verständnis von Integration.
Föderalisten verstehen die europäische Integration im Wesentlichen als einen Prozess verfassungspolitischer Deliberation, in dessen Verlauf sich zwei oder mehrere Staaten freiwillig im Rahmen einer Föderation zusammenschließen. Während Vertreter des klassischen Föderalismus noch davon ausgingen, dass die „Vereinigten Staaten von Europa“ durch einen einmaligen konstitutionellen Akt nach dem Vorbild der USA entstehen könnten, betonen neoföderalistische Theoretiker, dass eine europäische Föderation auch im Zuge eines langfristigen und evolutionären Prozesses konstituiert werden kann. Ausschlaggebend für das erfolgreiche Zustandekommen von Integration ist jedoch in jedem Fall der erklärte politische Wille der europäischen Staaten zur Schaffung neuer politischer Ordnungsstrukturen. Die Voraussetzung für die schrittweise Bildung einer Föderation Europas ist „ein durch gemeinsame kulturelle Traditionen der europäischen Nationen entstandener grundlegender Wertekonsens“.23 Dieser Wertekonsens ist die notwendige Basis für die politische Bereitschaft zum Zusammenschluss, aber nicht dessen hinreichende Bedingung. Der ausschlagende Faktor für Integration ist vielmehr ideeller Natur, also in der Föderationsidee selbst begründet. Es ist der politische Wille zur Schaffung einer europäischen Föderation, der die Integrationsdynamik auslöst und dem Integrationsprozess Richtung und Ziel gibt. Die Kernthese der Vertreter des föderalistischen Theorieansatzes lautet deshalb, dass der – föderalistisch inspirierte – politische Integrationswille im europäischen Einigungsprozess kontinuierlich wirksam ist und diesen Prozess weiter vorantreibt.24
Die Föderalismus-Theorie beinhaltet eine klare Vorstellung über den Endzustand der europäischen Integration. Integration mündet in die konstitutionelle Staatswerdung Europas. Im Anschluss an die Definition von Bohr würde Europa dann einen Staatsaufbau erhalten, „in dem sich mehrere Gliedstaaten mit einem Gesamtstaat die Erfüllung staatlicher Aufgaben teilen und dabei gegenseitig durch bestimmte Mit- oder Einwirkungsmöglichkeiten beeinflussen“.25 Dies führt gemäß föderalistischer Auffassung aber nicht zur Auflösung der Nationalstaaten im Sinne politisch-administrativer Einheiten, sondern zu ihrer Umwandlung in Gliedstaaten im Rahmen der europäischen Föderation. Die Etablierung eines Bundesstaates Europa würde eine Neuverteilung der Zuständigkeiten und Kompetenzen zwischen der gesamteuropäischen und der gliedstaatlichen Gestaltungsebene erfordern, also die Einführung eines Systems der vertikalen Gewaltenteilung unter Wahrung der Eigenstaatlichkeit der Föderationsmitglieder.
Das föderalismustheoretische Konzept der europäischen Integration bietet keine explizite Problematisierung anti-integratorischer Opposition. Gleichwohl lassen sich deren Konturen im Wege von Umkehrschlüssen beschreiben. Da pro-integratorisch theoretisch gleichgesetzt ist mit dem politischen Willen zur Schaffung supranationaler Ordnungsstrukturen, bedeutet anti-integratorisch im Gegenzug das Festhalten an nationalen Ordnungsstrukturen. Politische Opposition gegen die europäische Integration ist folglich ihrem Wesen nach nationalistisch. Anti-integratorische Opposition entsteht aus der ideellen Polarität zwischen Supranationalismus und Nationalismus, die sich in der politischen Wirklichkeit im verfassungspolitischen Grundsatzkonflikt zwischen europäisch gesinnten Föderalisten und national orientierten Anti-Föderalisten manifestiert. Welchen konkreten Gehalt supranationalistisches und nationalistisches Denken hat, kann mit dem föderalismustheoretischen Konzept indes nicht weiter präzisiert werden. Dem notwendigen politischen Willen zur Föderationsbildung können verschiedene Motive zugrunde liegen, etwa die Aussicht auf eine effizientere Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt. Angesichts der zu starken Abweichungen in der historischen Entwicklung des Föderalismus als Staatsform sind solche ideellen Begründungen jedoch stets an den jeweils spezifischen historischen Kontext gebunden. Im Fall Europas weisen die Vertreter der Föderalismus-Theorie zwar die empirische Relevanz föderalistischer Ideen für den europäischen Integrationsprozess nach, stellen aber keine Hypothesen über die Ursachen pro-integratorischer Willensbildung auf. Der integrationstheoretische Ansatz des Föderalismus betont die Bedeutung politisch-ideologischer Handlungsmotive im Integrationsprozess, betrachtet deren Inhalte aber als historisch kontingent.
