The Norwegian school history since the Second World War can be characterised as a rolling reform. The discourses on school reform in Norway are determined by the discussion on unity and equality. Two vast phases indicate the developments in the 20th century. In the first reform phase an obligatory comprehensive school (enhetsskole) was built up in the social democratic welfare state Norway. In the second reform cycle this comprehensive school – grunnskole – was prolonged in duration (10 years) and the secondary school – videregående skole – got connected. It is plausible and possible to speak in terms of an at least 12-year unity school system. Almost all pupils (98.8 per cent) from the grunnskole change to the videregående skole.
Mit den Bildungsreformen Reform´94 und Reform´97 wurde am Ende des 20. Jahrhunderts in Norwegen die dritte Welle der rollenden Schulreform zum Abschluss gebracht. Ausgangspunkt für die erste Reformwelle war die Schulentwicklung der Vorkriegszeit. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden abschließende Erweiterungen vorgenommen, wohl weit wichtiger waren aber die Vereinheitlichungsbestrebungen bezüglich des Schulsystems. Die obligatorische Grundschule und die weiterführende Ausbildung wurden stärker aufeinander bezogen.
Die in den siebziger Jahren beginnende und sich bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinziehende Bildungsexpansion zeigte deutlich die Schwächen der vorhergehenden Reformphasen auf. In der Anfang der neunziger Jahre anlaufenden dritten Reformwelle wurden die zehnjährige Grundschule (grunnskole) und die weiterführende Ausbildung (videregående skole, drei Jahre) so stark aufeinander bezogen, dass von einem mindestens zwölfjährigen Einheitsschulsystem gesprochen werden kann. Nahezu alle Schüler (98,8 Prozent) wechseln von der grunnskole an die videregående skole.
Nachdem das Schulsystem Norwegens unter maßgeblicher Einwirkung sozialdemokratischer Ideen erweitert worden war, erfolgte dessen Koordination. Dabei waren die Reformen zur Grundschul- und zur weiterführenden Bildung der Idee der Einheitsschule verpflichtet.
Norwegen erlebte seinen Aufstieg unter die modernen Industrienationen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Nachkriegsperiode war geprägt durch kontinuierliches Wachstum – staatlich geplant und reguliert. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung wurden während der siebziger Jahre unter dem norwegischen Festlandssockel große Mengen Erdöl und Erdgas entdeckt. Die industrielle Ausbeutung dieser Ressource ermöglichte die langfristige Sicherung des Wohlfahrtsstaates.
Nach 1945, wie auch davor, existierte keine starke bürgerliche Gesellschaftsschicht, die in der Lage gewesen wäre, die politische und wirtschaftliche Führung des Landes zu übernehmen. Diese Aufgabe erfüllten die Arbeiderparti (DNA) und die ihr nahestehenden Gewerkschaften. Die Industrialisierung des Landes wurde besonders auf Initiative der Arbeiderparti hin betrieben, sie förderte den geplanten Ausbau der Industrie und eine Ausweitung der industriellen Kapazitäten unter dem Aspekt von Rationalisierung und Effektivisierung. Grundlegendes Ziel war für die DNA weiterhin „ein sozialistisches Norwegen“1 – allerdings vor dem Hintergrund der Industrialisierung. Ziel war der Aufbau von Großbetrieben auf der Grundlage natürlicher Ressourcen. Diese Maßnahmen bildeten die Basis für das rasche industrielle Wachstum in Norwegen zwischen 1945 und 1961. Das Bruttosozialprodukt stieg in diesem Zeitraum jährlich um etwa 5,1 Prozent im Industriesektor.2 Der wirtschaftliche Aufschwung des Landes steigerte die Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften.
Im Widerspruch zur propagierten Ideologie etablierte sich der Staat zu Beginn der fünfziger Jahre im industriellen Sektor und eine markante Wende trat ein: Er nahm Aufgaben der Regulierung und Kontrolle der Industrie wahr. Seit den sechziger Jahren ist er Hauptanteilseigner der größten norwegischen Betriebe.3 Das Modernisierungsprogramm der norwegischen Industrie benötigte eine große Anzahl an Arbeitskräften. Durch die Rationalisierungsprozesse in der Landwirtschaft wurden die dafür notwendigen Menschen für die Tätigkeit in den industriellen Zentren freigestellt. Große Bewirtschaftungsflächen und Genossenschaften entstanden. Nachhaltig wurde so die Bevölkerungsdichte der peripheren Gebiete verringert.
Ausgangspunkt für diese Entwicklung war die zweifache Auslegung des “Regulierungsstaates”. Während der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts und in der unmittelbaren Nachkriegszeit herrschten Ideen vor, die den Staatskapitalismus als Übergangsstadium zum Sozialismus begriffen. Als Alternative zu Staatssozialismus und freier Marktwirtschaft wurde in sozialdemokratischen Kreisen die angewandte Regulierungsideologie verstanden.
Infolge dessen gab die Arbeiderparti ihre planwirtschaftlichen Bestrebungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu Beginn der fünfziger Jahre auf.4 Die Wirtschaft wurde nicht mehr als Verwalter des privaten Eigentums betrachtet, sondern als Produktionskapital und damit als funktionaler Teil von Gesellschaft, was jedoch nicht hieß, dass sich der Staat kontrollierende und beeinflussende Maßnahmen vorenthielt. Vielmehr sollten die Lebensumstände der Menschen durch die Beschränkung der Verfügungsgewalt über Besitz und Produktionsmittel verbessert werden. Die ideologische Wende in der Arbeiderparti bewirkte die Erneuerung des Verständnisses über Gesellschaft: Respekt vor dem Privaten und Individuellem wurde zur Grenze staatlicher Eingriffe. Auf politischer Ebene vollzog sich der Wandel unter der Prämisse des Konsens zwischen den konkurrierenden Parteien.
Zwei zentrale Themen bestimmten die Geschichte des norwegischen Schulsystems in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Umformung der folkeskole (achtjährige obligatorische Grundschule) in eine konsolidierte, für alle Kinder obligatorische Einheitsschule sowie die Einführung eines national verbindlichen Lehrplans. Dadurch wurde die Umgestaltung der schulischen Funktionsweise und Ziele angestoßen. Damit die Schule gegenüber der Gesellschaft ihre Leistungen und Funktionen (Bildung, Erziehung und Selektion der Schüler) weiterhin erbringen konnte, wurde ihre Bindung an die Vermittlung enzyklopädischen Wissens getrennt.
Mittels der Einführung arbeitspädagogischer Prinzipien und der Vermittlung von allgemeiner Bildung konnte den Schülern der Übertritt in das gesellschaftliche Leben (weitere Ausbildung, berufliche Tätigkeit) ermöglicht werden. Dabei tauchte die Frage auf, wie die gestiegenen Differenzierungserwartungen der Gesellschaft durch die Einführung der Einheitsschule auf demokratischem Weg gelöst werden konnten. Ein nicht differenzierender Unterricht an der Einheitsschule war, um den Eigenschaften und Wünschen des Kindes sowie um den gesellschaftlichen Differenzierungsanforderungen zu entsprechen, ausgeschlossen. Vielmehr musste der Unterrichtsprozess durch den Lehrer auf pädagogischer Ebene differenziert werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Etablierung des staatlichen Einheitsschulsystems abgeschlossen werden, und Phasen der Umformung und Ergänzung markierten das Schulsystem in der Nachkriegszeit. In den ersten Nachkriegsjahren wurde das Bildungswesen zunächst wiederaufgebaut, und die in der Vorkriegszeit begonnenen Reformen wurden fortgeführt.
Das Ende des Zweiten Weltkrieges markierte in Norwegen den Übergang in eine neue politische Epoche. Um die Nachkriegsfolgen zu überwinden, agierten die politischen Parteien (Arbeiderparti, Høyre, Venstre) zunächst auf einer gemeinsamen Plattform (fellesprogrammet). Ohne die überparteiliche Kooperation wäre der Erfolg des Wohlfahrtsstaates nicht möglich gewesen. Mit dem zunehmenden Wohlstand der Gesellschaft und der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit des Landes mehrten sich Argumente, welche auf die Notwendigkeit der Integration aller sozialen Gruppen in die Gesellschaft verwiesen, dies unter dem Aspekt des sozialen Ausgleichs und der Gleichstellung aller – unabhängig von geographischem, sozio-ökonomischem und ethnischem Hintergrund. Alle sozialen Kräfte kamen darin überein, dass Bildung und Erziehung dafür besonders zu fördern seien. So wies der “Kulturbrief” (kulturbrevet) aus dem Jahr 1945 darauf hin, dass die Durchführung notwendig gewordener pädagogischer Reformen nicht erfolgte und die Schulen immer noch von Strukturen und Inhalten gekennzeichnet waren, welche den Nützlichkeitsaspekt betonten:
Wenige oder niemand bedachte, dass die Schule auch die Aufgabe hat, die Jugend in eine ideelle Wertewelt einzuweihen, welche die innere Unabhängigkeit gegenüber der Willkür des Schicksals, Widerstandskraft gegenüber dem Leiden und Reichtum durch Glück vermitteln kann. Die Schule fand statt ohne Geist, ohne Mitte und Ziel und ohne lebendes Bildungsideal.
