Mit seiner Dissertation über den „barbarischen Norden“ hat Fraesdorff ein Buch vorgelegt, das es wirklich verdient, auch außerhalb der Mittelaltergeschichtswissenschaft rezipiert zu werden, weil es grundlegende Einsichten in die Geschichte der europäischen Topoi von Nördlichkeit bietet. Fraesdorffs Ziel ist es, „die zeitgenössischen Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters vom sogenannten „Norden“ sowie die Fremdzuschreibungen gegenüber diesem anhand von vier historiographischen Quellentexten zu analysieren und gegebenenfalls mentalitätsgeschichtliche Veränderungen während der Epoche der Christianisierung herauszuarbeiten.“ (S. 355).
Als Hauptquellen dienen ihm Rimberts Vita Anskarii aus dem 9. Jahrhundert, Thietmar von Merseburgs Cronica vom Beginn des 11. Jahrhunderts, Adam von Bremens Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, die 1075/76 fertiggestellt wurden, sowie Helmold von Bosaus Cronica slavorum, die um 1172 abgeschlossen vorlag. Markiert wird durch diese Texte eine Kontaktzone zwischen der christlichen Latinität und einem hiervon abgesetzten „Norden“ sowohl in geographischer als auch in zeitlicher Hinsicht, bedeuten die Jahre zwischen ca. 800 und 1200 doch eine ebenso dynamische wie spannungsreiche Übergangszeit. Nachdem um 800 einerseits die Wikingerzüge einsetzten und andererseits das fränkische Reich an die Elbe vorgestoßen war, wurde der „Norden“ zu einem konkreten Missionsraum. Erstmals wurde dies 822/23 in einer Bulle Papst Paschalis’ I. formuliert, der zur Mission in den partes aquilonis aufforderte, was unter anderem zur Etablierung des Erzbistums Hamburg-Bremen führte. Fraesdorff begründet die Begrenzung seines Untersuchungszeitraumes durch die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert mit dem „Ende der kultur- und religionsgeographischen Zweiteilung Europas“ und dem „Einsetzen der lateinischen Geschichtsschreibung im Nordosten” (S. 11).
Die Studie gliedert sich in zwei, bereits im Untertitel erkennbare Hauptteile: Zunächst diskutiert er verschiedene griechisch-lateinische Begriffe zur Kennzeichnung von „Norden“ und „Nördlichkeit“ sowie deren Verwendung in den Quellen des 9. bis 12. Jahrhunderts, das heißt was für „Vorstellungen“ vom „Norden“ in diesen erkennbar sind. Es folgt im zweiten Hauptteil die Frage nach den möglichen Gründen für diese Vorstellungen, das heißt was für Fremdheitskategorien sich in Bezug auf den „Norden“ in den Quellen herausarbeiten lassen. Eine gewisse Redundanz ist bei einem solchen Aufbau der Studie unvermeidlich, irritiert aber nicht beim Lesen.
Eingeleitet wird der erste Teil mit einer informativen Übersicht über die verschiedenen griechisch-lateinischen Termini für Nördlichkeit: die aus dem Sternbild des Großen Bären beziehungsweise Großen Wagen abgeleiteten arctos und septentrio, die eher einen polaren Norden meinen, sowie die den Nordwind bezeichnenden Termini boreas und aquilo, die eher eine nordnordöstliche Richtung indizieren. Während diese vier Begriffe in der Antike und auch noch im Frühmittelalter weitgehend synonym benutzt worden sind, kann Fraesdorff zeigen, wie sich bei Rimbert im 9. Jahrhundert aquilo als explizit negativ konnotierter Terminus durchsetzt. Vor dem Hintergrund der Bedrohung durch die Wikingerzüge und im Kontext des Missionsanliegens griffen die Geschichtsschreiber damit – wenig verblüffend – auf einen Terminus zur Kennzeichnung des „Nordens“ zurück, der im hegemonialkulturellen Text der Zeit, der Bibel, mit dem Teufel verknüpft ist: Dass alles Böse aus dem Norden komme (malum ab aquilone), ist vor allem im Alten Testament ein oft wiederholter Gemeinplatz. Das biblische Schreckensbild des aquilo dominierte so vorübergehend die Vorstellung vom „Norden“. Erst allmählich verlor der Begriff des aquilo in den nächsten Jahrhunderten angesichts der erfolgreichen Christianisierung und des zunehmenden faktuellen und zugleich differenzierten Wissens über den „Norden“ an Omnipräsenz und Selbstverständlichkeit. Dieser Prozess drückte sich darin aus, dass die eher neutralen Termini septentrio, boreas und arctos – und damit eine größere terminologische Vielfalt – wieder in den untersuchten Quellentexten nachweisbar werden.