Auf diesem Hintergrund zeichnet sich ein theoretisches Konzept politischer Opposition im Prozess der europäischen Integration ab, das gerade im Kontext der skandinavischen Länder neue analytische Perspektiven eröffnet. Der Föderalismus konzeptualisiert die Integration Europas als einen verfassungspolitischen Grundsatzkonflikt, in dessen Mittelpunkt die Idee der Vereinigten Staaten von Europa steht. Dies bedeutet zunächst, dass auch die politischen Gegner der EU in föderalistischen Kategorien denken, wenngleich dies auf reflexive Weise, also durch negativen Bezug zur Idee einer europäischen Föderationsbildung geschieht. EU-Gegner sind Anti-Föderalisten, doch auch Anti-Föderalisten sind im Grunde Theoretiker des Föderalismus.26 Noch wichtiger aber ist die dabei zugrunde liegende Annahme, dass Integrationsgegnerschaft ebenso wie umgekehrt die europäische Föderalistenbewegung eine ideelle Mobilisierungsgrundlage hat. Die Absage an jede konstitutionelle Entwicklung, die in Richtung einer Föderation Europas oder, um einen geläufigen Begriff aus dem anti-integratorischen Diskurs in Skandinavien aufzugreifen, in Richtung eines europäischen „Superstaats“ weist, bildet nach föderalismustheoretischer Vorstellung die primäre Motivation anti-integratorischer Opposition.
Im Anschluss an das theoretische Verständnis des Integrationsprozesses als verfassungspolitischer Konflikt um die Föderalisierung Europas lassen sich Hypothesen über die Entstehung und relative Stärke von „Euroskepsis“ in Skandinavien entwickeln, die über den gegenwärtigen Stand der politikwissenschaftlichen Forschung hinausweisen. Wie gesehen ist die EU-Opposition in Dänemark, Schweden und Norwegen so heterogen zusammengesetzt, dass diese weder mit Links-Rechts- noch mit Zentrum-Peripherie-Gegensätzen befriedigend erklärt werden kann. Verstehen wir hingegen die Anti-EU-Bewegungen ihrem Wesen nach als anti-föderalistisch, können wir auch erkennen, was diese vielgestaltige Opposition im Kern zusammenhält und woher sie ihre vergleichsweise breite gesellschaftliche Unterstützung gewinnt.
Zum einen können wir annehmen, dass die Ablehnung der Vereinigten Staaten von Europa genau jene Idee darstellt, die die EU-Opposition über alle anderen Vorbehalte hinweg eint. Der Anti-Föderalismus ist nicht nur geeignet, in horizontaler Sicht extrem gegensätzliche politische Orientierungen der jeweiligen ideologischen Ränder der politischen Systeme zu verbinden, sondern er kann ebenso vertikale politische Konfliktlinien überwinden, d. h. auch Unterstützung durch die skandinavischen Eliten im Zentrum der politischen Systeme gewinnen. Der Anti-Föderalismus bildet anders formuliert den kleinsten gemeinsamen Nenner der in jeder anderen Hinsicht heterogenen Anti-EU-Bewegungen.
