Terje Emberland, Jorunn Sem Fure (red.): Jakten på Germania. Fra nordensvermeri til SS-arkeologi. Oslo: Humanist 2009, 266 S.
1936 erhielt Adolf Hitler ein eigenartiges Geschenk von „SS-Reichsführer“ Heinrich Himmler: es handelte sich um eine Felszeichnung von der schwedischen Westküste, genauer gesagt, einen Abguss eines 3000 Jahre alten Bildes auf einer Felsplatte in Bohuslän, das ein Hakenkreuz darstellte. Der Abguss war von einer Forschungsinstitution innerhalb der „SS“ vorgenommen worden, die Himmler gerade gegründet hatte: dem „SS-Ahnenerbe“, das bis zu 100 Forscher beschäftigte, die archäologische, historische und rassenbiologische Beweise für die Überlegenheit der nordisch-germanischen Rasse sammeln sollten.
Für die Nationalsozialisten waren die skandinavischen Felszeichnungen aus dem Bronzealter ein Schlüsseldokument in der Darstellung der germanischen Rasse und ihrer uralten Kultur und Religion. Die Urheber der Zeichnungen stellte man sich als „Urgermanen“ vor, die seit der Steinzeit in einer geschützten, isolierten nordischen Welt gelebt hätten. Der Leiter des „SS-Ahnenerbes“ Herman Wirth ließ die Zeichnungen in Schweden abgießen, um sie in Deutschland in einem Freilichtmuseum als Beweis für eine germanische Ur-Religion zu zeigen, so dass die Deutschen die „Urkraft“ ihrer Vorväter erleben und ein Bewusstsein für ihren „germanischen Geist“ entwickeln könnten. Wirth hoffte auch, den Schlüssel zu den geheimnisvollen Zeichen zu finden, eine verborgene heilige Urschrift. Bei richtiger Deutung der Symbole sollte sich das gesamte Erbe der „atlantisch-nordischen Rasse“ öffnen.
Wirth kehrte von seiner ersten Schwedenreise mit 113 Betonabgüssen und zahlreichen Filmrollen zurück. Das komplizierte Gussverfahren war gefilmt worden und im Februar 1936 wurde eine exklusive Vorführung für Himmler organisiert. Der Abend endete mit dem Auftrag an Wirth, eine weitere, erheblich größere und teurere Expedition durchzuführen. Zwei Pkw und ein neuer Lastwagen mit sechs SS-Männern, darunter Wirth und Kameramann Helmut Bousset, verließen Berlin Anfang August 1936. Am 16. August kamen sie in Bohuslän an, wo sie weitere Abgüsse anfertigten, ehe sie nach Norwegen weiterreisten. Sie brachten ein imposantes Ergebnis mit zurück: Trotz kräftigen Widerstands schwedischer Behörden hatte man 59 Abgüsse aus Schweden, dazu kamen noch 31 aus Norwegen und 16 aus Dänemark. Die Kopien bedeckten nun insgesamt eine Fläche von 380 Quadratmetern.
In dem hier zu besprechenden Band Jakten på Germania. Fra Nordensvermeri til SS-arkeologi schildert Luitgard Löw dieses eigentümliche Forschungsprojekt. Sie ist damit eine von zehn ForscherInnen aus Norwegen, Schweden, Finnland und Deutschland, die unterschiedliche Aspekte der Mythenbildung um die nordisch-germanische Rasse untersuchen. Ausgegangen ist die Zusammenarbeit von einem Symposium an der Universität Oslo und dem dortigen Holocaust-Zentrum.
Im Band werden mehrere irrsinnige Beispiele für diese „Rassen-Mythenbildung“ genannt. Solche Ideen besaßen zu jener Zeit eine erschreckende Anziehungskraft, weil sie sich in einen Kontext einfügten, der sich bereits im allgemeinen Bewusstsein befand.
Die dunkle, brutale Seite des Nationalsozialismus wurde für viele von glänzenden „Fakten“ überdeckt, die als reale und „unschuldige” kulturhistorische Zusammenhänge dargestellt wurden und der Ideologie eine „reale“ Verankerung geben sollten.
Michael Irlenbusch-Reynard unterstreicht in seinem Beitrag, dass wissenschaftliche Forschung das Rohmaterial für die Germanenmythen und das, was die Verfasser passend „Germanenideologie“ nennen, lieferte. Umgekehrt beförderte die gerade etablierte Ideologie wiederum die weitere Forschung. Huhn und Ei, Wissenschaft und Ideologie, seien nicht zu trennen. Bereits 1846 war „Germanistik“, das „Studium des Deutschen“ als weites, aber zusammenhängendes Forschungsfeld für germanischsprachige Kulturgeschichte, Mythologie, Rechtsgeschichte unter anderem etabliert worden.
Der Aufstieg des Studiums der „alten Germanen“ wurde kaum durch kritische akademische Diskussionen begleitet. Weitläufige kulturhistorische Zusammenhänge wurden ohne alternative Deutungen angenommen und in die Programmatik der nationalen Bewegungen der Gegenwart eingeflochten. Tacitus’ Germania ist ein gutes Beispiel für vorbehaltlose Rezeption: Die Behauptungen eines Römers aus dem Jahr 98 über die „echten Germanen“ wurden von der Wissenschaft wiederentdeckt und als Fakten verbreitet.