Mit der Weiterführung der Reformen und dem Ausbau des gesamten Bildungswesens wurde durch die Regierung 1947 der Koordinierungsausschuss – Samordningsnemda – beauftragt. Dessen Aufgabe war bereits im fellesprogrammet skizziert worden:
Das ganze Schulwesen muss zusammengefasst werden. Alle Teile, von der grunnskole bis hin zur höchsten Ausbildung, gleiten natürlich ineinander in Bezug auf die praktischen oder theoretischen Schulformen. Es muss ein beratendes Organ für das gesamte Schulwesen geschaffen werden, geleitet durch ein eigenes Unterrichtsministerium.6
Um die gestellten Aufgaben zu erfüllen, erarbeitete das Gremium Pläne zum weiteren Ausbau aller Schultypen, der Lehrerbildung und der Schulverwaltung. Im letzten Vorschlag des Ausschusses wurde ein deutliches – und den gesamten zukünftigen Diskurs des Bildungswesens bestimmendes – Signal gesetzt. Demnach sollte die Schulzeit über das 8. Schuljahr hinaus ausgedehnt und realskole sowie framhaldskole zu einer gemeinsamen Schule verbunden werden. Schulversuche sollten die optimale Lösung aufzeigen.7 Intern erfolgte eine pädagogische Differenzierung in zwei Ausbildungsprofile, welche der Berufsvorbereitung oder der gymnasialen Ausbildung dienten.8 Das Ziel, welches der Ausschuss verfolgte, war offensichtlich: die Einführung der neunjährigen obligatorischen folkeskole.
Dieser Impuls wurde durch das Kirchen- und Unterrichtsministerium im Änderungsvorschlag zu den Land- und Stadtschulgesetzen9 aufgegriffen, und zurückgehend auf die Gleichstellungsforderung zwischen Land- und Stadtschulen (Georg Sverdrup 1884) wurde durch die Gesetzesänderung die Schulzeit für die Landschulen von 4350 auf 6360 Stunden jährlich ausgedehnt.10 Zusätzlich wurde der Schulbetrieb zusammengefasst: Schulen wurden an zentral gelegenen Orten eingerichtet, ihre Anzahl von 2920 (1950/51) auf 1709 (1960/61) reduziert.11 Dadurch verlor die Schule allerdings ihre kulturelle Bedeutung als zentraler Versammlungsort, indes konnte sie intensiver für den Unterricht verwendet werden.
Zwischen 1954 und 1959 durchgeführte Schulversuche zeigten tendenziell auf, dass viele Schüler das auf die höhere Bildung vorbereitende Schulprofil wählten. Allerdings war erwartet worden, dass die Schüler sich eher an den traditionellen Berufsstrukturen ihrer Lebensumwelt orientieren würden.12 Um die Chancengleichheit bezüglich des Zugangs zu weiterführender Bildung zu gewährleisten, sprachen sich Vertreter aus allen politischen Lagern für die Einführung der neunjährigen obligatorischen Einheitsschule aus.13 In der folgenden Auseinandersetzung zwischen dem Verband norwegischer Lehrer und dem Kirchen- und Unterrichtsministerium um die bildungspolitische Führung14 legte das Ministerium 1958 überraschend einen Gesetzesvorschlag zur Reform der folkeskole vor.15 Auf heftige Kritik stieß die Tatsache, dass die Vorlage nicht wie üblich durch ein öffentliches Komitee ausgearbeitet worden war.16
Im Storting wurde der behandelte Vorschlag im April 1959 als “Gesetz über die folkeskole” beschlossen17. Er strebte die Stärkung der Stellung der Landschulen sowie die Möglichkeit der Durchführung der neunjährigen Einheitsschule an18, und die Landschulen wurden den Stadtschulen bezüglich des Lehrplans und der Länge des jährlichen Unterrichts gleichgestellt. Den Mitgliedern der kommunalen Verwaltung wurde die Aufgabe übertragen, das örtliche Schulkomitee (skolestyret) zu wählen. In der Praxis bedeutete dies, dass Pfarrer nicht mehr selbstverständlich dessen Mitglieder waren.
Als Ziel schulischer Bildung und Erziehung an der folkeskole wurde in Paragraph 1 formuliert:
Die Schule hat gemeinsam mit dem Elternhaus die Aufgabe, daran zu arbeiten, dass die Schüler gute Gesellschaftsmenschen werden. Sie soll der christlichen und moralischen Erziehung dienen, die Eigenschaften und Anlagen entwickeln und gutes Allgemeinwissen vermitteln, so dass sie nützliche Menschen, sowohl geistig wie auch körperlich, werden können.
Die enorme Bedeutung, die dieser Paragraph hatte, zeigte sich darin, dass Bildung und Erziehung – staatlich definiert – Aufgaben der sozialen Institution Schule und der Eltern wurden. Auf diese Weise wurde das Handeln der Schule determiniert. Zudem zeigte sich, dass Schule zu einer säkularen Institution geworden war: Die Bedeutung der christlichen und moralischen Erziehung wurde der Integration in die moderne Gesellschaft untergeordnet. Auf die Integrationsfunktion der Schule verweist die Wahl des Wortes “Gesellschaftsmensch”, welches den “Staatsbürger” ersetzte. Es war offenbar der Eigenwert der Aneignung von Kultur erkannt worden. Dem wurde in der Hinwendung zum lernenden Schüler Rechnung getragen.
Auch scheinen die eingeführten Verfahren auf zwei Entwicklungslinien hinzuweisen: Schule wurde erstmalig als eine öffentliche, der Gesellschaft unterstellte und professionell handelnde Institution verstanden und dementsprechend legitimiert. Weiterhin bestand, um die Disparitäten zwischen Zentrum und Peripherie ausgleichen zu können, die Notwendigkeit der stärkeren Zentralisierung des Bildungswesens. Ehedem autonome Schulen wurden Bestandteil eines integrierten Systems. Während der Jahre 1959 bis 1969 stand die konkrete Ausformung der neunjährigen Einheitsschule im Zentrum des pädagogischen Diskurses.
Fragen hinsichtlich der notwendigen Veränderung des Curriculums und der Differenzierung wurden im „Lehrplan für den Versuch der neunjährigen Schule“ (Læreplan for forsøk med 9-årig skole) erörtert. Durch ihn wurden die Prinzipien der Arbeitspädagogik und der individuellen Betreuung fortgeführt. Eine Folge der Forderung des Schulgesetzes nach vermehrter Allgemeinbildung und intensiver Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe Norwegens war die Einführung des neuen Fachs Heimatkunde (Heimkunnskap). Wie der Begriff bereits andeutet, führte der Unterricht in das lokale Umfeld der Kinder (Familie, lokale Umgebung, häusliche Arbeit) ein19 und sollte durch das Lernen am (lokalen) Beispiel das Lernen des Lernens ermöglichen. Im Interesse der nationalen und gesellschaftlichen Integration wurden die Lehrstoffe der Fächer Geschichte, Gesellschaftskunde und Geographie im samfunnsfag (Gesellschaftsfach) zusammengefasst.20
Eine wohl wesentliche Voraussetzung, um die begonnene äußere Vereinheitlichung der Schule durch die faktische Eingliederung der weiterführenden Ausbildung (real- und framhaldsskole) in die folkeskole zu sichern, war die Differenzierung der Schule auf organisatorischer und pädagogischer Ebene. Dadurch sollte der schulische Unterricht den unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Schüler besser angepasst und die individuelle Entwicklung ermöglicht werden. Unter organisatorischem Aspekt teilte der vorläufige Lehrplan die neunjährige Schule auf horizontalem Niveau in die sechsjährige barneskole (Kinderschule) sowie die daran anschließende dreijährige ungdomsskole (Jugendschule).
