NORDEUROPAforum
Zeitschrift für Politik,
Wirtschaft und Kultur
ISSN 1863639X
1/2009
19. Jahrgang (12. der N.F.)
Seiten 129-132

Lars M. Andersson und Karin Kvist Geverts (Hg.): En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920–1950. Uppsala: Swedish Science Press 2008 (= Opuscula Historica Upsaliensa; 36), 311 S.

Seit einem guten Jahrzehnt findet der Forschungsbereich Holocaust Studies auch in Schweden immer größeres Interesse. Für die Forscher/innen bedeutet das, sich nicht nur mit Schwedens Rolle im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, sondern auch mit der Frage nach konkreten Hilfseinsätzen für die Opfer des Nationalsozialismus. Unter diesem Aspekt stellt die schwedische Flüchtlingspolitik – besonders im Falle jüdischer Flüchtlinge – ein ergiebiges Forschungsfeld dar, das den Schwerpunkt des vorliegenden Sammelbands bildet. Das von den Herausgeber/innen Kvist Geverts und Andersson formulierte Hauptanliegen des Buches ist es, Veränderung, Praxis und ideologische Aspekte der schwedischen Flüchtlingspolitik 1920–1950 aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Kvist Geverts und Andersson geben einleitend einen Überblick über die bisherige Forschung zum Thema, wobei auch die Desiderata angesprochen werden. Theoretische Perspektiven auf flüchtlingspolitische Themen sind selten in der schwedischen Forschung. Verschiedene Ebenen der Analyse wie Gesetzgebung, Praxis und Argumentation wurden jeweils einzeln beleuchtet, aber nur in Ausnahmefällen synthetisiert. In diesem Sinne fordern die Herausgeber/innen eine Kontextualisierung des empirischen Materials, die ein neues Licht auf die Motive der schwedischen Flüchtlingspolitik werfen kann. Das Verhalten der schwedischen Behörden im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel müsse in einem politischen Kontext analysiert und bewertet werden.

Die Anthologie ist in vier Teile gegliedert. Den Beiträgen zu Flüchtlingspolitik und jüdischen Flüchtlingen ist ein ausführlicher und ergiebiger Artikel zum Begriff der Vernichtung (förintelsen) vorangestellt. Stéphane Bruchfeld setzt sich mit der Entstehung und dem Wandel dieses Begriffs auseinander, indem er zum einen den lexikographisch-enzyklopädischen Diskurs analysiert und zum anderen zeigt, wie der Begriff in der Forschung operationalisiert worden ist. Wurde der Begriff förintelsen am Anfang ausschließlich für die Ermordung der europäischen Juden gebraucht, kann Bruchfeld zeigen, dass er heute eher als Sammelbezeichnung für die Verfolgung unterschiedlicher Gruppen durch den Nationalsozialismus dient und als solcher mehrdeutig und sogar widersprüchlich ist. Deshalb, so Bruchfeld, sollte der Begriff förintelsen vermieden und der Untersuchungsgegenstand immer spezifiziert werden.

In den vier Beiträgen des zweiten Teils der Anthologie wird die schwedische Flüchtlingspolitik zur Zeit des Nationalsozialismus kritisch beleuchtet. Aus verschiedenen Aspekten heraus werden Haltung, Argumentation und Praxis der jeweiligen schwedischen Behörden unter die Lupe genommen. Die Beiträge zeigen, dass die schwedische Flüchtlingspolitik von der jeweils aktuellen Entwicklung des Krieges abhing und dass antisemitische Stimmungen im öffentlichen Diskurs gängig waren. Karin Kvist Geverts, Lena Andersson und Mikael Byström können in verschiedenen Studien feststellen, dass die Position des Nationalsozialismus und/oder eines expliziten Antisemitismus im öffentlichen Diskurs Schwedens zwar verpönt war, dass aber eine moderate antisemitische Haltung dennoch legitim erschien. Schließlich gebe es eine „Judenfrage“, deren negative Auswirkungen es in Schweden zu vermeiden gelte. Dieses Phänomen wird unter der von Stéphane Bruchfeld geprägten Bezeichnung det antisemitiska bakgrundsbruset (das antisemitische Hintergrundrauschen) subsumiert: ein Geräusch, das weder deutlich noch fassbar sei, das letzten Endes aber entscheidenden Einfluss auf die Bildung unseres Bewusstseins nehme. Der Beitrag von Tobias Berglund stellt den Zynismus der schwedischen Flüchtlingspolitik bloß, indem er nachweist, dass diese unmittelbar mit den Stärkeverhältnissen an der Front einherging: 1943 veränderte sich die Zusammensetzung der internierten Flüchtlinge in den schwedischen Lagern. Statt der bis dahin häufigeren Gefangennahme von Juden und Kommunisten wurden nun vor allem Nazis und Kollaborateure aus Dänemark und Norwegen interniert.