Daran anknüpfend können wir zum zweiten annehmen, dass die Mobilisierung anti-integratorischer Opposition in Skandinavien deshalb relativ erfolgreich ist, weil der Anti-Föderalismus eine ideelle Rekrutierungsbasis mit gesamtgesellschaftlicher Ausstrahlung darstellt. Wie die Meinungsforschung durchgängig ausweist, werden Visionen der europäischen Einigung unter föderalen Vorzeichen von der überwältigenden Mehrheit der Dänen, Schweden und Norweger prinzipiell abgelehnt, auch und gerade von relevanten Teilen der sogenannten Establishments. Wahre „Europäer“ im Sinne der europäischen Föderalismus-Bewegung bilden in den skandinavischen Staaten relativ kleine Minderheiten, denn selbst die Regierungs- und Parteiführungen, die kontinuierlich und nachdrücklich für eine stärkere Integration in die EU werben, würden im gleichen Atemzug dementieren, dass ihre europapolitische Grundhaltung einer föderalen Staatsbildung Europas Vorschub leistet oder leisten soll. Doch gerade weil es so viele politische Akteure in Skandinavien gibt, die sich für „Europäer“ halten, im Grunde aber wie europäische Anti-Föderalisten denken, ist die anti-integratorische Opposition in diesen Ländern so stark.
In diesem Beitrag ist eine kritische Bestandsaufnahme der neueren politikwissenschaftlichen Forschung in Skandinavien über die Integration von Dänemark, Schweden und Norwegen in die Europäische Union vorgenommen worden, um nach Erklärungsansätzen für das Phänomen skandinavischer „Euroskepsis“ zu suchen. Im Ergebnis sind meines Erachtens zwei Defizite festzustellen. Auf empirischer Ebene mangelt es an Untersuchungen, die die skandinavische EU-Opposition unmittelbar zum Gegenstand der Analyse machen. Auf theoretischer Ebene fehlen darüber hinaus Hypothesen, die eine umfassende und konsistente Erklärung für die relativ erfolgreiche Mobilisierung anti-integratorischer Opposition in Skandinavien bieten können. Im Lichte dieses Befundes habe ich dann einen alternativen Erklärungsansatz entwickelt, der an das integrationstheoretische Konzept des Föderalismus anschließt und folglich politische Opposition im Prozess der Integration Europas primär als anti-föderalistisch versteht. Danach ist die Grundlage skandinavischer Integrationsgegnerschaft auf ein Motiv ideeller Natur zurückzuführen, das im negativen Bezug zur Idee der Vereinigten Staaten von Europa zum Ausdruck gelangt. Für die These des Anti-Föderalismus spricht, dass sie besser als die vorhandenen Erklärungsansätze geeignet ist, zum einen die Gründe für den Zusammenhalt der sozio-politisch heterogenen EU-Opposition und zum anderen deren gesellschaftliches Mobilisierungspotential zu erfassen.
Selbstverständlich konnte die Formulierung eines föderalistischen Theorieansatzes zur Untersuchung anti-integratorischer Opposition in Skandinavien im vorgegebenen Rahmen nur in Gründzügen erfolgen. Zusätzliche Präzisierungen und Abgrenzungen zu konkurrierenden Erklärungsansätzen sind erforderlich, insbesondere zu Ansätzen, die anti-integratorische Opposition in erster Linie mit Hilfe der Theorien der politischen Ökonomie und ökonomischen Interdependenz zu analysieren suchen. Gleichwohl erscheinen weitere Anstrengungen in diese Richtung lohnenswert, weil uns das föderalismustheoretische Konzept neue Perspektiven auf die Entstehung und Entwicklung politischer Opposition im Prozess der europäischen Integration aufzeigt und damit ein Problem zu durchdringen verspricht, das nicht nur in Skandinavien manifest geworden ist, sondern Europa überhaupt zunehmend beschäftigen wird.
1 Für eine kompakte und problemorientierte Darstellung zur Integrationsentwicklung Skandinaviens seit dem Zweiten Weltkrieg siehe: Schumacher, Tom: Die nordische Allianz in der Europäischen Union. Opladen 2000, 103–122.
2 Annerledeslandet („Das Andersland“) ist zu einem über Norwegen hinaus bekannten Begriff geworden. Ursprünglich bezieht es sich auf ein gleichnamiges Gedicht des norwegischen Schriftstellers Rolf Jacobsen. Der Titel dieser Ode an die besondere Eigenart Norwegens und des Norwegischen wurde zuerst in den Debatten der siebziger und später auch der neunziger Jahre zum Schlagwort anti-integratorischer Opposition.