Noch während Lehrplanmodelle für die 1959 festgelegte Schulstruktur erprobt wurden, wurde ein Komitee – Folkeskolekomiteen av 1963 – eingesetzt. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, das Modell einer neunjährigen obligatorischen Einheitsschule landesweit einzuführen. Neben der neunjährigen Schule sollte es den 13- bis 17-jährigen Schülern weiterhin möglich sein, real- oder framhaldsskole zu besuchen.21 Das Lov om grunnskolen (Gesetz zur grunnskole)22 wurde 1969 beschlossen, seine tatsächliche landesweite Durchsetzung zog sich jedoch noch bis zu Beginn des Schuljahres 1974/75 hin.23 De facto wirkte bis zu diesem Zeitpunkt das Schulgesetz aus dem Jahr 1959. Das Ziel, die Schaffung einer allgemeinbildenden Einheitsschule, konnte nicht realisiert werden. Parallel dazu wurde der Normalplanutvalget 1967 (Lehrplanausschuss) zur Überarbeitung des Lehrplans eingesetzt, und zu Beginn des Schuljahres 1974/75 an der grunnskole eingeführt. Der reformierte Lehrplan war aufgrund der neuen Schulstruktur notwendig geworden. Als Bildungsmittel erlebten die praktischen Fächer und somit die praktische Arbeit eine Renaissance.
Inhaltlich und strukturell wurde durch das neue Schulgesetz die Schulstruktur aus dem Jahr 1959 manifestiert. Dass Schule als funktionaler Teilbereich der modernen Gesellschaft – bestimmt durch Schulverwaltung, Schulpolitik, Pädagogik, Lehrer, Institutionen und Schüler –, verstanden wurde, offenbarte sich in der Änderung der Schulbezeichnung: Aus der folkeskole wurde die grunnskole. Als gesellschaftliche Basis inkludiert sie grundsätzlich alle Kinder der Gesellschaft.
Intern wurde die grunnskole in zwei Stufen, die sechsjährige Kinderstufe (barnetrinn) und die sich unmittelbar anschließende dreijährige Jugendstufe (ungdomstrinn) gegliedert.24 Aufgrund des Versagens unterschiedlicher Kurspläne25 wurden für alle Stufen Kernfächer eingeführt. Die getroffenen Veränderungen wiesen eine deutlich niedrigere Form der vertikalen Differenzierung auf. Vielmehr konnten die Schüler aus Alternativen und somit ihren Interessen und Fähigkeiten entsprechend wählen. Neben der Vermittlung des bis dato gültigen Fächerkanons wurde der Schule nun zusätzlich der Auftrag der “ästhetischen, praktischen und sozialen Erziehung”26 übertragen, sie wurde beauftragt, die “Schüler für das Leben zur rüsten”,27 indem sie auf “Arbeit und Beruf, auf das gesellschaftliche Leben und auf das Familienleben”28 vorbereitete. Damit wurde die pädagogische Verantwortung für Bildung und Erziehung der Schule übertragen.
Aufgrund der Vorgaben durch das Schulgesetz entwickelte der Normalplanutvalg 1967 einen Rahmenlehrplan. Dieser wurde 1974 als „Mønsterplan for grunnskolen“29 (M74, Musterlehrplan für die grunnskole.) in Norwegen eingeführt. Er setzte die Entwicklung der Einheitsschule nach innen fort: Die unterschiedlichen Lehrpläne für Stadt und Land wurden aufgehoben und waren landesweit bindend.30 So war unter anderem durch die Konzeption des Mønsterplan als Rahmenlehrplan vorgesehen, dass die Lehrer an den Schulen und die lokalen Gremien der Schulsteuerung einer Kommune eigenständig die Inhalte, die Arbeitsweisen und Strukturen des schulischen Unterrichts festlegten. Lediglich Verwaltungs- und Kontrollfunktionen wurden durch das Bildungsministerium wahrgenommen. Durch die Zentralisierung wurde autonomes pädagogisches Handeln möglich, welches die Autonomie der Schule stärkte. Wurde Schule bisher eine Zielfunktion zugeschrieben, so wies der erneuerte Lehrplan ein erweitertes Verständnis auf. Schulischer Unterricht erreicht demnach keine Ziele, sondern erfüllt eine erzieherische Aufgabe. Konsequenterweise wurden durch den Plan keine von den Schülern zu erreichende Kenntnisstandards festgelegt, vielmehr war der Lehrer aufgefordert, den Unterricht den Anlagen und Interessen der Schüler anzupassen.
Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich das höhere Schulwesen in Norwegen im wesentlichen aus der real- und framhaldsskole sowie dem gymnas zusammen, und bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein wurden in der höheren Bildung keine Veränderungen vorgenommen, obwohl die Zahl der Schüler, welche real- oder framhaldsskole besuchten, im Gegensatz zum gymnas, abnahm. Trotz einer fehlenden gesetzlichen Regelung nahm der Besuch der neunjährigen folkeskole rasch zu. Real- und framhaldsskole wurden so verdrängt. Ihrem Erfolg standen gleichwohl Unterschiede in Bezug auf die Partizipation an der höheren Bildung gegenüber. Während dieser Periode nahmen 51 Prozent der folkeskole-Abgänger die Möglichkeit der weiterführenden Bildung wahr, und Jugendliche aus den ländlichen Regionen besuchten dabei das gymnas in deutlich geringerem Umfang gegenüber der Vergleichsgruppe aus den urbanen Zentren (8 Prozent gegenüber 12 Prozent31). Das erklärte Ziel der Arbeiderparti, die Schaffung des für alle gleichen Zugangs zu (Aus-)Bildung, war noch nicht umgesetzt worden. Noch beruhte die weiterführende Bildung auf dem Gesetz zur höheren Bildung aus dem Jahr 1935. Die Reformen der folkeskole – der Idee der Einheitsschule verpflichtet – verlangten nach einer Reform der höheren Schulen. Ergebnis einer ersten Reformphase war die stärkere Zentralisierung der Entwicklung und Administration im höheren Schulwesen auf fylke-Niveau.32 Das neue Schulgesetz33 rief strukturelle Änderungen als Anpassungsprozess hervor. So wurde die höhere Bildung zur weiterführenden Schulbildung umgeformt: Die Schulzeit am gymnas wurde auf drei Jahre festgesetzt. Weiterhin war der Besuch der zwei- oder dreijährigen realskole möglich.
Nachdem in den Kommunen mit der Einführung und Umsetzung des Gesetzes zur neunjährigen Schule begonnen worden war und die Jugendstufe (ungdomstrinn) Aufgaben der framhalds- und realskole übernommen hatte, musste die weiterführende Bildung den Veränderungen angepasst werden. Doch nicht allein strukturelle Gründe erforderten eine Reform. Diese wurde ebenso durch die steigende Schülerzahl am gymnas notwendig. A. O. Telhaug zeigte,34 dass die Kapazitäten der weiterführenden Schulen nicht ausreichten, um alle Schüler aufzunehmen, welche die neunjährige Schule beendeten und eine weiterführende Schule besuchen wollten. Mehr als 23 Prozent der Bewerber mussten abgewiesen werden.35
Die Überwindung der traditionellen Grenzen gelang dem sozialdemokratischen Steen-komitée.36 Entsprechend seiner Aufgabe schuf der Ausschuss ein Schulmodell für den Bereich der weiterführenden Ausbildung, welches sowohl berufliche Ausbildung als auch propädeutische Elemente integrierte: Dem für alle Schüler einheitlichen und verbindlichen Grundkurs folgten Aufbau- oder Spezialisierungskurse. Jeder Schüler, der beabsichtigte, ein Studium zu beginnen, sollte zwei der drei Jahre allgemein-theoretisch bildende Kurse besuchen. Ein Drittel der Schulzeit war für die berufliche Bildung vorgesehen. Diejenigen, die eine berufliche Ausbildung anstrebten, sollten zwei Drittel der Schulzeit zunächst in einem allgemeinen und im Anschluss daran in einem spezifischen Berufsbildungsprogramm unterrichtet werden. Nach zahlreichen Schulversuchen wurde das Modell als Gesetz über die weiterführende Bildung37 1974 eingeführt. Es schuf die Voraussetzung für die Auflösung der Statusunterschiede zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung,38 indem die videregående skole (weiterführende Schule) – unter diesem Begriff wurden Sekundarbildung und Berufsbildung zusammengefasst – “Berufs- und Studienkompetenz nach drei Jahren in der neuen weiterführenden Schule”39 vermittelte. Ersetzt wurde der Begriff der Hochschulzugangsberechtigung durch den der Studier- bzw. der beruflichen Kompetenz.
