Peter Tudvad: Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne. København: Rosinante 2010, 585 S.
Das hier zu besprechende Werk verdient größten Respekt: Es betritt thematisch Neuland und fußt zugleich auf einer immensen Arbeitsleistung. Während die bescheidene einschlägige Forschung bislang dazu neigte, Kierkegaard für seine antisemitischen Ausfälle in Schutz zu nehmen (diese seien nicht ernst, sondern ironisch gemeint und zielten indirekt auf eine Kritik des zeitgenössischen Christentums), nimmt Peter Tudvad Kierkegaards feindselige Haltung gegenüber Juden und dem Judentum ernst. Er fragt nach den Ursachen dieser Judenfeindschaft und nach deren Auswirkungen auf das theologisch-philosophische Denken Kierkegaards.
Die Arbeit fußt dabei sowohl auf einem Durchgang des veröffentlichten und unveröffentlichten Gesamtwerks des Philosophen, als auch auf einer damit verknüpften Analyse zeitgenössischer Positionen zur „Judenfrage“ und bezieht zudem Kierkegaards Beziehungen zu zeitgenössischen jüdischen Persönlichkeiten in Kopenhagen mit ein.
Tudvad verschränkt in seiner Herangehensweise einen biographischen mit einem kulturhistorischen Ansatz und betont dabei, dass Kierkegaards Antisemitismus nicht in dessen eher emanzipationsfreundlichem Elternhaus begründet, sondern ihm vielmehr im Rahmen seines Theologiestudiums vermittelt worden sei (vgl. S. 404). Das theologisch-philosophische Judenbild Kierkegaards habe sich in der Folgezeit verschoben: zunächst habe der „Ewige Jude“ eher als universales Sinnbild der allgemeinmenschlichen Verzweiflung gedient, allmählich sei das Judentum jedoch als das radikale Gegenteil des Christentums konstruiert worden, um schließlich in das Negativbild des nun ethnisch definierten Juden als „Ärgernis“ einzumünden (vgl. S. 494).
Der Auseinandersetzung mit Meïr Aron Goldschmidt, dem scharfzüngigen Herausgeber von Corsaren, kam dabei eine wesentliche Bedeutung zu. Der republikanische und gesellschaftskritische Autor wurde dabei von Kierkegaard zunehmend auf dessen „Judesein“ reduziert, Goldschmidts polemische Angriffe wurden als eine Umkehrung der Judenverfolgung hingestellt (S. 445).
Das Werk beginnt mit einer Darstellung der Literarischen Judenfehde von 1813 und des Pogroms von 1819, wobei diese Kapitel auch durch eine überfällige Auseinandersetzung mit den verharmlosenden Begrifflichkeiten und Geschichtsbildern der dänischen Nationalhistoriographie überzeugen. Im Hauptteil des Buches (S. 166–403) werden dann sechs unterschiedliche Felder untersucht, in denen sich bei Kierkegaard wie in der dänischen Gesellschaft Einstellungen zu Juden und Judentum artikulierten: Theologie, Politik, Theater, Geschichte, Literatur und bürgerliche Gesellschaft. Die additive Zusammenstellung dieser Felder erscheint dabei nicht unbedingt zwingend.
Tudvad unternimmt den Versuch aufzuzeigen, an welchen Punkten Kierkegaard „lediglich“ zeitgenössischen Strömungen folgt, und an welchen er eben originär eigene Positionen entwickelt. Methodisch ist diese Vorgehensweise sicherlich zu diskutieren. Unstrittig jedoch ist, dass in diesen Kapiteln mit großem Fleiß sehr aufschlussreiches Material zusammengetragen worden ist.
Aus deutscher Perspektive von besonderem Reiz ist auch, dass Tudvad Kierkegaards Interesse am Jungen Deutschland dokumentiert und dessen Neigung herausarbeitet, die Literaten dieser liberal gesinnten Gruppe im Vormärz der 1848er Revolution vor allem als Teile einer vermeintlich überwiegend jüdischen Bewegung zu diffamieren.
Tudvads monumentales Werk reiht sich in das jüngst (und man möchte hinzufügen: endlich) aufblühende Forschungsfeld der Geschichte der dänisch-jüdischen Beziehungen und die Erforschung der Geschichte der Judenfeindschaft im nördlichen Europa ein. Erinnert sei an die ebenfalls seitenstarken Publikationen von Sofie Bak oder Martin Schwartz-Lausten. Will man trotz der beeindruckenden Fülle des vorgelegten Materials abschließend kurz auf einen problematischen Aspekt eingehen, wäre darauf zu verweisen, dass man – ähnlich wie bei den genannten Werken – eine stärker methodische und theoretische Reflexion sowie eine Verortung im breiteren Forschungsfeld der europäisch-jüdischen Kultur- und Gesellschaftsgeschichte vermisst. Gerade angesichts seines Umfangs hätte zudem ein Register den Zugang zum Werk sicherlich erleichtert.