Mindestens ebenso spannend wie diese Verschiebungen in der Begrifflichkeit ist die „kognitive Karte“ (S. 45), die Fraesdorff anhand seiner Quellentexte zeichnet. Denn wo lagen die geographischen Grenzen des „Nordens“? Generell war die Elbe die südliche Begrenzungslinie, und da diese nicht von Ost nach West, sondern von Südost nach Nordwest verläuft, folgt daraus eine „genordostete Landkarte“ (S. 87). Zentrum des „Nordens“ ist die Ostsee als occeanus septentrionalis; von einem Ort in der Nähe des heutigen Chemnitz, den Thietmar noch als in parte septentrionali charakterisiert, läuft die Grenze zum „Norden“ die Elbe entlang und dann unterhalb der Orkneys. Diese geographische Abgrenzung des „Nordens“ war missionspolitisch-biblisch motiviert und umfasste daher auch den slawischen Osten, den man bis ins 12. Jahrhundert hinein schon deshalb nicht als „Osten“, also als oriens, bezeichnen konnte, weil dieser Begriff unter anderem zur allegorischen Kennzeichnung des Heiligen Landes und des Paradieses reserviert war.
Den zweiten Hauptteil leitet Fraesdorff mit der Skizzierung folgenden Problems ein: Während im 12. Jahrhundert die kirchen- und missionspolitischen Gegebenheiten, die ursprünglich die Konstruktion des aquilo im 9. Jahrhundert motiviert hatten, längst verändert waren, erwies sich die Konstruktion des aquilo als Raum kultureller Alterität als weitgehend stabil. Worin liegen also die Gründe dafür, „dass das Bild vom heidnischen und barbarischen aquilo aus der Anfangszeit des Hamburg-Bremer (Erz-)Bistums noch drei Jahrhunderte später auf eine gänzlich veränderte Welt im Nordosten übertragen wurde (wenn auch deutlich differenzierter)“ (S. 174)? Was für Fremdheitsvorstellungen liegen dieser Zuschreibung von Alterität zugrunde? Für die Beantwortung dieser Frage unterscheidet Fraesdorff religiöse, politische, ethnische und kulturell-zivilisatorische Fremdheit. Dies sind indes moderne post festum-Differenzierungen, die in einem nicht wegzudiskutierenden methodologischen Gegensatz zum hauptsächlich begriffsgeschichtlich argumentierenden ersten Hauptteil stehen, wo explizit darauf hingewiesen worden war, dass „moderne Begrifflichkeiten in aller Regel kein mittelalterliches Pendant haben und umgekehrt“ (S. 14). Fraesdorff reflektiert jedoch dieses Problem; zur Begründung für seine Entscheidung, den vornehmlich begriffsgeschichtlichen Ansatz im zweiten Hauptteil nicht fortzusetzen, führt er aus, dass „Fremdheit [...] auch ohne zentrale Begriffe wie barbarus ausgedrückt werden kann“ (S. 356) und dies eine von Autor zu Autor unterschiedliche Begrifflichkeit auch deutlich macht.
Heuristisch erweist sich dieser methodologische Bruch durchaus als produktiv: Fraesdorff kann überzeugend herausarbeiten, dass in seinen vier Quellentexten die Kategorie der ethnischen Fremdheit zwar schon früh manifest ist, aber bis ins 11. Jahrhundert hinein die religiöse Fremdheit absolut dominierte. Erst nach der Christianisierung traten dann die kulturell-zivilisatorische Fremdheit (im 11. Jahrhundert) und die ethnische (im 12. Jahrhundert) deutlicher hervor. Während also einerseits das aquilo-Deutungsmuster durch den Rückgriff auf antike oder christliche Topoi von „Nördlichkeit“ sich stabilisierte, ergibt eine Analyse der Fremdheitskategorien „einen Wandel in der Bewertung des ‚Nordens‘, der den Erfolgen der Christianisierungsbewegung durch die Differenzierung der religiösen und kulturellen Fremdheit wenigstens in Teilen Rechnung trägt“ (S. 360).
Eine prägnante Zusammenfassung beschließt diese Studie, die nicht zuletzt auch durch ihre perfekte äußere Form, sowohl in ortho- wie biblio- und typographischer Hinsicht, ein Lesevergnügen ist. Gleich drei Register zur Erschließung des Textes, nämlich ein Bibelstellen-, ein Personen- sowie ein Sach- und Ortsregister, erlauben es zudem, Der barbarische Norden als Nachschlagewerk zu benutzen – und führen noch mal eindrücklich die Spannbreite der imponierenden Belesenheit des Autors vor Augen.