Die gesetzlichen Bestimmungen bezüglich des administrativen Verhältnisses wiesen eine deutliche Differenzierung aus. War zuvor das Ministerium entscheidend für die Planung und Durchführung des gymnas, so wurde den bereits bestehenden administrativen Fylke-Institutionen und der Kommune mehr Mitspracherecht eingeräumt.40 Der Rådet for videregående opplæring (Rat für weiterführende Ausbildung) ersetzte alle vorherigen administrativen Gremien.41 An diesem Punkt, wie auch zur parallel verlaufenden Arbeit am Mønsterplan (1974) zeigte sich, dass in der modernen norwegischen Schulentwicklung die wichtigsten Impulse zum großen Teil der politischen Macht des Stortings und der Regierung entzogen worden waren. Öffentliche Komitees oder Ausschüsse, zusammengesetzt aus Fachleuten, bearbeiteten ein begrenztes Aufgabengebiet.
Am Ende des 20. Jahrhunderts wurden im norwegischen Schulwesen Reformen durchgeführt, die zur Perfektionierung des Schulsystems beitrugen und so dessen Dauerhaftigkeit sicherten. Parallel wurde der systeminterne Bezug gesteigert: Einheitlichkeit nach außen und interne Anschlussfähigkeit der beiden Schultypen kennzeichnen grunnskole und videregående skole.
In den sechziger Jahren begann der Umbau und Umbruch des Arbeiterparteistaates. Auf der politischen Ebene traten immer deutlicher oppositionelle Kräfte hervor. Konkurrenten um die politische Macht waren neben der sozialdemokratischen Arbeiderparti die konservative Høyre und die links-liberale Venstre. Erstmalig, nach einer Regierungszeit von zwanzig Jahren, musste 1965 die Arbeiderparti die Regierungsmacht an eine bürgerliche Koalition abgeben. Doch hatte sich die norwegische Politik zur Schaffung sozialer Homogenität bereits soweit verselbständigt, dass “das Regime, das Gerhardsens Partei den Namen gegeben hatte, ein Leben auch ohne sozialdemokratische Minister [...]”42 führte. Als unübersichtliche Zeitepoche erwies sich das folgende Jahrzehnt, es war geprägt von der verlängerten Existenz des Arbeiterparteistaates im post-industriellen Zeitalter. Nach wie vor charakterisiert dieses Motiv den Rahmen der norwegischen Gesellschaft.
Die kulturelle Entwicklung des Landes wurde von zwei Themen bestimmt: Am Ende der siebziger Jahre wurden die Grenzen der modernen Wachstumsgesellschaft und die der rationalen gesellschaftlichen Steuerung spürbar. Die von abendländischen Paradigmen bestimmte Welt wurde vom Erklärungsverlust der modernen Industriegesellschaft und ihrer ideologischen Führung erfasst. Ständig wechselnde Fronten, eine unübersichtliche Gesellschaftssituation verursachten den gesellschaftlichen Aufbruch. Im Verlauf des Jahres 68 war die norwegische Gesellschaft von der weltweiten Basisdemokratiebewegung erfasst worden43, ökonomische und technische Revolution gingen in den demokratisch-politischen „Modernisierungsaufbruch“44 über. Ihren Höhepunkt fand die Kritik an Staat und Gesellschaft durch politische Protestbewegungen (Studentenbewegung, Frauenbewegung) in der Abstimmung über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1972. In dieser und in der folgenden (1993) wurde der EU-Beitritt von der Bevölkerung mit Mehrheit abgelehnt45. Die Sozialdemokratie Norwegens stürzte daraufhin in eine politische Krise, der die Rezession der Wirtschaft folgte. Im politischen System drückte sich diese Unsicherheit in der ersten Hälfte der achtziger Jahre im häufigen Wechsel der Regierungsmacht zwischen Sozialdemokratie und einem Bündnis konservativer Parteien aus.
Durch die kulturellen und politischen Veränderungen vollzog sich der Umbau der norwegischen Wirtschaft. Zu tragenden Elementen der norwegischen Wirtschaft wurden sowohl die Öl- als auch die technologieintensive Industrie. Die wissenschaftlich-industrielle Modernisierung verursachte seit den siebziger Jahren den Abbau von Beschäftigtenzahlen im industriellen Sektor. Parallel dazu stiegen diese im Service- und Dienstleistungsbereich, beide Bereiche zeigten ihren Bedarf an höher und besser qualifizierten Fachkräften an. Diese Problematik wurde im Bildungssystem durch Reformen des Lehrplans, Verlängerung schulischer Bildung und Erziehung und die stärkere Kopplung der grunnskole an die videregående skole gelöst.
Das Ziel der norwegischen Bildungspolitik war seit den sechziger Jahren die Schaffung der Chancengleichheit aller, ungeachtet des Geschlechts, des Wohnorts und des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergrunds. Allen Kindern sollte eine auf ihre individuellen Fähigkeiten zugeschnittene Ausbildung ermöglicht werden. Nach Abschluss der Reformen zur grunnskole und videregående skole zu Beginn der achtziger Jahre stand eine Schulentwicklung, welche das Ziel verfolgte, den Schülern mehr Wissen und mehr Kenntnisse zu vermitteln, im Vordergrund. Das Hauptaugenmerk galt daher inhaltlichen und qualitativen Aspekten der Reformmaßnahmen. Zu Beginn der neunziger Jahre wurde der Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf die Informationsgesellschaft, auf neue Technologien und der immer größeren Rolle der Wissenschaften besondere Bedeutung beigemessen.
Nach Abschluss der äußeren (strukturellen) Reformen des Schulwesens war schulischen Akteuren die Diskussion des Innenverhältnisses von Schule unter pädagogischem Aspekt möglich. Auch sank zu Beginn der achtziger Jahre die Schülerzahl in der grunnskole aufgrund der geburtenschwachen Jahrgänge, durch die finanzielle Entlastung war die Möglichkeit zum internen Umbau gegeben. Zum anderen konnte der politische Machtwechsel an die konservative Opposition (1981) nicht ohne Folgen bleiben. Indes war die folgende Zeit von Instabilität gekennzeichnet. So legte der noch von der Regierung Willoch eingesetzte grunnskoleråd (Grundschulausschuss) einen Diskussionsvorschlag über einen neuen Lehrplan46 sowie zu den Fachplänen47vor. Verbindlich sollte er als „Mønsterplan for grunnskolen.“ (Musterlehrplan für die grunnskole) M8548 eingeführt werden. Allerdings wurde die Regierung Willoch 1986 von der sozialdemokratischen Regierung unter Gro Harlem Brundtland, deren Amtszeit bis 1997 andauerte, abgelöst und der vorliegende Vorschlag erneut bearbeitet.49 Zu Beginn des Schuljahres 1987/88 lag der bis 1997 gültige Lehrplan „Mønsterplan for grunnskolen“ (Musterlehrplan für die grunnskole)50 – M87 – vor.
Kennzeichnend für den Lehrplan M87 war der Abschluss zweier Epochen. Der Lehrplan M74 war vom sozialpolitischen Gedanken der Integration des Einzelnen dominiert. Dabei wurde von der Tatsache ausgegangen, dass der gemeinsame Unterricht begabter und weniger begabter Schüler zumindest von Vorteil für weniger begabte Schüler sei. Hintergrund dieser Entwicklung war die Debatte des Arbeiterparteistaates über die Möglichkeit von Klassenunterschieden und Klassenkampf. Gerade der Wunsch nach Integration wurde durch den Lehrplan M87 bestätigt, indem darauf verwiesen wurde, dass die Wahl der Lehrstoffe abhängig von den unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler sei51. Im Musterlehrplan spiegelte sich letztlich die Entpolitisierung des Diskurses um Schule und die stärkere Hinwendung zu pädagogischen Fragestellungen52 wider.