3 Zur dänischen Entscheidung gegen den Euro siehe: Schumacher, Tom und Carsten Schymik: „Dänemark nach dem Euro-Referendum: Hintergründe und neue Perspektiven der Europapolitik“. In: Politische Studien. 51 (2000), 30–42.
4 Nehmen wir über Skandinavien hinaus den gesamten Norden in den Blick, zeigt sich eine in Europa einzigartige Bandbreite individuell abgestufter Integrationsbeziehungen. Auf der einen Seite steht Finnland als das gegenwärtig einzige nordische Land, das in jeder Hinsicht voll in den europäischen Integrationsprozeß eingebunden ist. Auf der anderen Seite stehen Island, das zwar dem EWR angehört, aber im Unterschied zu Norwegen nie eine EG/EU-Mitgliedschaft in Betracht gezogen hat, und schließlich Grönland, das als einziges Land Europas 1985 aus der EG austrat.
5 Die Volksbewegung „Nein zur EU“ fordert eine neue Volksabstimmung über den Austritt Schwedens aus der EU und fuhrt zu diesem Zweck seit längerem eine Unterschriftenaktion durch. Das Ziel sind 500.000 Unterschriften, die der schwedischen Regierung aus Anlass der ersten EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2001 übergeben werden sollen. Nach gegenwärtigem Stand sind bereits über 480.000 Unterschriften gesammelt worden.
6 Vergleichend: Jenssen, Anders Todal, Pertti Pesonen und Mikael Gilljam: To Join or Not to Join. Three Nordic Referendums on Membership in the European Union. Oslo 1998; Norwegen: Jenssen, Anders Todal und Henry Valen (Red.): Brussel midt imot. Folkeavstemningen om EU. Oslo 1995; Schweden: Gilljam, Mikael und Sören Holmberg: Ett knappt ja till EU. Väljarna och folkomröstningen 1994. Stockholm 1996; Dänemark: Siune, Karen, Pelle Svensson und Ole Tonsgaard: Det blev et nej. Aarhus 1992; Idem: Fra et nej til et ja. Aarhus 1994.
7 Zu Norwegen siehe: Knudsen, Bård Bedrup (Hg.): Den nye Europa-debatten. Partiene og Norges forhold til EF mot år 2000. Drammen 1989. Zu Schweden: Gidlund, Gullan: Partiernas Europa. Stockholm 1992. Strandbrink, Peter: EU-retoriken. Teman i den svenska debatten om EU-medlemskap. Lund 1997. Vergleichend: Kite, Cynthia: Scandinavia Faces EU: debates and decisions on membership 1961–1994. Umeå 1996.
8 Für Schweden u.a.: Wallin, Ulf: Vad fick vi veta? En studie i svenska nyhetsmediers rapportering åren före folkomröstningen om EU. Göteborg 1994; Svensson, Jan und Rolf Hedquist: Den problematiska informationen – Dagspressens bevakning av EU-frågan inför folkomröstningen. Stockholm 1996. Für Norwegen u.a.: Ramberg, Inge: EU-striden i tabloidformat. En innholdsanalyse av nyhets- og bakgrunnsartiklene om EU-saken i Dagbladet og VG foran folkeavstemningen om norsk medlemskap i Den europeiske union, 28. November 1994. Universitetet i Trondheim: Institutt for sosiologi og statsvitenskap 1995; Nilsen, Tonje Raaen: Elitedominans i EU-strid? Et innholdsanalytisk perspektiv på NRKs og TV2s nyhetsdekning av EU-striden 24.10.–27.11.94. Universitetet i Trondheim: Institutt for sosiologi og statsvitenskap 1996; Vegsund, Brite: Skillelinjer og holdningsdimensjoner i EU-debatten – analyse av åtte norske avisers dekning av folkeavstemningen om medlemsskap i Den Europeiske Union. Universitetet i Oslo: Institutt for medier og kommunikasjon 1996.
