Austrumu robeža (Ostgrenze) ist der Name eines Lokals in Riga, das vor Jahren mit der ironischen Erinnerung an die Sowjetunion zumindest bei ausländischen Touristen beliebt war. Die „Ostgrenze“ dort verlief nicht im Raum, sondern in der Zeit. Ein solches Grenzverständnis ist in dem Band einer Tagung am Europäischen Hochschulinstitut nicht anzutreffen, es hätte aber möglicherweise zur Fokussierung der „baltischen Grenze“ beitragen können.
Erklärtes Ziel des Buches ist, Geschichte und Gegenwart des Ostseeraums mithilfe von Frederick Turners bekanntem Frontier-Konzept von 1893 zu analysieren. Auch wenn ein solcher transatlantischer Transfer nicht gänzlich neu ist, so ist er dennoch anspruchsvoll und auch anregend. Freilich haben sich nicht alle der vierzehn Autoren an die konzeptionellen Überlegungen der Herausgeber gehalten, sondern nehmen zum Teil nur sehr kursorisch darauf Bezug.
Stefan Donecker diskutiert in der Einführung zunächst allgemein die Übertragung von Turners Konzept auf das östliche Europa und sieht Anknüpfungspunkte insbesondere im Mittelalter mit den Kreuzzügen in der Ostseeregion. Zweifellos ist die Frontier-Hypothese in diesem Kontext populär, aber doch nicht so allgemein akzeptiert, wie hier behauptet wird (Selart 2007, 21; Urban 2001, 45–71). Von open space für die nordwestrussischen Regionen zu sprechen, ist nicht zutreffend. Zudem läuft eine plakative Verwendung von frontier Gefahr, in die Nähe unkritischer Vorstellungen eines clash of cultures zu geraten (die ausführlichen Diskussionen im „Culture Clash or Compromise“-Projekt, haben die Autoren leider nicht zur Kenntnis genommen), insbesondere wenn Linien vom Livländischen Krieg über die Russophobie des 19. Jahrhunderts bis zur Krise um den „Bronzesoldaten“ in Tallinn 2007 gezogen werden. Doneckers Interesse gilt freilich der Anwendung auf die Frühe Neuzeit, was mit Blick auf die Nordischen Kriege sinnvoll, jedoch ebenfalls nicht völlig neu ist (Selart 2005, 9–30). Er schlägt einen quasi post-imperialen Zugriff auf Turner vor, der sich aus drei Punkten speist: Stereotypen in den Begegnungen zwischen West und Ost, Rückwirkungen der Grenzregionen auf die Zentren und schließlich dem Mythos der Grenze. Ko-Herausgeberin Imbi Sooman tendiert dagegen dazu, das Frontier-Konzept abzulehnen und durch encounters zu ersetzen. Stattdessen will sie eher über Regionsbildung sprechen, kritisiert dabei aber paradoxerweise „baltisch“ als Bezeichnung für die Region, so dass sich in ihrem Beitrag zur Einleitung der Gegenstand des Buches gleichsam verflüchtigt.
In den folgenden Beiträgen untersucht Linda Kaljundi die performance der Grenze während der Kreuzzüge im Ostseeraum anhand der Chronik Helmolds von Bosau und bedient sich dabei der Theoreme von Übergangsriten und Liminalität. Gewiss ist eine solche Textanalyse sinnvoll, sie kann aber doch nicht verdecken, dass die Rolle der Apostasie nach dem Lutizenaufstand von 983 in der Begründung der Auseinandersetzung mit den Elbslawen längst bekannt ist. Kaljundis Argumente hätten sicher an Gewicht gewonnen, wenn sie die bisherige Helmold-Forschung einbezogen hätte.
Stefan Donecker untersucht die frühneuzeitlichen Baltikumsdiskurse und stellt die Aufsegelung als narratives Element von manifest destiny in der deutschen Historiographie heraus. Er bezieht die Grenzsituation auf externe und interne Antagonisten (d.h. Russen und nicht-deutsche Bauern). Zur Analyse zieht er neben der Carta Marina von Olaus Magnus auch zeitgenössische bildliche Darstellungen zur Grausamkeit der Anderen heran. Gerade der Vergleich mit Südamerika ist nicht uninteressant, und zweifellos ist Doneckers These, bei der frontier handele es sich vor allem um eine diskursive Konstruktion, zuzustimmen; allerdings sollte sie gerade für das 16. Jahrhundert historisiert und nicht als zeitlose Gegebenheit überhöht werden.
Holger Berg untersucht die Politik ethnischer Abgrenzungen in Riga anhand von drei Ältermännern in der Großen Gilde von 1558 bis 1611. Ähnlich wie Donecker bezieht er die Abgrenzung sowohl auf auswärtige Mächte (Russland, Polen-Litauen) wie auf die lokale „undeutsche“ Bevölkerung. Wie Berg allerdings auf die Idee kommt, das Rigaer Herder-Institut sei nach 1945 nach Marburg verlagert worden, bleibt unklar.