Der revidierte Plan war Ausdruck der Priorität der pädagogischen Erneuerung. Erfahrungen und Kultur der Schüler wurden zu wichtigen Ausgangspunkten für den schulischen Unterricht, die zuvor bestehende Überbetonung der einzelnen Fächer und ihre erzieherische Wirkung wurde eingeschränkt. So baute der schulische Unterricht auf musischen, spielerischen und sprachlichen Elementen auf und stützte die Entwicklung exemplarischen Handlungswissens und die Ausbildung von Lernfähigkeit. So war der Lehrplan Ausdruck dafür, dass Schule als maßgebliche Instanz organisierter und systematischer Lernprozesse fungiert. Ihre Aufgabe liegt in der Vermittlung von Wissen und der Ermöglichung, das Lernen zu lernen.53 Im Verhältnis zum Lehrplan M74 wurde durch den M87 die Dezentralisierung des aktualisierten Lehrplans weiter ausgebaut. Großes Gewicht wurde auf die Durchführung lokaler Lehrplan- und Schulentwicklungsarbeit, als wissens- und identitätsstiftende Handlung, gelegt. Für die einzelne Schule und den Lehrer bedeutete dies die Ausarbeitung von Fachlehrplänen. Ihre Integrationsaufgabe erfüllte die Schule in der stärkeren Anbindung an das lokale Milieu.
Mit der Auflösung des Ost-West-Gegensatzes zerfiel die Differenzschablone bezüglich sozialer Sicherheit in den west- und nordeuropäischen Staaten. Durch die fehlende soziale Legitimierung wurden die sozialdemokratischen Bewegungen Europas erschüttert – eingeschränkt handlungsfähig mussten sie dem Beginn des allmählichen Abbaus des Wohlfahrtsstaates zusehen. Durch die verstärkte Globalisierung wurde das Bildungssystem mit Impulsen konfrontiert, welche die intensive Produktion und Vermittlung von Wissen forderten, sie stellte damit eine der wichtigsten Herausforderungen für die Schule und das Bildungssystem dar. Ausbildung wurde daher verstärkt als ökonomischer Faktor verstanden: Qualität, Kompetenz und Effektivität hießen die neuen Schlagwörter.
Ende des Jahres 1988 sorgten zwei Veröffentlichungen im norwegischen Schulsektor für Aufsehen. Eine Expertenkommission der OECD stellte bei einer Revision des Bildungssystems fest,55 dass gravierende Mängel bei der Durchführung der Lehrpläne bestanden. Zu einem vergleichbaren Ergebnis kam auch eine Untersuchung des Bildungsministeriums.56 Offenbar war der M87 ein ungeeignetes Steuerungsmittel zur Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten.
Aufgrund der negativen Befunde wurde in den neunziger Jahren der Ausbau der organisatorischen Zentralisierung staatlicher Schulen vorangetrieben. Um dennoch eine nationale Schulpolitik unter dem Aspekt der Dezentralisierung durchführen zu können, war es allerdings notwendig, die pädagogische Entscheidungsfreiheit der einzelnen Schulen zu erhöhen. Zur Verhinderung unkontrollierter Entwicklungen formulierte das Ministerium für Kirche, Ausbildung und Forschung (KUF) nationale Standards und kontrollierte diese durch nationale Prüfungen. Dieses managment by objectives57 bedeutete für Norwegen, dass die Schulentwicklung staatlich gesteuert wurde – allerdings bestand Raum zu lokaler Handlungsfreiheit. Jede Schule bestimmt seither den Weg zum Ziel selbst, Storting und Regierung schufen die Rahmenvorgaben. So kann jede Schule selbst über den Einsatz ihrer Mittel (Finanzen, Räume, Material, Lehrer) bestimmen. Dass Lehrern ein hohes Maß an persönlicher Gestaltungsfreiheit möglich wurde, zeigte sich besonders darin, dass alle unterrichtsrelevanten Probleme wie die fachliche und pädagogische Organisation des Unterrichts ihnen übertragen wurden.
Im Herbst 1993 erhielten die norwegische grunnskole, die videregående skole und die Erwachsenenbildung einen neuen Lehrplan. Dieser fasste die Lehrpläne der grunnskole von 1987 (M87) und der für die videregående skole von 1976 zusammen. Hinzugefügt wurde ferner ein Lehrplan für die Erwachsenenbildung. Der neue „Læreplan for grunnskole, videregående skole og voksenopplæring“58 (Lehrplan für die Grundschule, die weiterführende Schule und Erwachsenenbildung) brach mit alten Traditionen. Die Orientierung an Lernzielen und den dazu notwendigen Mitteln wurde aufgegeben, im Vordergrund stand die Entwicklung des einzelnen Schülers und seiner Lernfähigkeit durch Bildung.
Wohlfahrtsstaatlicher Wandel und Verlust traditioneller Werteorientierung riefen eine Neuausrichtung der pädagogischen Konzeption hervor. Während der siebziger und achtziger Jahre dominierte der schülerzentrierte reformpädagogische Aspekt: schulische Akteure handelten therapeutisch und klientenorientiert. Unter Wahrung der reformpädagogischen Impulse erfolgte schulische Bildung und Erziehung zu Beginn der neunziger Jahre in Abhängigkeit von bestimmten Veränderungen in der Umwelt (etwa durch die Wirtschaft). Immer stärker wurde der Aspekt des lebenslangen Lernens betont.59 Ausdruck der sich vollziehenden Veränderung war, dass der vorhergehende Lehrpläne kennzeichnende Ausdruck von allmennkunnskap (Allgemeinwissen) durch die Verwendung des Begriffs allmenndannelse (Allgemeinbildung) abgelöst wurde. Neben der Betonung des Wissens wurde der Bildungsbegriff um die Bedeutung sozialer Komponenten ausgedehnt: Sprache und Tradition der Lokalgesellschaft (lokalsammfunn) bestimmen den gemeinschaftlichen Hintergrund nationaler Identität und Solidarität.60 Die Integration des Einzelnen in die soziale Realität sollte sich im Zusammentreffen von pluraler Wirklichkeit und der Persönlichkeit vollziehen. Zur Aufgabe des Individuums wurde es, “sich selbst in einer Weise zu realisieren, die der Gemeinschaft zu Gute kommt [...]”.61
Charakteristisches Merkmal am Ende der achtziger Jahre war die fortschreitende Bildungsexpansion. Immer mehr Schüler drängten in die weiterführende Ausbildung. Waren es 1987 noch 88,1 Prozent aller Schüler eines Altersjahrgangs, die von der grunnskole an die videregående skole überwechselten, so stieg diese Rate auf 95,2 Prozent (1991) an. Viele Schüler wichen auf das weiterführende Bildungsangebot aus, um offenbar der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Es zeigt sich aber, dass erstens nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung standen, dass zweitens viele Schüler die videregående skole ohne qualifizierenden Abschluss verließen oder aber dass sie sich drittens horizontal im System der Wahlkurse bewegten. Gerade diese Entwicklung deutete auf die Unsicherheit der Jugendlichen hin, in Anbetracht der unsicheren wirtschaftlichen Situation Lebensentscheidungen zu treffen.
Daher beschloss die Regierung Brundtland 1989 die Einsetzung eines Ausschusses („Blegenutvalget“) zur Planung und Durchführung der notwendigen Reformen. Er sollte Auswege aus der Bildungskrise aufzeigen, um für alle Schüler ein Bildungsangebot zu realisieren, welches den Erwerb allgemeiner Studier- bzw. doppeltqualifizierender Berufskompetenz ermöglichen sollte. Zusätzlich sollte die weiterführende Schulbildung jedem Schüler ein breites, sich der wandelnden Umwelt anpassendes Basiswissen vermitteln.62 Dem Aspekt der strukturellen Veränderung sollte durch die bessere Ausnutzung vorhandener Ressourcen und der Verbindung von Ausbildungswegen Rechnung getragen werden. Die Ergebnisse der Ausschussarbeit lagen 1991 vor63, wurden im Storting diskutiert64 und 1992 als Reform´94 beschlossen65. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Reform´94 war die Einführung des für alle gültigen Rechtes auf eine dreijährige Schulbildung an der videregående skole. Dabei wurde das bestehende Prinzip der Selektion der Schüler durch die Schule entsprechend der schulischen Leistungen aufgehoben. Der Besuch einer videregående skole wurde an den Abschluss der grunnskole gebunden. Zudem wurde Komplexität reduziert: 109 beruflich bildende Kurse wurden zu 13 Basiskursen zusammengefasst. Drei theoretisch-allgemeinbildende Kurslinien, welche die allgemeine Studienkompetenz sichern und zehn doppeltqualifizierende Kurslinien, die zur Berufskompetenz führen, wurden eingeführt (vgl. Tab. 1). Aufgrund der inhaltlichen Streuung des Kurssystems wurde die Flexibilität des Einzelnen gegenüber Veränderungen der wirtschaftlichen Situation erhöht.
