NORDEUROPAforum
Zeitschrift für Politik,
Wirtschaft und Kultur
ISSN 1863639X
1/2009
19. Jahrgang (12. der N.F.)
Seiten 137-139

Susanne Jungerstam-Mulders (ed.): Post-Communist Member States. Parties and Party Systems. Aldershot: Ashgate 2006, 257 S.

Mit ihrer Aufnahme in die Europäische Union im Jahr 2004 haben die Staaten Mittel- und Osteuropas eine entscheidende Phase ihres Übergangs zu Demokratie und Marktwirtschaft abgeschlossen. Wie sich die Parteien und Parteiensysteme der so genannten „jungen Demokratien“ seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 entwickelt haben, ist ausführlich erforscht worden. Jenseits dieser Demokratisierungsperspektive ist ihnen jedoch im Vergleich zu Westeuropa nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Hier setzt der von Susanne Jungerstam-Mulders von der Universität Helsinki herausgegebene Sammelband über die acht Beitrittsstaaten von 2004 an. Die vergleichend angelegte Untersuchung ist der durchaus gelungene Versuch, gleichsam normale, sprich: westliche Maßstäbe an die Analyse von Parteien und Parteiensystemen in Mittel- und Osteuropa anzulegen.

Der Sammelband besticht zunächst durch seine klare Gliederung und Fragestellung. Eingerahmt von Einleitung und Schlusskapitel, die beide von der Herausgeberin verfasst worden sind, besteht der Hauptteil des Buches entsprechend der Zahl der post-kommunistischen Beitrittsstaaten von 2004 aus acht Länderanalysen über Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien sowie die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Obwohl die deskriptiv-analytischen Länderfallstudien vornehmlich die jeweiligen nationalen Besonderheiten in der Entwicklung von Parteien und Parteiensystemen herausarbeiten, gehen sie stets auch auf drei übergreifende Themen ein, die Jungerstam-Mulders in der Einleitung formuliert: erstens das thematische und ideologische Spektrum, das die Parteiensysteme strukturiert, zweitens der Parteienwettbewerb einschließlich Wahlsystem, Wählerverhalten und Wahlergebnissen, und drittens die Parteiorganisationen im Hinblick auf sowohl innerparteiliche Strukturen als auch die jeweiligen Verbindungen zu Staat und Gesellschaft.

In einem Zeitungsinterview äußerte sich die ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga kürzlich folgendermaßen: „Viele Einwohner bringen den Begriff Demokratie mit dem Parteiensystem in Verbindung. Das Wort Partei ist jedoch ein Schimpfwort in postkommunistischen Ländern. Parteimitglied zu sein, ebenso. Auch ich mag das Wort nicht und bin nie einer Partei beigetreten.“ Das offenherzige Bekenntnis Vīķe-Freibergas, die immerhin zu den wenigen im Volk noch beliebten Politikern ihres Landes gehört, fasst wesentliche Erkenntnisse des Bandes zusammen. Die Parteiensysteme der acht mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten sind nach wie vor bemerkenswert schwach und instabil. Im Vergleich zu den 15 alten Mitgliedstaaten der EU sind sie stark fragmentiert, das heißt von einer oft unübersichtlichen Vielzahl von Klein- und Kleinstparteien gekennzeichnet, die in einem ständigen Prozess der Gründung und Auflösung, Fusion und Abspaltung fluktuieren. Die Beteiligung an Wahlen ist im Durchschnitt deutlich niedriger als in den alten Mitgliedstaaten, während das Wahlverhalten erheblich wechselhafter ist. Diese hohe Volatilität korrespondiert zugleich mit einer vergleichsweise schwachen Wählerbindung und Verankerung der Parteien in der Gesellschaft. Folglich sind die Parteien in der Regel nur lose strukturiert und ohne bedeutende Mitgliederbasis. Kurzum: In Mittel- und Osteuropa herrscht Parteienverdrossenheit.

