„… und dann kam doch alles anders, als es die meisten noch kurz zuvor geglaubt hatten.“ So etwa ließe sich der Beginn des Buches von Pami Aalto über das Engagement der Europäischen Union in Nordeuropa zusammenfassen. Ausgangspunkt von Aaltos Analyse ist die Feststellung, dass viele Vorhersagen noch der späten neunziger Jahre offensichtlich die Fähigkeit der EU unterschätzt haben, ihren Einfluss geltend zu machen und im Rahmen der Erweiterung um die ost- und mittelosteuropäischen Staaten auch die baltischen Länder einzubeziehen, obwohl diese weitaus stärker als die übrigen in der Einflusssphäre Russlands verankert waren, die dieses von der Sowjetunion geerbt hatte. Zugegebenermaßen genießt Aalto den Vorteil, dass eine sich langfristig und durchaus träge anbahnende Entwicklung durch den Beschluss, im Mai 2004 die allermeisten der Antragsteller aufzunehmen, inzwischen ein Ende gefunden hat. Hinterher ist man eben immer schlauer. Doch was lässt sich daraus schließen?
Obwohl die Idee einer europäischen Föderation im eigentlichen, traditionellen, staatsrechtlichen Sinne sich auch in den 1990er Jahren nicht hat durchsetzen können, postuliert Aalto eine nachhaltige Beeinflussung der in unterschiedlicher Weise durch gemeinsame Regelungen integrierten Staaten durch die EU in praktisch allen Politikbereichen. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Frage der Akteurseigenschaften von Gebilden wie der Europäischen Union. Mit anderen Worten: Es ist die Herausbildung einer geopolitischen Subjektivität, die entscheidend für den Prozess der Erweiterung um die baltischen Staaten und die damit verbundenen Veränderungen in den Beziehungen zwischen der EU und den baltischen Ländern bzw. der EU und Russland gewesen ist. Eine staatszentrierte Betrachtung und insbesondere die Auffassung von der EU als einer internationalen Organisation, die lediglich den Rahmen für die regionale Kooperation unter den nordeuropäischen Staaten bildet, ist damit massiv in Frage gestellt.
Aalto verankert seine Studie nicht im Rahmen der Theoriebildung zur europäischen Integration, da sich diese mit den inneren Prozessen der Integration befasst. Hier steht die außenpolitische Komponente im Mittelpunkt, und zwar in einem umfassenden Sinne, der nicht der formalen Einteilung in die drei Säulen der europäischen Integration folgt, sondern all das als EU-Außenpolitik versteht: „what is said and done to others under the EU flag, either by representatives of the Union institutions or by member states, and what these ‘others’ take as EU action“ (S. 9). Dieser Rahmen überschreitet die klassische „westfälische“ Sichtweise, die Aalto zufolge für die Konstituierung eines internationalen Akteurs Kriterien anlegt, die in Analogie zum modernen Nationalstaat gewonnen wurden: eine gemeinsame Identität, die Fähigkeit zur Formulierung gemeinsamer außenpolitischer Interessen, die Verfolgung einer politisch-strategischen Linie in den Beziehungen zu anderen Akteuren sowie schließlich die materielle Fähigkeit, eine Außenpolitik zu verfolgen. Gemeint ist die Wirkung all der unterschiedlichen Aktivitäten, nämlich wie die betroffenen Staaten und Regionen auf die Aktivitäten der EU reagieren. Zu berücksichtigen sind dabei die unterschiedlichen Reaktionen von stärker und weniger stark integrierten Staaten, „widerspenstigen“ („reluctant“) und „schwierigen“ („awkward“) Mitgliedern, neuen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern. Entscheidend ist schließlich das intersubjektive Moment, womit die Studie einem konstruktivistischen Ansatz folgt.