Studienkompetenz
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Berufskompetenz
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Durch die Reduktion und den Zusammenschluss einzelner Fachgebiete wurden vielfältigere Ausbildungsformen möglich. Prägendes Merkmal der Reform´94 war die Idee der Einheitsschule: Jeder mögliche Bildungsweg steht jedem Interessenten offen, grunnskole und videregående skole wurden zu einem Schulsystem verbunden.
Mit dem Beginn des Schuljahres 1997/98 wurde in Norwegen das Eintrittsalter in die grunnskole durch die Reform´97 auf das sechste Lebensjahr gesenkt und parallel dazu die Schulzeit auf zehn Jahre verlängert. Die durchgeführte Reform stand in engem Zusammenhang mit der Reform´94. Ziel beider Reformen war die generelle Anhebung des Bildungsniveaus der gesamten (zukünftigen) Gesellschaft. Projektarbeit und thematisch geleiteter Unterricht bildeten neue Schwerpunkte schulischer Bildung und Erziehung. Die Schulreform war aber auch eine Kulturreform. So wurde beispielsweise die Verbindung zwischen Elternhaus und Schule durch die Möglichkeit der stärkeren Mitbestimmung der Eltern sowie durch die Forcierung lokaler Aktivitäten an der Schule gestärkt. Aus ökonomischer Sicht führte das gesenkte Schuleingangsalter zu mehr freien Kindergartenplätzen.
Die durch die Reform´97 eingeführte zehnjährige grunnskole verfügt über drei interne Differenzierungsstufen. Inhalte, Unterrichtsmethoden und Dauer des Unterrichts auf jeder dieser Stufen wurden den Besonderheiten der Entwicklung der entsprechenden Altersgruppe angepasst. Den Übergang vom Kindergarten in die Schule soll der Unterricht auf der Kleinschulstufe (småskoletrinn; 1. – 4. Klasse) stabilisieren, er baut auf den Kindergarten und die Tradition der Schule auf. Diese Phase ist vom Erlernen der grundlegenden Kulturtechniken durch Spiel und thematisch gebundene Projekte in gemischten Altersgruppen gekennzeichnet. In der anschließenden Zwischenstufe (mellomtrinn; 5. – 7. Klasse) werden verstärkt praktische und theoretische Elemente akzentuiert. Thematische Projekt- und Gruppenarbeit soll einerseits die Interdisziplinarität, aber auch die Einübung des selbständigen Lernens und Planens, sichern. Im Verlauf der 8. – 10. Klasse, auf dem Niveau der Jugendstufe (ungdomstrinn), sollen die Schüler auf den Übergang zur weiterführenden Ausbildung vorbereitet werden. Charakteristisches Kennzeichen dafür ist die Möglichkeit der fachlichen Vertiefung des Einzelnen.
Die Reform´97 war eine Struktur- und Lehrplanreform. Der Intention, die Elemente des gesamten Bildungswesens stärker aufeinander zu beziehen, wurde Rechnung getragen, indem ein allgemeiner Rahmenlehrplan für die grunnskole, die weiterführende Ausbildung und die Erwachsenenbildung eingeführt wurde (L97). Er führte die während der Reformperioden eingeführten pädagogischen Prinzipien weiter. Dies galt insbesondere in Bezug auf die Gleichheit der Ressourcenzuweisung an die Schulen, die Gleichstellung und Gleichwertigkeit der Schüler, den Ausgleich von Leistungs- und Kompetenzunterschieden zwischen Schülern und der Ermöglichung des Zugangs zu einheitlicher Bildungs- und Erziehungsangeboten für alle.
Das einst in hohem Maße lokale und von Erfahrungen geprägte Wissen erfuhr eine Wandlung. Aktuelles Wissen hat allgemeinbildenden und globalen Charakter – und doch existieren nach wie vor lokale und regionale Eigenheiten. Der aus der Region hervorgegangene Lehrstoff soll den nationalen Lehrstoff durch die Darlegung der Differenz zwischen beiden verdeutlichen und so Lernprozesse auslösen. Die Aufgabe des Lehrplans besteht nun in der Vermittlung gemeinsamer nationaler kultureller Werte und wissenschaftlicher Erkenntnisse, aber auch in der Einführung in lokale Besonderheiten. Die moderne Schule inkludiert und integriert alle in die gemeinsamen Grundlagen von Kultur und Wissen.
War der M87 von großer Offenheit für die Entwicklung lokaler Schulpläne und die fachliche Trennung nur sehr gering, so erfüllte der L97 das Bedürfnis nach stärkerer Spezifizierung. Die durch den L97 eingeführte schärfere fachliche Differenzierung reagierte auf den enormen Zuwachs des Wissens, welchem die lokale und globale Gesellschaft gegenübersteht. Dieser Tendenz entsprach die Zunahme der national gemeinsamen Lehrstoffe von 50 Prozent auf der småskole-Stufe über die Mittelstufe (60 Prozent) bis zur Jugendstufe (70 Prozent). Eine entsprechende Entwicklung ist in der Abnahme der projektorientierten Arbeit von 60 Prozent auf der småskole-Stufe auf 20 Prozent der Unterrichtszeit in der Jugendstufe zu verzeichnen66.
Die norwegische Einheitsschule ist das Ergebnis von Diskursen. Sie besteht nicht mehr als Teil des Bildungswesens, vielmehr bildet sie ein selbständiges soziales Teilsystem, dessen Fokus auf die eigenen inneren Verhältnisse gerichtet ist. Das System Schule entstand dabei an der Bruchlinie von Alteuropa, der griechisch-römischen Welt des Abendlands, zur modernen Welt. Demokratisierung und Politisierung der Gesellschaft waren Kennzeichen jenes Wandels. Die norwegische Schule besteht seit dem 19. Jahrhundert als dauerhafte gesellschaftliche Einrichtung, die Lernprozesse bewirkt und fördert. Die Ausformung der Organisation Schule war bedingt durch die Schaffung der Inklusionsformel Schulpflicht. Der Staat übernahm das Monopol und die Kontrolle der Erziehung; die semantische Struktur von Schule wird seither gebildet aus der kollektiven sozialen Kodifizierung dessen, was im System verhandelt wird.67 Strukturen existieren als sozialer Konsens.
Durch den Erfolg der Industrialisierung und das Wachstum der wissensintensiven Informationstechnologie werden von allen Lernenden höhere Qualifikationen, mehr Wissen und größere Kompetenzen gefordert. Um dies zu erreichen, wurde das schulische Lernen vom Lernen-im-Alltäglichen unterschieden durch die Schaffung räumlicher und zeitlicher Distanz. Die Schule begann ihre Existenz als Sonderumwelt, die Lernprozesse begünstigt.68 Mit dem Eintritt der Schüler in die Schule beginnt für sie eine zeitlich definierte Lern- und Erziehungsphase, welche schrittweise von zunächst mindestens vier Jahren (1848) auf zehn Jahre (1997) angehoben wurde. Die Erziehung findet nun ihren Bezugspunkt im Bestreben nach Integration des Schülers in die (gegenwärtige) Gesellschaft unter Wahrung seiner Individualität. Der Lernprozess bezieht sich seither auf die zukünftige Karriere, den Lebenslauf.
Die Organisation Schule reflektiert die sozial konstruierte Realität,69 sie reflektiert die Forderungen und Ansprüche aus der institutionalisierten Umgebung. Durch die Schaffung einer organisatorisch differenzierten Struktur, etwa von Schultypen, Schulklassen oder Fachkursen, wird die Komplexität des Schulsystems reduziert und Handeln in Bezug auf die jeweilige Korrespondenzgruppe ermöglicht. Die soziale und kulturelle Umwelt bedingt gerade diese Strukturen sowie die selektive Funktion (schichtspezifische Reproduktion) der organisatorischen Gliederung.
Die Änderungen der sozialen und kulturellen Bedingungen, die Evolution einer äußerst homogenen und funktional differenzierten Gesellschaft während der Phase des Arbeiterparteistaates, verursachte die Änderung der organisatorischen Struktur der Schule. Die Umstellung des Diskurses auf die tatsächliche Schaffung der Einheitsschule zwischen 1959 und 1969 sowie der Anschluss der videregående utdanning (1994) an die grunnskole (1997) bezog sich gerade auf diese Veränderungen der Umwelt.