Was die Länderanalysen betrifft, sind aus nordeuropäischer Perspektive vor allem die vier Ostseestaaten von Interesse. Die Fallstudien unterstreichen über weite Strecken den Befund allgemeiner Parteienverdrossenheit, differenzieren ihn aber auch. So arbeitet Evald Mikkel (Universität Tartu) im Beitrag über Estland beispielsweise zwei Aspekte heraus, die das estnische Parteiensystem trotz aller Probleme relativ stabil erscheinen lassen: zum einen die Dominanz städtischer über ländliche Interessen und zum anderen die bislang ungebrochene Hegemonie rechtsorientierter Parteien über alle anderen politischen und ideologischen Orientierungen. Estland bietet diesbezüglich einen interessanten Kontrast zu Polen, wo die Genese der parteipolitischen Rechten von zahlreichen Spaltungen und Neugründungen begleitet worden ist. Dabei ist diese Fluktuation, wie der Beitrag von Aleks Szczerbiak (Universität von Sussex) zeigt, nicht allein auf die Parteien beschränkt. Auch viele gewählte Abgeordnete verlassen im Laufe einer Legislaturperiode ihre Fraktion – zwischen 2001 und 2004 war es zum Beispiel mehr als jeder fünfte – mit der Folge, dass amtierende Regierungen ihre parlamentarische Mehrheitsbasis verlieren. Wie Polen weist auch Lettland ein hochgradig fragmentiertes Parteiensystem auf. Das einzige Indiz für Stabilität und Konsolidierung, auf das die beiden Autoren Aiga Štokenberga und Artis Pabriks, lettischer Außenminister von 2004 bis 2007, hinweisen können, ist die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung von durchschnittlich 70 Prozent. Dieser Wert wird jedoch dadurch relativiert, dass in Lettland rund 30 Prozent der Einwohner zumeist russischer Herkunft nach wie vor keine Staatsbürgerschaft besitzen und damit von der Wahl ausgeschlossen sind. Litauens Parteiensystem dagegen war, wie Ainė Raimonaitė (Universität Vilnius) darlegt, im ersten Jahrzehnt nach Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit von außergewöhnlicher Stabilität gekennzeichnet, bevor es durch die Parlamentswahlen im Jahr 2000 eine nachhaltige Erschütterung erlebte, in deren Folge sich die gleichen Anzeichen von Instabilität einstellten wie in den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Ländern.

Im Grundsatz unterscheiden sich die Verhältnisse in den baltischen Staaten und Polen nicht von denen in den anderen untersuchten Ländern. Doch auch in vergleichender Perspektive stechen die vier Ostseestaaten hervor. So fasst Jungerstam-Mulders im Schlusskapitel noch einmal den Problemhaushalt der mittel- und osteuropäischen Parteiensysteme zusammen und kommt dann zu dem Schluss, Polen und die baltischen Staaten hätten wohl am stärksten unter parteipolitischer Instabilität zu leiden, während die relativ stabilsten Parteiensysteme in Tschechien und Ungarn zu finden seien.

Viel zu kritisieren gibt es an dem Band nicht. Zwar sind nicht alle Länderstudien von gleich hoher analytischer Qualität – der lettische Beitrag fällt diesbezüglich ein wenig ab – und im Schlusskapitel hätte man sich weniger Zusammenfassung und dafür mehr Vergleich und weiterführende Betrachtung gewünscht, doch schmälert dies nicht den positiven Gesamteindruck. Vielleicht liegt das besondere Verdienst des Sammelbandes aber weniger im Detail der Ergebnisse als im Ansatz der Analyse selbst. Sicherlich haben die Parteiensysteme in Mittel- und Osteuropa noch längst nicht den Grad an Konsolidierung und demokratischer Reife erlangt wie in Westeuropa. Zugleich aber scheinen die Zeiten endgültig vorbei, als lebhaft darüber diskutiert wurde, ob die Länder Mittel- und Osteuropas überhaupt mit den für westliche Parteiensysteme entwickelten Begriffen, Kategorien und Modellen angemessen analysiert werden können. Sie können, wie der Sammelband von Jungerstam-Mulders beweist, und in diesem Sinne ist auch in Mittel- und Osteuropa inzwischen ein erfreuliches Maß an Normalität eingekehrt.

Carsten Schymik (Berlin)