Die drei Beiträge im dritten Teil behandeln einige zentrale Hilfsorganisationen und ihre Arbeit für die jüdischen Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg. Der Mosaischen Gemeinde in Stockholm wurde nach dem Krieg vorgeworfen, eher restriktiv gegen jüdische Asylanten in Schweden vorgegangen zu sein. Dem widerspricht Pontus Rudberg in seiner Studie zur Hilfsarbeit der Stockholmer Mosaischen Gemeinde 1938–1940. Rudberg meint, dass die Gemeinde sich trotz des engen Spielraums der Behörden und der Asylgesetzgebung stets um eine Erhöhung der Flüchtlingsquote bemüht habe. Malin Thor beschäftigt sich in ihrem Artikel über die mosaische Gemeinde in Norrköping mit dem an sich interessanten Ausgangspunkt der Kritik an den jüdischen Gemeinden; offensichtlich herrschte die Vorstellung, dass die „Juden in Schweden“ – und nicht der schwedische Staat – eine besondere Verantwortung für die verfolgten Juden Europas tragen sollten. Diese Vorstellung einer jüdischen Gemeinschaft und der damit zusammenhängenden Identität analysiert Thor mithilfe von Benedict Andersons Konzept der imagined communities. Über bedeutende Hilfseinsätze der Schwedischen Missionsgemeinde sowie der Schwedischen Israelmission berichtet Pär Frohnert in seinem Beitrag. Allerdings konstatiert er ebenfalls, dass die Flüchtlinge innerhalb der Hilfsaktionen in impliziten Hierarchien kategorisiert wurden, wobei den „Judenchristen“ der höchste Rang zukam.

Der vierte und letzte Teil liegt thematisch etwas neben der Hauptspur des Sammelbands, enthält dennoch drei Beiträge, die Bedingungen der jüdischen Flüchtlinge sowie der Hilfseinsätze exemplarisch beleuchten. Paul A. Levine will das eher mythisierende Narrativ der Gestalt Raoul Wallenbergs empirisch aufklären, ohne dessen humanitäre Leistungen zu schmälern. Levine weist mithilfe von Dokumenten darauf hin, dass Wallenberg keinesfalls einen offiziellen Auftrag von schwedischer Seite hatte, die ungarischen Juden zu retten. Er sei als Beobachter und Berichterstatter nach Budapest entsandt worden und seine Rettungseinsätze seien auf eine private Initiative zurückgegangen. Die problematische Situation der ungarischen Juden ist auch Gegenstand des anspruchsvollen Beitrags von Laura Palosuo. Aus einer intersektionellen Perspektive analysiert sie die Auswirkungen der antijüdischen Gesetze in Ungarn 1938–1941.

Der letzte Beitrag, der ebenfalls an Ungarn anknüpft, illustriert die schwedische Flüchtlingspolitik aus Sicht der Opfer. Ilona Treitel beschreibt anhand von Dokumenten aus ihrer eigenen Familie (sie kam 1938 als einjähriges Flüchtlingskind nach Stockholm), mit welchen Schwierigkeiten jüdische Flüchtlinge in Schweden konfrontiert waren.

Die vorliegende Anthologie versammelt wichtige empirische Studien, die sich teilweise mit ganz neuen Themen oder zumindest mit neuen Perspektiven auf alte Themen beschäftigen. Die in der Einleitung thematisierte Einbettung in einen historischen, politischen Kontext gelingt in sämtlichen Beiträgen, womit der Sammelband als wichtiger Beitrag im Rahmen der schwedischen Holocaust Studies zu betrachten sein wird. Theoretische Aspekte bleiben jedoch auch hier größtenteils auf der Strecke. Ausnahmen stellen die Beiträge von Thor und Palosuo dar. Möglicherweise hätte eine stärker ausgerichtete Transdisziplinarität der Anthologie gut getan. Zehn der zwölf Beiträge sind von Historiker/innen verfasst, und so bleiben Betrachtungsweisen und methodische Ansätze mitunter etwas konform.

Nichtsdestotrotz füllt die Anthologie eine Lücke in der Forschung zur schwedischen Flüchtlingspolitik und sollte als Anregung für weitere Studien dienen. Besonders spannend wäre dabei die Frage, die im Einleitungskapitel angesprochen, jedoch leider nicht verfolgt wird: Inwiefern sind die Argumentationsmuster der Flüchtlingsdebatte in den 1930er Jahren auch im heutigen Diskurs vorhanden?

Charlotta Brylla (Berlin)