Wenn man über historische Regionen etwas mit höchstmöglicher Sicherheit sagen kann, dann dies: Sie sind immer Konstrukte. Zwangsläufig kann man sie nur geographisch benennen und abgrenzen, aber jede Abgrenzung ist alles andere als zwangsläufig, auch wenn häufig das Gegenteil behauptet wird. Selbst die so genannten „natürlichen Grenzen“, die so gern als (meistens politische) Argumente ins Feld geführt werden, sind doch Ergebnisse gezielter Überlegungen. Sie werden stets dort festgestellt, wo ihr Verlauf für die jeweils eigenen Interessen am günstigsten ist. Das gilt vor allem für Flussläufe und Gebirge. Das Meer, dessen Küsten häufig als „natürliche Grenzen“ von schlagender Überzeugungskraft genannt werden, sieht man inzwischen weniger als trennendes Hindernis als vielmehr als Verbindung zwischen seinen Anrainern, und in dieser Eigenschaft ist es vielfach erforscht worden. Das beste Beispiel dafür ist das hier nächstliegende: die Ostsee. Wenn also die äußeren Abgrenzungen von Regionen nicht so eindeutig sind, wie man sie gern hätte, muss man nach inneren Zusammenhängen fragen, die eine Region als solche erkennbar machen. Die Erkennbarkeit liegt in ihrer Unterscheidbarkeit von anderen Regionen, vornehmlich von den benachbarten. Diese Unterscheidbarkeit wird erst dadurch sichtbar, dass die inneren Zusammenhänge, die Eigenschaften und Charakteristika für die jeweilige Region herausgearbeitet und vergleichend nebeneinander gestellt werden. Dass dies ein schwieriges Unterfangen ist, das kaum an ein definitives Ende gelangen kann, zeigt zum Beispiel die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geführte Debatte um die Frage, was „Mitteleuropa“ eigentlich sei. Umso mehr gilt das für eine noch nicht so lange in Rede stehende Region wie „Nordosteuropa“, das, wie die Autoren dieses Sammelbandes immer wieder betonen, vor einem halben Jahrhundert von Klaus Zernack in wirklich grundlegender Weise zur Diskussion gestellt worden ist. Diesem Altmeister der osteuropäischen respektive nordosteuropäischen Geschichte wurde der sorgfältig gestaltete Band denn auch zum 75. Geburtstag gewidmet. Und es wird ihm gewiss nicht missfallen, wenn als Gesamteindruck konstatiert werden muss: Auch hier ist der Weg das Ziel, und diesen Weg hat er maßgeblich eröffnet.
Anders als es der Untertitel nahe legt, stehen nicht die deutsche Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten im Vordergrund, sondern der europäische Nordosten selbst, und die deutsche Kultur und Geschichte nehmen nicht mehr als den ihnen zustehenden Anteil ein. Wenn von Klaus Zernack und Nordosteuropa die Rede ist, darf der Name Paul Johansens (1901–1965) nicht fehlen, auf den er sich ausdrücklich bezieht. Das in diesem Band dokumentierte Symposium fand im Jahr des 100. Geburtstages Johansens statt, in Tallinn, wo der Deutschdäne als Stadtarchivar wirkte, bis er 1940 in Hamburg einen Lehrstuhl für Osteuropäische und Hansegeschichte übernahm. Bereits die drei einführenden Beiträge der beiden Herausgeber sowie von Urmas Oolup und Klaus Zernack stellen die Bedeutung Johansens für die historische Erforschung Nordosteuropas wie auch für den Entwurf einer in sich zusammenhängenden Region heraus, den Zernack aufgegriffen und weiterentwickelt hat. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht nur diese Verbindung benennt, sondern die Betrachtung dieser Region, bei aller historischen Verwurzelung und schonungslosen Benennung der Einbrüche und Katastrophen ihrer Geschichte, nach der demokratischen Revolution im östlichen Europa und der Neuordnung der politischen Verhältnisse auf die Zukunft ausrichtet: kein sinnloses und unfruchtbares Nachtrauern – weder der eindeutig dem Mittelalter angehörenden Hanse noch der Neuzeit mit ihren Kriegen, und schon gar nicht der hegemonialen Konzeption der sowjetischen Ostseepolitik –, sondern der Blick richtet sich „auf die europäische Zukunft freier und gleicher Völker“ (S. 41).
Der folgende Abschnitt versammelt insgesamt recht persönlich gehaltene Beiträge zu Johansens Biographie und seinen Forschungen zur Geschichte Nordosteuropas. Seine Tochter Ulla Johansen beschreibt aus familiärer Sicht die Zeit des Zweiten Weltkrieges; die nicht unproblematische Phase im heiß geliebten Stadtarchiv Reval/Tallinn und die Schwierigkeiten bei der geplanten Berufung auf eine Professur für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tartu stellen Lea Kõiv und Jüri Kivimäe dar. Persönliche Beziehungen zu anderen Wissenschaftlern stehen bei Norbert Angermann und Klaus Friedland im Mittelpunkt. Persönliche Aspekte fehlen aber auch dort nicht, wo die wissenschaftliche Leistung Johansens als Etymologe (Eugen Helimski) oder seine grundlegenden Forschungen zum Verhältnis zwischen „Deutschen“ und „Undeutschen“ im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Estland, insbesondere in Reval, von Heinz von zur Mühlen, dem Mitautor dieses Hauptwerkes, vorgestellt werden. Mit ausgewogenem Urteil kennzeichnet Enn Tarvel diesen liebenswürdigen und sensiblen, ganz seiner Wissenschaft verschriebenen Gelehrten mit seiner Fähigkeit zur tief greifenden Analyse des mit Bienenfleiß zusammengetragenen Materials und zum Aufspüren historischer Zusammenhänge, aber auch mit seiner Neigung zu allzu weit reichenden Konstruktionen und Hypothesen ohne hinreichende Beweise.
