Verbaler Ritterschlag oder Kompliment von falscher Stelle? – Manchmal liegt beides eng beisammen: Als der schwedische Finanzminister Kjell-Olof Feldt im April 1987 nach einem Vortrag vor US-amerikanischen Ökonomen gefragt wurde, ob er nicht den Job als Secretary of the Treasury in Ronald Reagans Regierung übernehmen wolle, vermied er jeglichen Kommentar. Seine Parteigenossen aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens (SAP) nahmen die höfliche Würdigung jedoch bereitwillig auf, um für Feldts energische Sparpolitik zu werben. Für Gewerkschafter und linke Regierungskritiker ein Unding: In ihren Augen schärfte die wohlwollende Äußerung der Amerikaner die erklärten Feindbilder. Sie sahen in Feldt einen von vielen „Kanzleirechten“ der SAP-Spitze, die mit der „Wirtschaftspolitik des Dritten Weges“ dazu beitrugen, dass sich die Partei von ihrer Basis, der Arbeiterbewegung, zunehmend entfremdete: „Wir erkennen die Partei nicht wieder“ („Vi känner inte igen partiet“, S. 44), klagten mehr und mehr Stammwähler, bis es 1991 zur deutlichen Wahlniederlage kam. Die SAP verlor 250.000 Stimmen ans bürgerliche Lager.
Heute ist es Kjell-Olof Feldt selbst, der mit seiner Partei fremdelt. In seinem kritischen Essay über die Triumphe und Krisen der schwedischen Sozialdemokratie fasst er die Situation nach dem wiederholten Wahlsieg Fredrik Reinfeldts und den Ärger um Håkan Juholt mit Sorge zusammen: Nicht nur, dass viele der sozialdemokratischen Visionen mittlerweile ihre Anziehungskraft verloren hätten, auf einigen Politikfeldern gebe es schlichtweg keine mehr und die führenden Persönlichkeiten würden stattdessen Behauptungen in die Welt setzen, die sich widersprächen oder als wirklichkeitsfremd erwiesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich Feldt zwei Fragen: Wie kann sich die Partei erfolgreich für die kommende Wahl aufstellen und was muss sie dazu aus den Miseren der letzten Jahre lernen?
Neben dem subjektiven Eindruck eines programmatischen und ideologischen Verfalls stellt Feldt den scheinbar objektiv belegbaren Vertrauensverlust bei den Wählern. Ihm geht es dabei nicht um eine Stimmung, die sich in regelmäßigen Umfragen widerspiegelt, sondern um „nackte“ Zahlen, sprich: Wahlergebnisse. Während die Politikwissenschaft längst erkannt hat, dass unentschlossene Wähler eine immer größere Bedeutung für den Ausgang einer Wahl haben, begeht Feldt den Irrtum und setzt Wählervertrauen mit Stimmabgaben gleich. Diese Vereinfachung kommt ihm sehr gelegen, um seine These vom Niedergang der SAP weitgehend unhinterfragt zu vertreten: Der Erfolgsära 1932 bis 1976, in welcher seine Partei jederzeit annähernd die Hälfte aller Wählerstimmen auf sich vereinigte, stellt er eine Phase des Niedergangs gegenüber, an deren Ende nach seiner Überzeugung nur eine politische Runderneuerung stehen kann: Die SAP müsse wieder handfeste Inhalte schaffen und den Wählern gegenüber glaubwürdig vertreten, dass sie als politische Kraft gebraucht werde.
Feldts Essay gliedert sich in zwei große Kapitel: Einem eher sachlichen Rückblick auf die Geschichte der SAP zwischen 1930 und 2006 folgt ein von persönlichen Eindrücken und Einschätzungen geprägter Ausblick auf bevorstehende Herausforderungen. In Teil 1 untersucht der Autor anhand von drei gesellschaftlichen Entwicklungsabschnitten, wie die SAP ihren Status als „selbstverständliche Regierungspartei“ („självklara regeringspartiet“, S. 18) über Jahrzehnte hinweg untermauerte. Feldt unterscheidet dabei die Phase 1930 bis 1970, mit der weltweiten Depression und Massenarbeitslosigkeit in den 1930er Jahren, der schwedischen Neutralität im Zweiten Weltkrieg, dem Nachkriegsprogramm und den Rekordjahren, von der Phase 1971 bis 1991, mit den Ölkrisen, dem Einbruch des Wirtschaftswachstums, der Kosteninflation und dem Ende des Kalten Krieges, und schließlich von einer dritten Phase, die er auf die Jahre 1992 bis 2006 begrenzt – in diese fielen u. a. die Haushaltssanierung, der Umbau des Wohlfahrtsstaates und der EU-Beitritt Schwedens.