Die Kritik, die das Buch hervorrufen kann, ist gewissermaßen bereits Folge von Fraesdorffs lobenswerter Ambition, den ausgetrampelten Pfad traditioneller Geschichtsschreibung zu verlassen: Wer sich wie er explizit zu einer „kulturwissenschaftlichen Erneuerung“ der Geschichtswissenschaft bekennt und zu einer damit einhergehenden interdisziplinären Ausrichtung (S. 14f), fordert dazu auf, an entsprechenden Parametern gemessen zu werden. Warum wird zum Beispiel mit keinem Wort auf die Probleme eingegangen, die aus linguistischer Sicht mit der koselleckschen Begriffsgeschichte verbunden sind? Was genau ist eigentlich mit den „Vorstellungen“ gemeint (im Text ist auch von „imaginären Konstrukten“, zum Beispiel S. 361, die Rede)? Der Begriff, wahrscheinlich übernommen aus dem Kieler Graduiertenkolleg Imaginatio borealis, ist zweifellos brauchbarer als der der „Erfindung“, aber wegen der nirgendwo angesprochenen philosophischen Implikationen doch zugleich auch weit problematischer als der der „Konstruktion“. Worin liegt der Gewinn, statt von „Konstruktion“ von „Vorstellung“ zu sprechen?
Ein Leser aus einer anderen Disziplin als der Mittelaltergeschichte mag zudem ob der Behandlung von Fremdsprachen in Fraesdorffs Buch etwas irritiert sein. Dass seine Untersuchung an originalsprachlichen Texten durchgeführt werden muss, ist mit dem Thema zwingend vorgegeben. Aber es spricht nichts dagegen – zumindest wenn man nicht nur Historiker als intendiertes Publikum ansprechen will –, eine deutsche Übersetzung wenigstens dort folgen zu lassen, wo längere lateinische Passagen zitiert werden (von griechischen Begriffen ganz zu schweigen). Aus skandinavistischer Sicht ist auffällig, dass in Fraesdorffs imponierender Literaturliste unter mehr als 500 Titeln nur ganze fünf skandinavischsprachige vertreten sind. Zweifellos ist die skandinavischsprachige Forschung nicht zentral für Fraesdorffs übergreifendes Anliegen – aber doch auch nicht komplett bedeutungslos, um Aussagen wie die folgende vertreten zu können: „Die bisherigen Publikationen zum europäischen Norden haben mithin kaum die Vorstellungen zeitgenössischer christlicher Autoren zum ‚Norden‘ zum Thema gehabt, sondern die Quellen vor dem Hintergrund modernen Wissens als Ansammlung von Fakten herangezogen.“ (S. 25) Sollte die Kenntnis der einschlägigen skandinavischsprachigen Forschung nicht eine gewisse Relevanz haben für Ergebnisse, „die insbesondere vor dem Hintergrund der ereignis- und strukturgeschichtlichen Veränderungen in Europas Nordosten zwischen 800 und 1200 bewertet werden müssen“ (S. 360)? Lässt sich einfach summarisch behaupten, dass die Forschung vor allem die Gottheiten Odin, Thor und Frey zum „heidnischen Götterkollegium“ zähle (S. 212)? Selbstverständlich ist von Mittelalterhistorikern nicht zu erwarten, dass sie skandinavische Sprachen lesen können – ebenso wenig wie von mir erwartet werden kann, dass ich Griechisch lese. Aber manche Verweise auf populäre Übersichtswerke, zum Beispiel zu den Wikingern, wirken so, als ob eine durch einen Innenarchitekten anspruchsvoll durchgestylte Wohnung mit vereinzelten Vasen vom Discounter „verziert“ wird.
Der Leser wird sich hoffentlich trotzdem und mit gutem Grund von dem Buch angesprochen fühlen. Denn Fraesdorff hat mit Der barbarische Norden eine argumentativ klar aufgebaute, beeindruckende Studie vorgelegt, die nicht nur ein mittelaltergeschichtliches Forschungsdefizit beseitigt, sondern zugleich auch als ein zentraler Beitrag zur (nicht nur mittelalterlichen) Geschichte europäischer Topoi von „Nördlichkeit“ gewertet werden muss. Dem Buch sind möglichst viele Leser zu wünschen!