Misstrauen oder Hoffnung?
Protestnote gegen eine pessimistische Regel von Ernst Tugendhat
Philosophische Fakultät I
In seiner Aufsatzsammlung "Anthropologie statt Metaphysik" behandelt Ernst Tugendhat große metaphysische Fragen mit nüchternem Blick auf uns Menschen. Tugendhat plädiert dort an mehreren Stellen für ein erkenntnistheoretisches Prinzip, nach dem wir uns z.B. dann zu richten haben, wenn wir uns fragen, ob wir an Gott glauben sollen. Das Prinzip lautet: "Wenn die rationalen Gründe zugunsten einer Überzeugung genauso stark sind wie die rationalen Gegengründe, und wenn wir – unabhängig von Vernunft – das Bedürfnis verspüren oder den Wunsch oder die Hoffnung, dass die Überzeugung wahr sein möge, dann sollen wir uns gegen die fragliche Überzeugung entscheiden". Ich halte dies Prinzip für zu pessimistisch und für überzogen rational. Meiner Ansicht nach wären wir nicht gut beraten, dem Prinzip in unserem geistigen Leben immer zu folgen; das ist nur in ganz speziellen Fällen ratsam. Um das plausibel zu machen, gehe ich verschiedene Alltagsbeispiele durch, bei denen das Prinzip greifen würde und bei denen sich seine Anwendung (in ganz verschiedenen Hinsichten) so ähnlich anfühlt wie bei der Frage nach Gott. Die Beispiele betreffen Fragen der künstlerischen Selbsteinschätzung, des Wetters, der Liebe sowie der menschlichen Qualitäten von Vor- und Nachfahren. Und da Tugendhats Prinzip schon bei solchen harmlosen Beispielen pessimistische, aber keineswegs zuverlässige Ratschläge erteilt, sollten wir es besser auch nicht auf die Frage nach Gott anwenden. In his collection of essays "Anthropologie statt Metaphysik" Ernst Tugendhat takes a sober view of us humans while addressing important metaphysical questions. Repeatedly, Tugendhat argues for an epistemological principle we should go by when, for example, asking ourselves whether we should believe in God. The principle goes as follows: "If our rational reasons for a belief are just as strong as those against it, and if we – independently of rationality – feel the need or the wish or the hope that the belief be true, then we should decide against the belief in question". In my view, this principle is too pessimistic and unduly rational. We would be ill-advised to follow the principle in our intellectual life at all times; to do so is only advisable in very specific cases. In order to show this I review a number of innocent examples from everyday life where the principle would apply and where its application feels similar to its application to the case of God. The examples concern artistic self-assessment, weather, love, and human qualities of ancestors and descendants. As Tugendhat's principle delivers pessimistic, but in no way reliable, advice even in these innocent examples, we had better not apply it to the question concerning God.
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Anmerkungen
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Vittorio Klostermann wird dieser elektronische Text hier nicht in der offiziellen Form wiedergegeben, in der er auf Papier erschienen ist. Die beiden Fassungen unterscheiden sich in Rechtschreibung, Layout und Literaturverzeichnis, nicht in den Argumenten.