Die Magie des (Wallfahrts-)Ortes und der Zwang zur Verewigung Religiöse und profane Mobilität im Spiegel vormoderner (Pilger-)Graffiti
Humboldt-Universität zu Berlin
Durch die Jahrhunderte haben Reisende und Pilger an den von ihnen besuchten Orten geritzte und gekratzte Zeichen ihrer Anwesenheit hinterlassen. Bis in unsere Gegenwart spannt sich hier inhaltlich und formal ein weiter Bogen von bloßen Initialen und Aufenthaltsdaten über einfache Zeichnungen bis hin zu ausführlichen Texten, die von den Motiven und Nöten dieser Menschen künden. In Zeugnissen dieser Art kommt das gewissermaßen anthropologische Bedürfnis nach in der Regel individueller Fixierung und damit gleichsam Überwindung des Augenblicks zum Ausdruck. Was sich so als ein Kulturen und Epochen übergreifendes Phänomen charakterisieren läßt, nimmt im ausgehenden Mittelalter und in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit zum Teil betont heraldische Züge an. Die von adligen Reisenden an sakralen und profanen Orten hinterlassenen heraldischen Zeugnisse, die von kunstvoll gestalteten Wappentafeln aus Holz, Pappe und Papier bis zu selbst angefertigten Wappenritzungen reichen, wurden von Mitreisenden und von nachfolgenden Reisenden beobachtet, die sich dadurch bisweilen auch zum Hinterlassen entsprechender eigener Zeugnisse anregen ließen. Auf diese Weise entstanden an den fern der Heimat besuchten Orte zum Teil Generationen übergreifende Sammlungen von Erinnerungszeugnissen, die in gleicher Weise der Repräsentation wie auch der Selbstvergewisserung dienten. Andererseits trug die mündlich wie schriftlich in die Heimat zurückgetragene Kunde von diesen Zeugnissen dazu bei, Ruhm und Ehre der Reisenden zu mehren. Während entsprechenden Zeugnissen damit zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert eine durchaus wichtige Funktion zukam, gerieten sie danach in Vergessenheit. Was wir in der schriftlichen Überlieferung an Reiseberichten und Reiserechnungen noch deutlich fassen, ist heute in situ so gut wie vollständig verloren. Abgesehen vom Katharinenkloster auf dem Sinai und einigen weiteren "Überlieferungsnischen" im Vorderen Orient haben sich bei genauerem Hinsehen auch in Europa hier und dort zumindest gewisse Spuren erhalten, die jedoch ständig vom Überlieferungsverlust bedroht sind. Gerade deshalb sollte das interdisziplinär angelegte Berliner Projekt zu Mobilität, Wallfahrt und Identität als Chance begriffen werden, im nord- und mitteldeutschen Raum noch einmal ganz genau hinzusehen, ob dergleichen nicht vielleicht auch hier an versteckter Stelle überliefert ist, ob sich Spielarten des Phänomens eventuell in späteren Jahrhunderten nachweisen lassen oder ob sich nicht zumindest indirekte Hinweise auf ein entsprechendes Verewigungsverhalten in der betreffenden Schriftquellenüberlieferung erhalten haben.
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