Unter dem Titel „Elemente der Raumkonstitution Nordosteuropas“ untersucht zunächst Ralph Tuchtenhagen unter Aufbietung einer schier überreichen Materialfülle und mit einer systematischen Argumentation die Geschichte des Verkehrs auf einen möglichen inneren Zusammenhang Nordosteuropas als Region. Das gleiche Ziel verfolgen Aufsätze zur Stadtgeschichte (Manfred Gläser), zur „Archäologie des Hanseraums“ (Ulrich Müller), zum schwedischen, dänischen und polnischen Interesse an Livland/Estland im Spätmittelalter (Jens E. Olesen), zur Regionalität der Geschäftsbeziehungen eines livländischen Magnaten am Ende des 18. Jahrhunderts (Tiit Rosenberg) und schließlich zur Entwicklung der Post- und Verkehrsverbindungen Lettlands zu den nordischen Ländern in der Zwischenkriegszeit (Valters Ščerbinskis). Wenn im Ergebnis festgestellt werden muss, dass aus den Beiträgen viel gelernt, allerdings kein überzeugendes Argument für die Konstituierung Nordosteuropas als Raum mit einem Mindestmaß an Kontinuität gefiltert werden kann, so gilt dies auch für den folgenden Abschnitt, dessen Autoren sich auf die Suche nach den „Außen- und Binnengrenzen Nordosteuropas“ begeben. Ideologisch aufgeladene politische Grenzen wie die zwischen Finnland/Schweden und Russland (Jukka Korpela) oder imagologische wie die zwischen Livland und der Rus´ (Anti Selart) stellen sich bei näherem Zusehen als wenig geeignet heraus, ebenso die Akzentuierung des Nordostens als hauptsächliche Expansionsrichtung Litauens (Jūratè Kiaupienè) oder die Betonung der kulturellen und ethnographischen Nähe des russischen Nordwestens zum übrigen Nordosteuropa (Aleksandr Mylnikov); auch die Beziehungen zwischen Luthertum, Katholizismus und Judentum mit ihren interessanten transkonfessionellen Aspekten und identitätsstiftenden Wirkungen (Janis Kreslins) können nur auf einen sehr eng begrenzten Bereich zutreffen.
Die Frage, ob sich Nordosteuropa als Raum definieren lasse, wenn man es als Objekt unterschiedlicher Wirkungen und Einflüsse betrachte, ist zweifellos sowohl historisch als auch methodisch der schwierigste Ansatz. Das Verhältnis der polnisch-litauischen Adelsrepublik zu Livland (Jürgen Heyde, Bogusław Dybaś) betrifft nur Teilaspekte, ebenso die russisch-sowjetische Sicht auf das Baltikum (Karsten Brüggemann), auf das westliche Weißmeergebiet (Reinhard Nachtigal) und auf Estland (Olaf Mertelsmann). Kristian Gerner und Michael North arbeiten anhand unterschiedlicher Themen die Variabilität der Grenzen und Einflüsse als Charakteristikum des Gebietes heraus, das der erste als „Nordosteuropa“, der zweite als „Ostseeraum“ bezeichnet.
Robert Schweitzer charakterisiert mit seinen von „ungeschehener Geschichte“ ausgehenden Überlegungen Nordosteuropa als Region der „kleinen“ Nationen, in der sich keine Großmacht dauerhaft prägend habe durchsetzen können, und schlägt so eine Brücke zu den abschließenden Aufsätzen. Zunächst geht es jedoch noch um den Raum Nordosteuropa als Subjekt: Kalervo Hovi macht sich Gedanken über das Scheitern der „Randstaatenpolitik“ in der Zwischenkriegszeit, Michael Garleff über die Deutschbalten als Träger eines im Grunde nur baltischen, damit aber auch im Ansatz weiter reichenden und vielfältigeren Bewusstseins. Die Ideen Schweitzers führt Jörg Hackmann in Richtung auf das Baltikum innerhalb Nordosteuropas weiter, wo, im Unterschied zu den benachbarten Räumen, die „Kleinheit“ der baltischen Nationen sowie Interaktion und Vernetzung anstatt fixer Grenzziehungen die konstitutiven Strukturmerkmale darstellen.
In den Schlussbetrachtungen benennt Matti Klinge den „Ostseeraum“ als Kulturraum und fragt unter den Paarungen Imperium und Peripherie, Stadt und Land sowie Deutsch und Nichtdeutsch nach strukturellen Zusammenhängen. Marko Lehti plädiert im Bemühen um terminologische Klärung im Sinne eines „region-building“ für „Nordosteuropa“ im jeweiligen historisch-geographisch-politischen Kontext und entwirft drei Wege der Forschung: die Suche nach Netzwerken, die konstitutiv für die Region sind, nach Räumen, in denen Kontakte mit ihren Pluralitäten und Identitäten stattfinden, sowie schließlich nach dem Sprachgebrauch und den Raumvorstellungen der Zeitgenossen. Dies bedeutet letztlich ein klares Eintreten für eine Historisierung Nordosteuropas, mit der die Forschung zu dieser Geschichtsregion wirklich vorangetrieben werden kann.
Am Anfang dieser Besprechung steht: Jede Region ist ein Konstrukt. Das bedeutet alles andere als haltlose Phantasterei. Wenn die Überlegungen zur Konstruktion einer Geschichtsregion Nordosteuropa – oder wie sie immer auch benannt werden mag – mit so viel Engagement und Behutsamkeit wie hier vorgetragen werden, dann befindet sich die Forschung auf einem noch sehr weiten, aber dem guten und aussichtsreichen Weg, der, wie gesagt, das Ziel ist.