Die Evolution des norwegischen Schulwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde besonders durch die Expansion der Primarschule bestimmt. Primarbildung war als wesentlicher Faktor nationaler Einheit und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit erkannt worden. Weitere Belege für die Öffnung des Schulsystems für alle Schüler können in der Vereinheitlichung des Schulsystems während der 60er Jahre und der Schaffung der doppelqualifizierenden weiterführenden Bildung durch die Reform´94 gesehen werden. Die nationale Gebundenheit des Bildungs- und Erziehungsprozesses verdeutlicht sich in der Verhinderung der Zersplitterung der Schullandschaft. Die Schaffung der nationalen Einheitsschule wurde mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts durch das Einheitsschulkomitee (1911) als nationales Ziel formuliert und fand ihren vorläufigen Abschluss in den Reformen ´94 und ´97.
Die Evolution des (Einheits-) Schulsystems Norwegens vollzog sich mit dessen Demokratisierung. Dabei kennzeichneten unterschiedliche Evolutionsphasen diesen Prozess. Phasen der Schulsystembildung in Norwegen waren erstens die Institutionalisierung des Schulsystems zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zweitens dessen Konsolidierung am Ende des 19. Jahrhunderts, drittens seine Ergänzung bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und viertens dessen Perfektionierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von der Begründung des Schulsystems durch Inklusion, Differenzierung in verschiedene Schultypen und den sich im Hintergrund vollziehenden gesellschaftlichen Diskurs um Nationalität, nationale Gemeinschaft, (Aus-)Bildung70 stellt die enhetsskole (Einheitsschule) das vorläufige Ende des historischen Evolutionsprozesses des norwegischen Schulsystems dar.
Die Wahl der Schule wurde zunächst den Eltern überlassen, diese orientierten sich dabei hauptsächlich an schichtspezifischen Kriterien und eben diese Entscheidung führte zu eben solchen Karrieren. Mit Einführung der alle Kinder inkludierenden Schulpflicht und der landesweit identischen intern differenzierten Schule fiel diese Wahlmöglichkeit weg. Die ersten Handlungen des Staates – Schaffung von Schulgesetzen, Durchführung von Bildungspolitik – ermöglichten das moderne Bildungssystem. Seither wird das Schulsystem Norwegens, dessen Organisation und Durchführung durch die staatliche Administration kontrolliert und reformiert. Demgegenüber verlässt sich die Gesellschaft darauf, dass der Staat die strukturelle und funktionale Differenzierung des Schulsystems erbringt. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts nahm die funktionale Differenzierung des gesamten Schulwesens zu und führte zu einer Erhöhung der Integration der verschiedenen Schultypen. Diese Entwicklung stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wandel der sozialen Struktur, der Urbanisierung und dem Bevölkerungswachstum. Immer größere Teile der Bevölkerung bedurften, ausgelöst durch die Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft, der Integration in die Gesellschaft und Qualifikation für die Wirtschaft.
Während der fünfziger und sechziger Jahre gewann der Gedanke der Gleichheit (equality) immer stärkere Bedeutung für die Reformen des Schulsystems. Die Tatsache, dass Schule als verteilungspolitisches Instrument verhandelt wurde, kennzeichnete die Ausdehnung der Schulzeit (1969) sowie die erweiterten Zugangsmöglichkeiten zur weiterführenden Bildung. Die Entwicklung der Einheitsschule kulminierte im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre. Durch die Bildungspolitik und das pädagogische Handeln wurden die Unterschiede, welche aus der Differenz zwischen Stadt und Land sowie zwischen sozialen Gruppen entstanden waren, weitestgehend unterbunden. Die äußere Differenzierung der Schule (grunnskole, unterschiedliche Typen der vidergående skole) wurde im Prozess der Vereinheitlichung in die interne Differenzierung (Klassenstufen, Fachkurse) umgewandelt, zudem wurde der Komplexität der Differenzen durch die Reduktion der Fachkurse begegnet (1994). Ihr vorläufiges Ende fand die Dynamik der Evolution der Einheitsschule in der Ausdehnung der grunnskole auf zehn Jahre (1997).
In der Schule der post-modernen Gesellschaft wird die Leistung des Schulsystems durch individuelle Qualifikation und durch die Schaffung von Loyalität gegenüber der Gesellschaft gebildet. Dadurch gelingt der Anschluss im Wirtschaftssystem (Qualifikation) und andererseits im politischen System (Loyalität). Die enhetsskole der modernen norwegischen Gesellschaft dient der Integration des Einzelnen in die gesellschaftliche und kulturelle Einheit der Nation. Im historischen Rückblick zeigt sich deutlich, dass sich das Schulsystem in seiner Evolution an der Leitidee der enhetsskole orientiert. Dadurch wurde es für die gesamte Gesellschaft ansprechbar – Bildungs- und Erziehungsinteressen der Teilsysteme konnten an einen Adressaten formuliert werden.71
Der moderne Begriff enhetsskole findet, so H.-J. Dokka, seit den sechziger Jahren im norwegischen Sprachgebrauch seine Verwendung72 und bezieht sich auf soziale, kulturelle und individuelle Elemente sowie auf Ressourcen. Durch soziale oder organisatorische Dimension wird dabei die Einheitlichkeit des Schulsystems in einem bestimmten geographischen Gebiet umfasst. Neben der Einheitsschule besteht keine andere öffentliche Schulform. Für die heterogene Gesellschaft steht eine homogene obligatorische Schule zur Verfügung. Das kulturelle Element weist die Schule nicht nur als Treffpunkt der Schüler aus, sondern umfasst die gemeinsame Aneignung von Traditionen, Werten und Arbeitsweisen, die Vermittlung gleichen Wissens und gleicher Fähigkeiten in Bezug auf einen für alle gemeinsamen Referenzrahmen. Zu ihrer Existenz benötigt sie die Gleichheit der eingesetzten Ressourcen. Zwischen den Schulen der Kommunen sollen keine Qualitätsunterschiede auftreten, der Schulbesuch der Schüler darf nicht vom Wohnort oder der sozialen Situation der Eltern abhängen. Nach außen erscheint die Einheitsschule damit als homogenes und abgeschlossenes System. Die autopoietische Reproduktion, die Schaffung einer Einheit, wird dem System jedoch nur möglich, wenn es intern Differenzen, Unterschiede verarbeitet. Darauf weist die Gliederung der grunnskole in einzelne Klassenstufen und die Gliederung der videregående skole in Kurslinien hin. Intern operiert die Schule mit der Betonung des Individuellen, des Differenten. Der an den Alters- und Entwicklungsstufen orientierte Lehrplan, die individuelle Betreuung einzelner Schüler sowie die Wahl unterschiedlicher Kurse soll jedem die unabhängige und individuelle Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten unabhängig von seinem Hintergrund ermöglichen.
Die norwegische Einheitsschule symbolisiert nach außen Gleichheit. Diese Einheit bedarf zu ihrer Existenz der Symbolisierung von Differenz, also Ungleichheit73. Dies schließt, sich aus der pädagogischen Interpenetration (Beeinflussung), ergebende Ungleichheit nicht aus.74 Vielmehr ist „Selektion im Erziehungsprozess unvermeidlich“.75 Würden organisatorische Differenzierung in Klassen, Jahrgangstufen etc. und Selektion durch Lob und Tadel des Lehrers sowie durch Prüfungen in der Schule nicht stattfinden, so wäre das Einheitsschulsystem Norwegens in seiner Existenz gefährdet.
1 Slagstad, Rune: De nasjonale strateger. Oslo 1998, 223.
2 Ibid., 226.
3 Vgl. Ibid., 226.
4 Bull, Edvard: Norge i den rike verden. Tiden etter 1945. Oslo 1993, 106ff.
6 Høigård, Edvard und Hermann Ruge: Den norske skoleshistorie. Ny utgave ved Knut Ingvar Hansen. Oslo 1971, 249.
7 Samordningsnemnda for skoleverket: XIX. Sammenfatning og utsyn. Oslo 1952, 17.
8 Vgl. Dokka, Hans-Jørgen: En skole gjennom 250 år. Den norske allmueskole, folkeskole, grunnskole 1739 - 1989. Oslo 1988, 25.