Das Buch besteht aus neun Kapiteln: Der Einleitung folgt zunächst eine Übersicht und Bewertung der Erweiterung der Union um Finnland und Schweden sowie der Anbindung Norwegens und Islands bis Mitte der neunziger Jahre. Auch die (vergleichsweise geringe) Bedeutung der Wiedervereinigung Deutschlands wird hier verhandelt. Das dritte Kapitel widmet sich dem post-sowjetischen geopolitischen Raum, worunter Aalto in Unterscheidung vom post-kommunistischen Raum der Transformationsländer Osteuropas insgesamt den Einzugsbereich der ehemaligen Sowjetunion versteht. Hier entwickelt Aalto den Ansatz eines Europas der konzentrischen Kreise, in dem sich ein abgestuftes Kraftfeld der Union bildet. Basierend auf Aspekten der Literatur zum Regieren in Netzwerken („network governance“) und zur Funktion von Grenzen einerseits sowie der Literatur zur EU als Modell eines Empires andererseits, lässt sich die geopolitische Ordnung im Norden Europas demnach als ein Modell von konzentrischen Kreisen wiedergeben, in dessen Zentrum die institutionelle Dichte Brüssels und anderer Institutionen steht. Diesem Zentrum am nächsten stehen weitgehend integrierte „Insider“-Staaten, die in praktisch allen Sektoren an der vergemeinschafteten Politik teilnehmen. Um sie herum gruppieren sich so genannte „Semi-Insider“, die entweder aufgrund von opt-outs Integrationsvorbehalte in bestimmten Politikfeldern geltend gemacht haben oder die dem Zentrum erst im Laufe ihrer Transformationsperiode näher rücken werden. In einem dritten Kreis schließlich befinden sich benachbarte „Outsider“ bzw. „Semi-Outsider“. Während Russland, das derzeit keine Beitrittsperspektive besitzt, insgesamt einen „Outsider“ darstellt, rangieren seine nordwestlichen Regionen durch ihre Einbindung im Rahmen der Nördlichen Dimension der EU als „Semi-Outsider“. Die Ostseeregion sowie darüber hinaus der gesamte erweiterte Norden Europas, der etwa auch die Barentsregion umfasst, erstreckt sich über alle drei Kreise hinweg und tangiert einerseits das Zentrum sowie in unterschiedlich weit reichendem Maße Russland. Im Hinblick auf die Ziele der EU unterscheidet Aalto zwischen Identitäts- und Interessenprojekten, die wiederum nach Zeit- und Raumaspekten bzw. nach geo-politischen, auf einzelne Sektoren oder Politikfelder beschränkten, und umfassenderen, geo-strategischen Aspekten zu behandeln sind.
Die Quellengrundlage der Studie umfasst eine Zahl von etwa 300 Dokumenten von EU-Institutionen, neuen und alten Mitgliedsstaaten und Russlands sowie die Darstellung von Sichtweisen im Rahmen von 36 Experteninterviews und einer speziellen q-methodologischen Untersuchung der Einstellungen von EU-Beamten und politischen Entscheidungsträgern in den baltischen Staaten und Russland. Darüber hinaus wertet der Verfasser empirische Daten etwa zu Handelsströmen aus.
Die nachfolgenden Kapitel 4 bis 8 stellen nacheinander die Sichtweisen der EU, der baltischen Länder sowie Russlands und seiner nordwestlichen Regionen bezüglich der Bemühungen der EU dar, aktiv an der Etablierung einer neuen geopolitischen Ordnung in Nordeuropa mitzuwirken. Das abschließende neunte Kapitel untersucht eingehender als die vorhergehenden und zudem im direkten Vergleich, welche unterschiedlichen Auffassungen bei Akteuren innerhalb des zweiten und dritten Kreises – also bei „Semi-Insidern“ und „Outsidern“ bzw. „Semi-Outsidern“ – zu beobachten sind. Hier kommt die Q-Methode zum Einsatz, mit deren Hilfe sich Typen subjektiver Sichtweisen bilden lassen. Aalto ließ 36 Experten aus Politik und Verwaltung der baltischen Staaten und der Region Kaliningrad den Grad ihrer Zustimmung zu Aussagen über Charakter und Ziel der EU in Nordeuropa angeben, die von verschiedenen Akteuren aus den drei verschiedenen Integrationszonen zu den Identitäts- und Interessenprojekten gemacht worden sind.
Im Ergebnis zeigt sich einerseits weitgehende Übereinstimmung zwischen den baltischen Neu-Mitgliedern und dem „Outsider“ Russland im Hinblick auf die positive Zielsetzung der EU, die europäische Teilung zu überwinden. Allerdings ist auch die Furcht vor neuen Grenzen zu beobachten, die die Region negativ betreffen könnten. Darüber hinaus existiert eine milde Form von Euroskeptizismus, die das Tempo der Integration kritisiert, ohne allerdings eine wichtige Rolle der EU auf regionaler und globaler Ebene in Frage zu stellen; in Estland und Lettland ist zudem auch eine verschärfte Variante erkennbar, die supranationale Integration grundsätzlich in Frage stellt. Dass sich die Auffassungen nicht nur im Ländervergleich sondern gleichzeitig auch innerhalb der Länder unterscheiden, zeigt, wie gemischt die Befindlichkeiten am Rande der EU durchaus sind. Während sich die These, dass sich die EU gemäß einem Modell konzentrischer Kreise entwickelt, insgesamt bestätigen lässt, zeigen sich an den Rändern territoriale und funktionale Überlappungen und gewisse Unschärfen ihrer Grenzen, auch zwischen den verschiedenen Kreisen. Angesichts der Ängste vor neuen Abgrenzungen und euroskeptischen Einstellungen bleibt der EU nach Aaltos Einschätzung letztlich keine Alternative zu dieser Entwicklung. Ganz deutlich stellt sich die EU jedoch als zentraler Bezugspunkt in der Region dar, während die USA und die NATO rapide an Bedeutung verloren haben. Der flexible Charakter der geopolitischen Ordnung, wie er hier hervortritt, lässt hingegen nicht wenig Raum für Regionalisierungsprojekte.