9 So vor allem zur Sozialdemokratie: Lindström, Ulf: Euro-Consent, Euro-Contract, or Euro-Coercion? Scandinavian Social Democracy, the European Impasse, and the Abolition of Things Political. Oslo 1993; oder zu linkssozialistischen Parteien: Christensen, Dag Arne: „The Left-Wing Opposition in Denmark, Norway and Sweden: Cases of Euro-phobia?” In: West European Politics. 19 (3) (1996), 525–546; Idem.: “Foreign Policy Objectives: Left Socialist Opposition in Denmark, Norway and Sweden”. In: Scandinavian Political Studies. 21 (1) (1998), 51–70.
10 Vergleichend: Svåsand, Lars und Ulf Lindström: „Scandinavian political parties and the European Union“. In: Gaffney, John (Ed.): Political parties and the European Union. London 1996, 205–219; für Norwegen: Saglie, Jo: Standpunkter og strategi. EU-saken i norsk partipolitikk, 1989–1994. Universitetet i Oslo: Institutt for statsvitenskap 2000; für Schweden: Widfeldt, Anders: “Sweden and the European Union: Implications for the Swedish party system”. In: Miles, Lee (Ed.): The European Union and the Nordic Countries. London 1996, 101–116.
11 Die einzige Monographie zum Thema erschien 1982 und analysiert die norwegische Volksbewegung im Zeitraum 1961–1972, siehe: Bjørklund, Tor: Mot strømmen. Kampen mot EF 1961–1972. Oslo 1982. Für Dänemark findet sich ein längerer Aufsatz, in dem die Entwicklung der dänischen Anti-EG-Bewegung bis zum Ende der achtziger Jahre beschrieben wird, in: Rasmussen, Søren Hein: Sære Alliancer. Politiske bevægelser i efterkrigstidens Danmark. Odense 1997, 63–121.
12 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine Teiluntersuchung des norwegischen Surveys, die sich mit den Haltungen und dem sozialen Hintergrund insbesondere von Mitgliedern verschiedener Ja- und Nein-Organisationen beschäftigt, darunter auch von Mitgliedern von Nei til EU, siehe: Jenssen, Anders Todal, Kathrine L. Moen, Inge Ramberg, Kristen Ringdal und Arve Østgaard: Medlemsundersøkelsen: Holdninger og sosial bakgrunn blant medlemmer i Nei til EU, Europabevegelsen og Sosialdemokrater mot EU – Dokumentasjon. Universitetet i Trondheim: Institutt for sosiologi og statsvitenskap 1994. Eine zumindest in Ansätzen ausführliche Beschreibung der organisatorischen und politischen Entwicklung der schwedischen Nein-Bewegung findet sich in: Jarlbro, Gunilla und Lars Palm: EU-kampanjernas anatomi. Stockholm 1996.
13 Vgl. zum Folgenden auch: Bjørklund, Tor: Om folkeavstemninger. Norge og Norden 1905–1994. Oslo 1997.
14 Schaffner, Urs: Vereinigte Staaten von Europa? – Der Einfluss von externen Faktoren auf die Integrationsentwicklung von neun Internationalen Staatlichen Organisationen in Europa. Bern 1993,26.
15 Gründer und langjähriger Präsident der 1923 gegründeten Paneuropa-Bewegung war der österreichische Graf Richard N. Coudenhove-Kalergi. Ihren größten Erfolg erzielte die Bewegung 1929, als der französische Außenminister Aristide Briand in einer Rede vor dem Völkerbund anregte, eine „Art föderatives Band“ zwischen den Völkern Europas zu schaffen, und die Pariser Regierung im Jahr darauf ein Memorandum über die „Organisation einer europäischen Bundesordnung“ vorlegte. Diese und andere föderalistische Initiativen blieben jedoch angesichts des heraufziehenden Faschismus und Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren im Ansatz stecken. Vgl. Foerster, Rolf H. (Hg.): Die Idee Europa 1300–1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung. München 1963, 226–244.