Auch im Schulunterricht gingen Ideologie und Wissenschaft ineinander über – die Internalisierung des Nationalismus kam gewissermaßen in wissenschaftlicher Verpackung daher. Ob man politisch radikal, gesellschaftskritisch, Teil der völkischen Bewegung war oder den kaisertreuen, konservativen Kreisen angehörte: Man befand sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bann der Germanenideologie.
Diese Grundlage bestand bereits, als die Nationalsozialisten den nächsten Schritt gingen: Das Wissen über die Vorväter sollte nicht zu passivem Bewundern und Schwärmerei verkommen, sondern erforderte aktives Handeln in einem großen Krieg zur Verteidigung der Rasse.
Aber um die verführerische wissenschaftliche Untermauerung der Rassenideen zu verstehen, genügt es nicht, die nationalsozialistische Ideengeschichte innerhalb Deutschlands zu untersuchen, sondern es bedarf des weiteren nordeuropäischen Zusammenhangs. Das Buch ist einer der wenigen Beiträge – und ein wichtiger – zu dieser breiteren Perspektive. Vernachlässigt man diesen breiteren Zusammenhang, ist kaum zu verstehen, wie diese Vorstellungen so ernsthaft rezipiert werden konnten und warum sie nicht schlicht als verrückte, zusammenhangslose Ideen und Erfindungen abgetan wurden.
Viele dieser Ideen wurden auch von Wissenschaftlern in anderen Ländern, insbesondere in Skandinavien, vertreten, wobei es um ein „nordisches Erbe“ ging. Die Germanenideologie wurde durch disziplin- und grenzüberschreitende Kontakte untermauert. Ideen wurden nach Deutschland importiert und trafen dort auf eine bereits erhitzte Ideendebatte über Bedrohungen, Untergang und die Notwendigkeit, das deutsche Volk zu „erwecken“.
Der Beitrag von Luitgard Löw weist genau diese Perspektive über nationale Grenzen auf. Der SS-Ahnenerbe-Leiter Wirth wirkte mit seinen religiösen Visionen sicherlich auf nicht wenige wie ein Verrückter, doch er untermauerte die zunächst krude anmutenden Ideen mit nüchternen „Fakten“, und berief sich auch auf Vertreter der schwedischen Wissenschaft. Dort war es zu dieser Zeit wissenschaftlich unumstritten, dass die Bevölkerung in der Tat „Urgermanen“ gewesen seien und ohne störende äußere Einmischung oder Einwanderung fremder „Rassen“ eine eigene Kulturwelt entwickelt hätten. Diese Ideen gab es auch im Norden selbst, doch hier nahmen sie nie die gleiche gefährliche Gestalt an, was aus nationalsozialistischer Sicht nicht erstaunlich war, da „die ‚Rasse‘ im skandinavischen Urheim noch intakt war“, in Deutschland hingegen als bedroht galt. Nach Himmler war es die wichtigste Aufgabe der SS, einen idealen Urzustand für „Germanen“ wiederherzustellen. Ein neuer „Rassenadel“ sollte aus dem Erbmaterial entstehen, erst innerhalb der SS, aber später auch als Ideal für die gesamte deutsche Bevölkerung.
Im Buch hebt Terje Emberland zurecht Hans F K Günther hervor. Er wurde 1930 zum Professor für Rassenwissenschaft in Jena ernannt und, als ”Rassen-Günther” bekannt, der wahrscheinlich führende „Rassenexperte“ des NS-Regimes. Zu Beginn seiner Karriere wurde er stark durch eine „Rassenuntersuchung“ an Rekruten in Norwegen von Halfdan Bryn aus dem Jahr 1917 beeinflusst, und, das sei hier ergänzt, von einer schwedischen Studie durch Gustaf Retzius, Professor am Karolinska Institutet, welche dieser 1902 an 100.000 Rekruten durchgeführt hatte. Deren Ergebnisse legten nahe, dass Schweden und Norwegen eine Art „Rassenreservat“ seien, wo das Volk viele Kennzeichen der Urgermanen aufwies.
Günther war dank seiner zahlreichen internationalen Verbindungen auch für den Austausch von neuen Ideen und „Erkenntnissen“ um die „Rassenlehre“ bedeutend, worauf hier auch deutlicher als früher hingewiesen wird.
Hoffen wir also, dass Jakten på Germania eine Fortsetzung erfährt, denn es gibt hier noch weitere Zusammenhänge, die es wert sind, aus dem Schatten der unbekannten Geschichte ans Licht gebracht zu werden. Fantasy-ähnliche Ideen und übersteigerte Deutungen der Kulturgeschichte aus Mittelalter und Vorzeit, von Tempelrittern und Wikingern, können auch heute noch plötzlich in aktives Handeln und grenzenlose Gewaltanwendung umschlagen. Oslo und Utøya am 22. Juli 2011 sind die näherliegenden, schrecklichen Beispiele.