Ralph Tuchtenhagen hat in Zusammenarbeit mit zwei renommierten Länderexperten für die neuere Geschichte Litauens bzw. Estlands, Joachim Tauber vom Lüneburger Nordost-Institut und Karsten Brüggemann von der Universität Tallinn, zwei „Kleine Geschichten“ der Hauptstädte Vilnius bzw. Tallinn vorgelegt. Beiden Bänden liegt – anders als es der Titel vermuten ließe – die Zielsetzung zugrunde, eine „erste etwas umfänglichere Gesamtdarstellung der Geschichte [der Stadt] in deutscher Sprache“ (S. 11 bzw. 9) vorzulegen. Demzufolge sind sie nicht nur ihrem Umfang nach mit 284 bzw. sogar 361 Seiten kaum mehr als „klein“ zu bezeichnen. Neben dem Haupttext in relativ kleiner Schrift und großem Satzspiegel erschließen umfangreiche Anhänge eine Fülle an Informationen.
Aktueller Anlass des Erscheinens war in beiden Fällen die Erhebung der Städte zur Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2009 bzw. 2011, dem die Stadtgeschichte Tallinns durch den expliziten Anspruch gerecht werden will, neben der politischen auch der Kirchen-, der Kultur- sowie der Alltagsgeschichte den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. Beide Städte haben die Gemeinsamkeit einer multikulturellen Vergangenheit. Lebten in Vilnius bis ins 20. Jahrhundert hinein hauptsächlich Litauer, Polen, Russen und Juden, waren es in Tallinn neben den dominierenden deutschen Stadtbürgern Esten, Schweden, Finnen, Russen und Juden. Während die Geschichte der Stadt Vilnius sehr eng mit dem Schicksal des litauischen Staates bzw. der polnisch-litauischen Doppelmonarchie verbunden ist, gilt dies für die alte Hansestadt Reval, wie Tallin bis zur estnischen Unabhängigkeit im Gefolge der Oktoberrevolution hieß, und ihre Einbettung in die Geschichte Estlands nicht in gleichem Maße. Dennoch war die Geschichtsschreibung beider Städte lange Zeit von unterschiedlichen nationalen Perspektiven – litauisch bzw. polnisch, deutsch bzw. estnisch – sowie später durch die sozioökonomisch bestimmte sowjetische Betrachtungsweise geprägt. Dieser Relativierungen sind sich die Autoren bewusst und versuchen, ihnen durch eine integrative Herangehensweise abzuhelfen.
Beide Bände sind in vier analoge Kapitel unterteilt: Das Buch über Vilnius beginnt mit einem Abschnitt über das mittelalterliche Vilnius, unterteilt in Residenzstadt und Bürgerstadt. Das nachfolgende Kapitel, welches ebenfalls der Unterscheidung in Residenz- und Bürgerstadt folgt, schildert die Geschichte der Stadt während der Frühen Neuzeit, d.h. im Zeitalter der Lubliner Union (1569–1795). Das 19. Jahrhundert, als die Stadt nach der dritten polnischen Teilung 1795 zum russischen Zarenreich gehörte, wird mit 20 Seiten vergleichsweise kurz abgehandelt. Am längsten fällt mit 80 Seiten das Kapitel zum 20. Jahrhundert aus, welches in gesonderten Abschnitten den Ersten Weltkrieg, den Streit um Vilnius während der Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg, die sowjetische Periode und die Zeit als Metropole des wieder unabhängigen Litauen nach 1991 behandelt.
Der Band über Tallinn schildert das mittelalterliche Reval bis zum Beginn der Schwedenzeit im 16. Jahrhundert, die Geschichte während der Frühen Neuzeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, die Zeit von Katharina II. im späten 18. Jahrhundert bis zur Ausrufung der Republik Estland 1918 sowie das 20. Jahrhundert, wobei Tallinn in der Zwischenkriegszeit – anders als das „durch die Polen geraubte“ Vilnius – als Hauptstadt des Landes behandelt werden kann.
Beide Stadtgeschichten fassen Informationen zu wichtigen Ereignissen, Begriffen u.ä. in grau unterlegten Kästen übersichtlich zusammen. Der Tallinn-Band enthält darüber hinaus zahlreiche Abbildungen, die, überwiegend schwarz-weiß, teils sogar auf Kunstdruckpapier gedruckt sind, dabei jedoch leider oftmals nicht formatfüllend wiedergegeben werden. Abgerundet werden beide Bände durch eine chronologische Zeittafel zur Geschichte der Stadt, ein Orts- und Straßen- sowie ein Personenregister. Letzteres wird im Falle von Vilnius ergänzt durch ein chronologisches Verzeichnis der in der Stadt residierenden hohen Amts- und Würdenträger, von litauischen Großfürsten, polnischen Königen und Wojewoden über katholische Bischöfe und Erzbischöfe bis hin zu russischen Militär- bzw. Generalgouverneuren; die Verfasser haben versucht, Daten zu Lebens- und Amtszeiten aller Personen zu finden, eine enorm aufwändige Arbeit, die für die Stadtgeschichte Tallinns nicht mehr in der selben Ausführlichkeit betrieben worden zu sein scheint.
Die „Kleinen Geschichten“ liefern nicht nur eine sehr detaillierte Einführung in die Geschichte der Städte Vilnius und Tallinn, sondern liefern darüber hinaus Ansatzpunkte für einen Einstieg in die weitergehende Beschäftigung mit der jeweiligen Stadtgeschichte. Im Band zur litauischen Hauptstadt folgt einem fünfseitigen Überblick über „Vilnius in der Forschung“, der neben Themenbereichen der Forschung verschiedene Perioden der Geschichtsschreibung problematisiert und in den Anmerkungen die wichtigsten Titel der wissenschaftlichen Forschungsliteratur nennt, auch eine Liste weiterführender Literatur auf Deutsch, Englisch und Französisch. Das Buch zu Tallinn enthält eine geordnete Auswahlbibliografie mit vor allem bibliografischen Werken, Quellensammlungen, Gesamtdarstellungen sowie Spezialuntersuchungen.
Wer sich als Tourist vorab eingehender über die Geschichte Vilnius’ oder Tallinns informieren möchte, wird vermutlich enttäuscht sein. Der wissenschaftliche Anspruch und die detaillierten Ausführungen, welche die Stadtgeschichte zugleich immer in die größeren historischen Zusammenhänge einzubetten bestrebt sind, werden das touristische Interesse bei weitem übersteigen; ein allgemeiner Überblick über die Stadtgeschichte ist anhand der Bände nicht einfach zu gewinnen, zumal auf zusammenfassende Abschnitte weitgehend verzichtet wurde. Außerdem fehlen – außer im Falle von dem Buch über Vilnius, in dem eine Übersichtskarte auf der vorderen Umschlagsinnenseite zu finden ist – die typischen Hilfsmittel, die üblichen kunstgeschichtlichen Hinweise sowie jegliche optische Hervorhebungen, die der Orientierung dienen könnten. Wer sich hingegen mit wissenschaftlichem Interesse der Stadtgeschichte widmen möchte – und sei es auch, um sich als historisch Interessierter auf eine Reise intensiver vorzubereiten – ist mit den beiden Büchern sehr gut bedient. Kein Reiseführer kann die historische Neugier so eingehend befriedigen.
Krister Hanne (Berlin)