9 St.meld.nr. 9 (1954) Om tiltak til styrking av skoleverket.
10 Vgl. Myhre 1994, wie Fußnote 5, 125.
11 Vgl. Høigård und Ruge 1971, wie Fußnote 6, 252.
12 Vgl. Telhaug, Alfred O.: Den 9-årige skolen og differensieringsproblemet. En oversikt over den historiske utvikling og den aktuelle debatt. Oslo 1969, 47.
13 Vgl. Kjøl, Per E. und Alfred. O. Telhaug: Norsk skolepolitikk i etterkrigstida. Skole- og utdanningspolitikk i partiprogrammene fra 1945 til 1977. Oslo 1979, 80f.
14 Vgl. Telhaug 1969, wie Fußnote 12, 52.
15 Ot. prp. nr. 30 (1958) Lov om folkeskolen.
16 Høigård und Ruge führen an, dass Lehrerorganisationen, Zeitschriften und andere pädagogische Institutionen dem Ministerium rund 1400 Protestschreiben übermittelten. (Vgl. Høigård und Ruge 1971, wie Fußnote 6, 269).
17 KUD: Lov om folkeskolen fra 10. April 1959.
18 KUD 1959, §10.5; Die Kommunen konnten selbst entscheiden, ob die Verlängerung der Schulzeit in Anspruch genommen wird. Während der sechziger Jahre zeigte sich deutlich, dass die neunjährige Schulform zum alltäglichen Bestandteil der Schulkultur geworden war. (Vgl. Dokka 1988, wie Fußnote 8, 60).
19 Vgl. Dokka 1988, wie Fußnote 8, 37.
20 Über die bereits aufgeführten Fächer hinaus wurde der Unterricht auf dem Niveau der barneskole (Kinderschule von der 1. bis zur 6. Klasse) in Norwegisch, Formgebung (forming), Musik, Sport und Englisch durchgeführt. In der Jugendschule (ungdomskole von der 7. bis zur 9. Klasse) wurde das Curriculum um Naturfag (Biologie, Chemie, Physik) und Christentumskunde erweitert.
21 Vgl. Sirevåg, Tønnes: Den ni-årige skolen. I opphav og strid. Oslo 1979, 166.
22 Ot. prp. nr. 59 (1966 – 67) Lov om grunnskolen.
23 Vgl. Rust, Val. D.: The democratic tradition and the evolution of schooling in Norway. New York 1989, 221.
24 KUD: Lov om grunnskolen 1969, §2.
25 Vgl. Høigård und Ruge 1971, wie Fußnote 6, 279.
26 KUD: Lov om grunnskolen 1969, §7.
27 Folkeskolekomité: “Folkeskolekomitéens drøfting av skolens mål og middel og differensieringsspørsmålet”. Oslo 1963, zitiert nach Telhaug, Alfred O. und Svein E. Vestre: Vår nye grunnskole. Oslo 1969, 149.
28 Folkeskolekomité: “Folkeskolekomitéens drøfting av skolens mål og middel og differensieringsspørsmålet”. Oslo 1963, zitiert nach Telhaug und Vestre 1969, wie Fußnote 27, 149.
29 Grunnskolerådet: Mønsterplan for Grunnskolen. Oslo 1974.
30 Ibid., §7.
31 Vgl. Rust 1989, wie Fußnote 23, 234.
32 St. meld. nr. 43 (1961 – 62).
33 KUD: Lov av 12. Juni 1964 om realskoler og gymnas.
34 Vgl. Telhaug, Alfred O.: Vår nye videregående skole. Oversikt over og kommentar til reformarbeidet. Oslo 1975, 16.
35 Vgl. ibid., 16.
36 Wie oben bereits aufgeführt, setzte sich dieser Begriff als Terminus technicus für die öffentliche Bezeichnung Skolekomitéen av 1965 (Schulkomitee von 1965) durch.
37 KUD: Lov av 21. juni 1974 om videregående opplæring.
38 Ibid., §2.
39 Vgl. Dokka 1988, wie Fußnote 8, 178.
40 KUD: Lov av 21. juni 1974 om videregående opplæring, §4, §23.
41 Ibid., §33.
42 Slagstad 1998, wie Fußnote 1, 367.
43 Vgl. Bull 1993, wie Fußnote 4, 442ff.
44 Slagstad 1998, wie Fußnote 1, 369.
45 1972: 53,5 Prozent der Stimmen (Bull 1993, wie Fußnote 4, 460.).
46 Høringsutkast til Mønsterplan for grunnskolen: Del 1: Generell del. Oslo 1984.
47 Høringsutkast til Mønsterplan for grunnskolen: Del 2: Fagplandel. Oslo 1985.
48 KUD: Mønsterplan for grunnskolen. Revidert og midlertidig utgave 1985. Oslo 1986.
49 St. meld. nr. 15 (1986 – 87) Om revisjon av Mønstrerplanen for grunnskolen.
50 KUD: Mønsterplan for grunnskolen. Oslo 1987.
51 Vgl. Mønsterplan for grunnskolen. 1987, 26f.
52 Vgl. Telhaug, Alfred O.: Norsk skoleutvikling etter 1945. Utdanningspolitikk og skolereformer 1945 - 1994. 1994, 400.
53 Vgl. Mønsterplan for grunnskolen. 1987, 17.
55 OECD: OECD-vurdering av norsk utdanningspolitikk. Norsk rapport til OECD. Ekspertvurdering fra OECD. Oslo 1989.
56 NOU 1988: 28 Med viten og vilje.
57 St. meld. nr. 37 (1990/91).
58 KUF: Læreplan for grunnskole, videregående skole og voksenopplæring. Generell del. Oslo 1993.
59 Vgl. NOU 1988:28; KUF: Læreplan for grunnskole, videregående skole og voksenopplæring. Generell del. Oslo 1993, 18.
60 KUF: Læreplan for grunnskole, videregående skole og voksenopplæring. Generell del. Oslo 1993, 29.
61 Ibid., 40.
62 Vgl. St. medl. nr. 33 (1991 – 92): Kunnskap og kuyndighet. Om visse sider ved videregående opplæring.
63 NOU 1991:4 Veien videre til studie- og yrkesmessig kompetanse for alle.
64 St. meld. nr. 33 (1991 – 92) Kunnskap og kuyndighet. Om visse sider ved videregående opplæring.
65 Ot. prp. nr. 31 (1992 – 93) Om lov om endringer i lov 21. Juni 1974 nr. 55 om videregående opplæring og i lov 23. Mai 1980 nr. 13 om fagopplæring i arbeidslivet.
66 Vgl. Telhaug, Alfred. O.: Utdanningsreformene. Oversikt og analyse. 1997, 206.
67 Vgl. Meyer, John. W.: “Institutionalization and the Rationality of Formal Organizational Structure”. In: Meyer, John. W. und W. R. Scott (Hgg.): Organizational Environments. Ritual and Rationality. Newbury Park 1992. 261-282.
68 Vgl. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur modernen Wissenssoziologie 2. Frankfurt a. M. 1993, 151.
69 Berger, Peter L. u. Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie [The Social Construction of Reality; 1966]. Frankfurt a. M. 1996, (= Sozialwissenschaften Fischer, 6632).
70 Vgl. Telhaug, A. O. 1978; Solstad, Karl Jan: En skole for samfunnet. Den norske skolen gjenom 100 år. Oslo 1984.; Myhre 1994 wie Fußnote 5.
71 Im Unterschied dazu kann in Deutschland zwar das Schulsystem als solches auf ein Problem hin angesprochen werden, da in Deutschland aber kein einheitliches Schulsystem existiert, sind, begründet in der Vielzahl der Schultypen und ihrer Leitideen, verschiedene Reaktionen (Lösungsvorschläge) zu erwarten.
72 Dokka, H.–J.: “Enhetsskoleproblemet i den norske skoles historie.” In: Harbo, T., O. Korsen und S. Sletvold (Hgg.): Skolen og samfunnet. En pedagogisk essaysamling. Oslo 1975. 79-94.
73 Vgl. Luhmann, Niklas und Karl-Eberhard Schor: Reflexionsprobleme im Erziehungssystem. Frankfurt a. M. 1988, 233.
74 “Gleichheit symbolisiert den Menschen als Menschen, symbolisiert Gesellschaft. Als Grundwert garantiert sie Konsens – allerdings nur für den Beginn von Kommunikation, nicht unbedingt auch für ihr Ergebnis.” (Luhmann und Schorr 1988, wie Fußnote 73, 263)
75 Luhmann und Schorr 1988, wie Fußnote 73, 294.