Trotz aller Sachlichkeit bleibt Feldt Teil seiner erzählten Geschichte und ist nicht mit einem distanzierten Chronisten zu verwechseln. Seine Schwerpunktsetzungen und Verknappungen legen den Verdacht nahe, er wolle die Bedeutung der bürgerlichen Parteien bagatellisieren, welche zwischen 1976 und 1994 immerhin neun Jahre in Regierungsverantwortung standen. Dem ist entgegenzuhalten, dass Feldt seine Argumentationslinie konsequent vorantreibt und nicht mit kritischen Reflexionen zur sozialdemokratischen Politik spart, insbesondere, was die Phase zwischen 1970 und 1991 betrifft, als er selbst tragende Ämter in SAP und Regierung bekleidete.
Die Schlussfolgerungen des politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Rückblicks werden zu Beginn von Teil 2 formuliert: Eine Partei, die das mehrheitliche Wählervertrauen auf Dauer erringen möchte, solle sich vor dem Versprechen hüten, dass sie mehr ausrichten könne als die faktischen Rahmenbedingungen zulassen. Und zweitens: Die schwedische Sozialdemokratie könne nicht länger von ihrem alten Vertrauenskapital zehren, das vor allem mit den Attributen „Sicherheit, Wohlfahrt und Kompetenz“ („trygghet, välfärd och kompetens“, S. 97) verknüpft war. Feldt unterstreicht beinahe sarkastisch, dass die SAP zu lange den trügerischen Mythos gepflegt habe, „Wasser in Wein verwandeln, oder prosaischer, eine verschuldete und schlecht strukturierte Ökonomie zu neuem Wohlstand führen zu können, ohne dass sie oder jemand anderer sich ernsthaft dafür abrackern müsse („[…]vin av vatten, eller mer prosaiskt, […]föra en skuldsatt och illa sammansatt ekonomi till nytt välstånd utan att egentligen anstränga sig eller någon annan“, S. 39).
Der greifbare Vorwurf, Feldt würde sich im Nachhinein als Besserwisser aufspielen, führt ins Leere. Wie eingangs angedeutet, hatte er in den 1980er Jahren zu den wenigen sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten gehört, die gegen die Illusion des ewigen Wachstums und Wohlstands für eine nüchterne Realpolitik des „Dritten Weges“ eintraten. In der programmatischen Schrift Den tredje Vägen. En politik för Sverige (Stockholm 1985) forderte er, dass die SAP von drei ihrer wichtigsten Ideetraditionen Abstand neh-men müsse: die starke staatliche Investitionspolitik, die stetige Steigerung der Reallöhne und den Ausbau der sozialen Reformen. Dass die Partei eher zögerlich auf diesen Kurs einschwenkte, hatte mehrere Gründe. Einer davon war der Widerstand der Gewerkschaften, die eine staatlich erzwungene Lohnzurückhaltung mit aller Macht verhinderten. Feldt ging es aber nie darum, die Arbeitgeberseite zu bevorteilen und die Wohlfahrtspolitik aufzugeben. Stattdessen strebte er nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt, den er als Grundbedingung für den Erhalt des Wohlfahrtsmodells betrachtet. Mitte der 1990er Jahren setzte sich diese Denkweise – vorübergehend – in der SAP durch.
Feldts Engagement für eine pragmatische Sozialdemokratie dauert bis heute an und spiegelt sich deutlich in seinen Ausführungen wider. Mit dezenter Genugtuung hebt er hervor, dass die Partei nach wie vor mit ihren wohlfahrtspolitischen Grundsätzen bei den Wählern punktet. Allerdings sieht er dringenden Nachholbedarf darin, Reformpläne mit wirtschaftspolitischer Kompetenz zu unterfüttern und so auf eine solide Basis zu stellen. Wie dies am besten geschehen soll, schildert Feldt in Teil 2 anhand zahlreicher Beispiele, insbesondere der Renten-, (Voll-)Beschäftigungs- und Steuerpolitik. Er informiert den Leser kenntnisreich über die aktuellen Positionen der SAP und legt in verständlicher Argumentation alle Widersprüche und Defizite offen, die seines Erachtens einem Vertrauenszuwachs bei der Wählerschaft im Wege stehen. Abschließend gibt er konstruktive Empfehlungen zur Verbesserung der Kommunikationsstrategien, der Mitgliederwerbung und der Suche nach geeigneten Koalitionspartnern.
Im Kern erfüllt Feldts Schrift die klassischen Kriterien eines Essays: Sie ist streitbar und subjektiv gefärbt. Für den Außenstehenden kann sie dennoch eine gewinnbringende Lektüre sein – und zwar in zweierlei Hinsicht: Teil 1 bietet einen hellsichtigen Abriss der Geschichte der schwedischen Sozialdemokratie von 1930 bis in die jüngste Vergangenheit. Teil 2 richtet den Fokus auf die Entwicklungen der letzten sechs Jahre und lebt von seiner Aktualität. In summa eröffnen sich interessante Vergleichsperspektiven, nicht nur, was die verschiedenen Hoch- und Krisenzeiten der SAP betrifft, sondern auch mit Blick auf die bundesdeutsche Sozialdemokratie und länderübergreifende Parallelen.