16 Intellektueller Vordenker und politischer Führer der föderalistisch gesinnten europäischen Widerstandsbewegungen war der Italiener Altiero Spinelli, der maßgeblich an der Formulierung der beiden zentralen programmatischen Deklarationen – das Ventotene Manifest (1941) und das Genfer Dokument (1944) – mitwirkte. Vgl. Pistone, Sergio: „Altiero Spinelli and the Strategy for the United States of Europe“. In: Nelsen, Brent F. und Alexander C-G. Stubb (Eds.), The European Union: Readings on the Theory and Practice of European Integration. Boulder 1994, 69–75.
17 Dinan, Desmond: Ever Closer Union? An Introduction to the European Community. Houndmills 1994, 12.
18 Churchills Zürcher Rede ist abgedruckt in: Nelsen, Stubb 1994, wie Fußnote 16, 5–9, beide Zitate von S. 6.
19 Vgl. O’Neill, Michael: The Politics of European Integration: a reader. London 1996.
20 Sbragia, Alberta M.: „Thinking about the European Future: The Uses of Comparison“. In: Idem. (Hg.): Euro-Politics. Institutions and Policymaking in the „New“ European Community. Washington, D.C. 1992, 257–291, insb. 258 einschl. Fn. 2 m.w.L.
21 Siehe Dinan 1994, wie Fußnote 17, 183–193.
22 Zu nennen sind hier vor allem die klassischen Arbeiten von Etzioni, Amitai: Political Unification. A Comparative Study of Leaders and Forces. New York 1965; Friedrich, C.J.: Europe – an emerging nation? New York 1969; sowie von Burgess, Michael: Federalism and European Union: Political Ideas, Influences and Strategies in the European Community, 1972–1987. London 1989.
23 Kohler-Koch, Beate und Martin Schmidberger: „Integrationstheorien“. In: Nohlen, Dieter (Hg.): Lexikon der Politik. Band 5: Die Europäische Union, hgg. von Beate Kohler-Koch und Wichard Woyke, München 1996, 152–162, hier 158.
24 Vor allem Burgess (wie Fußnote 22) versucht in seiner Studie über die Entwicklung der EG 1972–1987 den Nachweis zu führen, daß „federal ideas, influences and strategies have been an ever-present, indeed integral, part of the European Community’s continuous political and constitutional development“ (1). Seine These belegt er u.a. am Beispiel Jean Monnets, einem der Architekten der Integration Europas. Monnet richtete sein politisches Wirken bewusst an funktionalistischen Zielen aus und gilt daher vielfach als gleichsam idealtypischer Gegensatz zu Altiero Spinelli, einem bekennenden Föderalisten der ersten Stunde und späterem EG-Kommissar. Burgess zeigt allerdings auf, dass Monnet trotz seines politischen Pragmatismus stets zugleich ein dezidierter Anhänger der Idee einer europäischen Föderation war. Monnet und Spirelli repräsentierten demnach keinen unvereinbaren Widerspruch, sondern eher „The Two Faces of Federalism“ (so lautet der Titel des einschlägigen Kapitels in Burgess, 43–63).
25 Bohr zitiert nach: Walkenhorst, Heiko: Die Föderalisierung der Europäischen Union – Möglichkeiten und Grenzen im Spannungsfeld der drei politischen Gestaltungsebenen EG/EU, Nationalstaaten, Regionen. Oldenburg 1997, 16.
26 Eine illustratives Beispiel für föderalistisches Denken von Anti-Föderalisten sind die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag. Einerseits wurde wie bereits erwähnt der Terminus „Föderation“ aus dem Vertragsentwurf gestrichen, weil der Begriff in Dänemark und vor allem in Großbritannien als das „böse F-Wort“ politisch tabuisiert ist. Andererseits drängten dieselben Regierungen statt dessen auf das Einfügen des Begriffs „Subsidiarität“ in den EU-Vertrag. Das Subsidiaritätsprinzip freilich ist ein genuines Strukturmerkmal föderaler Verfassungen, das zur Regelung der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten notwendig ist. Doch selbst die erklärten Gegner einer europäischen Föderation betrachten das Subsidiaritätsprinzip nicht als das „böse S-Wort“, sondern eher als einen der wenigen verbliebenen Hebel, um die Europäisierung des Nationalstaats zurückzudrehen.