René Tebel analysiert mittelalterliche und frühneuzeitliche Karten zur Baltic frontier, er betrachtet neben anderen die Ebstorfer Weltkarte und Portolan-Karten. Dass auf den ptolemäischen Karten der Name „balticum“ nicht auftaucht, kann freilich nicht überraschen. Die Materialien sind interessant, allerdings stört die anachronistische Begrifflichkeit: Der Autor spricht von westlichen Karten um 1300 sowie von Peripherie, Brücke, Nachbar etc. Zudem hätte er vielleicht auch auf die 1475 in Lübeck gedruckte Karte in Lucas Brandis’ Rudimentum novitiorum eingehen können.
Maureen Perrie befasst sich mit der baltischen Region als russischem Hoheitsgebiet. Insbesondere geht sie auf Stalins und Sergej Eisensteins Bezugnahmen auf Ivan Groznyj und den Livländischen Krieg während des Zweiten Weltkriegs ein. Ein Frontier-Konzept für Russland mit Blick auf die baltische Region lehnt sie ab, sondern spricht eher von „borderlands“. Ob Peter der Große allerdings die baltische Region als Puffer gegen Deutschland betrachtete, erscheint mir zweifelhaft.
Lars Fredrik Stöcker beschreibt ausführlich sein Dissertationsprojekt zu transnationalen Kontakten im Ostseeraum während des Kalten Kriegs. Auch er lehnt den Frontier-Begriff ab; stattdessen beabsichtigt er in Anknüpfung an die Nordosteuropa-Diskussion, die Ost-West-Grenze überschreitende Raumkonstitutionen im Kalten Krieg zu untersuchen, was zweifellos einen interessanten Ansatz darstellt. Katja Wezel untersucht Clashes of Commemoration zwischen der lettischen und der russischsprachigen Bevölkerung in Lettland und kritisiert das Versagen der lettischen Politik, eine Brücke zur russischen Minderheit zu bauen.
Die weiteren Beiträge gehen auf das Grenzproblem nicht weiter ein. Zu erwähnen ist Marta Grzechniks Beitrag zum 1925 gegründeten polnischen Ostseeinstitut. Sie stützt sich auf eine Analyse seiner Publikationen, dagegen bleiben die Institutsgeschichte und vor allem seine transnationalen Beziehungen, sowohl in den Kontroversen mit deutschen Institutionen als auch in der ostseeregionalen Politik des Instituts, weitgehend ausgeblendet. Das ist insofern bedauerlich, als gerade in einer beziehungsgeschichtlichen Betrachtung die Bedeutung des Instituts gezeigt werden könnte.
Magnus Ilmjärv gibt einen Überblick über die russische Historiographie der letzten Jahre zur sowjetischen Baltikumspolitik, die nach wie vor überwiegend patriotisch-apologetisch ist. Allerdings sieht Ilmjärv durchaus Modifikationen früherer Thesen von faschistischen oder aggressiven Tendenzen und innerer Revolutionen in den baltischen Staaten. Entscheidend ist hier immer noch das Problem, die Okkupation der baltischen Staaten beim Namen zu nennen. Imbi Sooman gibt eine chronikalische Übersicht über den Konflikt um den „Bronzesoldaten“. Freilich hätte sie die Relevanz der angeführten Meinungsäußerungen aus dem Internet reflektieren können, auch lassen ihre stichpunktartigen Schlussfolgerungen einen argumentativen Zusammenhang vermissen.
Die weiteren Beiträge befassen sich mit skandinavischer Literatur zum Baltikum, bäuerlicher Bildungspolitik in Livland im 19. Jahrhundert, Sprachenpolitik und Nationsbildung zwischen Lettland und der Ukraine sowie Holocaust-Diskursen als Indikator politischer Kultur in Osteuropa. In Vija Daukštes Beitrag wird allerdings die Dechiffrierung der russischen Namen und Literaturangaben durch eine unsystematische Transkription erheblich erschwert.
Die in Qualität und Fragegestellung recht heterogenen Beiträge lassen kein eindeutiges Fazit zu. Der Rückgriff auf Turners frontier scheint nur zu funktionieren, wenn man ganz allgemein von einer Grenzlage der baltischen Region spricht. An die Stelle plakativer Parolen sollte dann freilich eher die genaue historische und kulturwissenschaftliche Analyse treten. Mit Blick auf die historischen Fragestellungen ist eine Historisierung als genuin disziplinäre Leistung nicht überholt und würde zudem auch ein solides Fundament für kulturalistische Interpretationen schaffen.
Literaturverweise:
Selart, Anti: „Steinkuhl und Zabolockij. Ein Kommentar zur Chronik Johann Renners“. In: Olaf Mertelsmann (Hg.): Estland und Russland. Aspekte der Beziehungen beider Länder. Hamburg 2005.
Selart, Anti: Livland und die Rus’ im 13. Jahrhundert. Köln 2007.
Urban, William L.: „The frontier thesis and the Baltic crusade“. In: Alan V. Murray (Hg.): Crusade and conversion on the Baltic frontier, 1150–1500. Aldershot 2001.
Jörg Hackmann (Szczecin/Södertörn)